Gehört zur Literatur auch das gesprochene Wort?

Monika Unzeitig, Angela Schrott und Nine Miedema machen „Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur“ zum Thema eines Tagungsbandes

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint, als komme in Vergessenheit Geratenes doch immer wieder zum Tragen. So tritt, was in den Anfängen der Germanistik durchaus von Interesse war, in jüngerer Vergangenheit wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit: Es geht um die Frage nach der Adaption mittelalterlicher Texte in der Zeit ihrer Entstehung, oder anders ausgedrückt ihren ‚Sitz im Leben‘. Dass hier weit zurückreichende Traditionsmuster in einen prinzipiell anders gearteten Literaturkontext transferiert wurden, ist eine der Leitthesen des vorliegenden Sammelbandes, der die Ergebnisse der gleichnamigen Tagung an der Universität Greifswald vom Oktober 2014 dokumentiert. Diese Tagung, die in den Rahmen der größer angelegten ‚historischen Dialogforschung‘ eingebettet war, greift brennende, aber zugleich schwer zu beantwortende Fragen nach der Lebens- und Rezeptionswirklichkeit mittelalterlicher Literatur auf.

Die – im wahrsten Wortsinne zu unterstellende – Vielstimmigkeit in mittelalterlichen Texten unterschiedlicher Sprach- und Kulturräume, ihre graphische Kodifizierung in Handschriften (die in vielerlei Hinsicht wohl auch ‚Codierung‘ ist) und ihre medial mündliche Vermittlung sind Thema der hier behandelten Fragen. Überlieferung, Text und Performanz eben dieser Traditionen sind es, die sowohl seinerzeit in Greifswald als auch in verschriftlichter Form der vorliegenden Publikation in den Fokus gestellt sind. Hierbei reicht die geographische Verbreitung der untersuchten Texte von der iberischen Halbinsel bis nach Island, wobei die Nordistik den Themenschwerpunkt ‚Macht und Stimme‘ dominiert. Thematisch spannt sich der Bogen von der Heldenepik über den höfischen Roman bis hin zur Mystik, umfasst also sowohl weltliche als auch geistliche Textsorten.

Diese Divergenz erfordert ein tragendes Gerüst, das insgesamt gesehen auch erkennbar eingehalten wird. Die Grundannahmen sind hierbei stringent formuliert: Über Klang, Rhythmus, Reime und Stil erzeugt der mündliche Vortrag eine über das Ohr vermittelte Textrezeption. Der literarische Text, aber auch Hinweise zur Performanz in der handschriftlichen Überlieferung und die Stimme des Vortragenden konstituieren die poetische Qualität des Textes und haben Anteil an seiner Sinngebung. Gleiches gilt für die grundlegenden Leitfragen: Wie lässt der Vortrag den Text zum Sprechkunstwerk werden? Wie macht er seine eingeschriebene Mündlichkeit hörbar? Und inwiefern ergeben sich mit der Stimme des Vortragenden in der Vergegenwärtigung des Textes (vereindeutigende oder öffnende) Interpretationen und Autorisierung?

Dass im Kontext der Annäherung an die mittelalterliche Text- und Rezeptionswirklichkeit einige der Aufsätze auch durch Abbildungen ergänzt werden, erleichtert einerseits die Rezeption der entsprechenden literarischen Texte in unserer Zeit, macht aber andererseits auch deutlich, wie es ‚im Mittelalter‘ gewesen sein könnte. Dabei scheinen mir bemerkenswerte Verbindungen erkennbar: wenn etwa hinsichtlich mystischer Literatur auf ‚simultane Diskurse‘ verwiesen wird, erinnert das zumindest grundsätzlich an die ‚Call and Response-Stilistik‘ aus dem Kontext zeitgenössischer Gospel-Praxis. In beiden Fällen dienen die entsprechenden Techniken einer Verdeutlichung und Vergewisserung, die gerade auch in Hinblick auf religiös-theologische Inhalte von Bedeutung sind.

Dabei ergeben sich allerdings auch Probleme, die zwar in einzelnen Beiträgen angesprochen werden, letztlich aber kaum komplett aufzulösen sind. So stellt sich etwa die Grundsatzfrage, auf welcher Basis valide Aussagen zur tatsächlichen Lese- und Vorlesepraxis des europäischen Mittelalters getroffen werden können. Selbstverständlich lassen sich die thematisierten Aspekte und Effekte der Vortragswirklichkeit etwa in der Rekonstruktion der Vortrags- oder Dialogsituation aus dem ‚gegenwärtig-akademischen‘ in einen mittelalterlich-zeitgenössischen Rahmen zurückprojizieren. Absolute Sicherheit, ob es wirklich genau so gewesen ist, wird sich jedoch schwerlich gewinnen lassen. In dieser Hinsicht sind die vorliegenden Beiträge in ihrer Argumentation durchaus stringent, tragen gleichwohl in Bezug auf die aufgeworfene Grundfrage modellhaften Charakter.

Weniger fundamental, aber nicht weniger diffizil, ist demgegenüber die – in den verschiedenen Beiträgen auch unter divergierenden Aspekten in den Blick genommene – Frage, ob das, was im älteren Forschungskontext Konsens war, das Primat der Mündlichkeit, dem die Verschriftlichung erst später folgte, wirklich unabdingbar ist. Dass es in den Texten eine fingierte Mündlichkeit gibt, ist grundsätzlich vorstellbar – auch dann, wenn es den ‚mündlichen Urtext‘ gar nicht gab. Hier werden in verschiedenen Beiträgen viel versprechende Lösungsvorschläge gemacht, die auch fürderhin die Diskussion dominieren werden.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass Diskontinuitäten generiert, Kontinuitäten gleichwohl nicht vernachlässigt werden. So werden zwar durchaus neue Aspekte zum Themenfeld erschlossen, die in den einzelnen Beiträgen ihren Niederschlag und ihre Begründung finden. Wenn aber in der Einleitung darauf abgehoben wird, dass ‚Stimmen‘ im literarischen Text – also Redeszenen – strukturierenden Charakter haben, ist dies keine wirklich neue Erkenntnis, sondern wohl allgemein Konsens. Für dieses Vorgehen werden exemplarische Texte aus verschiedenen geographischen Bezügen herangezogen. Beispielhaft hierfür etwa der Beitrag von Angela Schrott zur ‚Modellierungen von Stimme und Stimmlichkeit‘, die sich anhand altspanischer Texte erschließen lassen. Damit ist – zumindest im Hinblick auf die deutsche Germanistik – die Peripherie sowohl in thematischer als auch geographischer Hinsicht erreicht; die Perspektive mithin deutlich erweitert. Dieser Aspekt ist den Beiträgen des Buches insgesamt zu eigen, so dass ein ‚flanierendes Blättern‘ immer wieder zu neuen und interessanten Themen führt.

Dieser Aspekt des Überraschenden erscheint mir angenehm und ist einer der Pluspunkte der Publikation. Nutzerfreundlich ist überdies auch der recht umfangreiche Registerteil, der auch den weniger in die Thematik Involvierten gerade angesichts der Breite der aufgenommenen Beiträge eine leichtere Orientierung ermöglicht. Mit Hilfe von häufiger vorkommenden Stichworten kann mit Leichtigkeit der Zugang zum Vergleich verschiedener Texte hinsichtlich der aufgeworfenen Primärfragestellungen gefunden werden. Damit, so scheint mir, wird nicht nur eine grundsätzliche Orientierung, sondern auch die weitergehende Beschäftigung mit den in geographischer, gattungsbezogener und auch zeitlicher Herkunft divergierenden Grundlagentexte ermöglicht.

Erkennbar gemacht und durch Text- sowie Bildbeispiele belegt sind Längs- und Querschnitte, die in vieler Hinsicht neue Ansätze in der mediävistischen Germanistik widerspiegeln. Hier werden die entsprechenden Gebiete in Breite und Tiefe ausgelotet und dabei mitunter überraschende Zugänge eröffnet, die eben auch zu weitergehender Beschäftigung mit diesem Bereich anzuregen vermögen. Darin liegen die Stärken und die Anziehungskraft dieser Publikation.

Gerade in einer Zeit, in der ‚das Mittelalter‘ – in mitunter recht verzerrter Form – wieder zu einem populären Thema wird und dabei gerade auch neuzeitliche Rezeptionsansätze zum Gegenstand der Forschung werden, tut eine Rückbesinnung auf die ‚erste Rezeption‘ mittelalterlicher Texte und Motive sicherlich not. Hier weisen die vorliegenden Aufsätze genau in die richtige Richtung, und damit sollte dieser Band eigentlich gut angenommen werden. Jedoch steht angesichts der universitären Wirklichkeit zu befürchten, dass das Buch trotz oder womöglich auch gerade aufgrund seiner vielfältigen Ansätze auf einen, sagen wir, nicht exorbitant großen Kreis von Leserinnen und Lesern stoßen wird. Das hat deutlich weniger mit der Qualität des vorliegenden Tagungsbandes zu tun als mit den auch in anderen Kontexten immer wieder bemühten ‚Sachzwängen‘.

Denn so beeindruckend die jeweils vorgelegten Forschungsergebnisse auch sind, und – wie bereits erwähnt – so relevant gerade auch für die Rezeptionsfrage im zeitlichen Umfeld der überlieferten Textquellen: gegenwärtig erscheint mir das Ganze nicht zuletzt auch hinsichtlich des tendenziell eher fortschreitenden Bedeutungsverlustes der Altgermanistik im universitären Kontext wohl doch ein, zumindest für den Lehrkanon, randständiges Forschungsfeld zu sein. Andererseits tut sich in dieser Richtung manches – wie eben sowohl die Greifswalder Tagung als auch die daraus resultierende Publikation nahelegen. Und so vermag vielleicht gerade der Reiz des ‚Unorthodoxen‘ neue Interessen zu generieren.

Festzustellen gilt: Wie immer auch die Breite der Rezeption ausfallen mag, es ändert nichts daran, dass Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur empfehlenswert ist und an dieser Stelle auch empfohlen werden soll.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Monika Unzeitig / Nine R. Miedema / Angela Schrott (Hg.): Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur.
De Gruyter, Berlin 2017.
502 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110495492

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