Jam Session als Selbstporträt

„Die Zukunft der Schönheit“ von Friedrich Christian Delius

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist immer wieder spannend zu registrieren, welche Querverbindungen sich zwischen Literatur und Musik ergeben – so auch in der neuen Erzählung von Friedrich Christian Delius. Das Megathema Musik in der Literatur ruft hier eine Vielzahl von Intertexten auf, unter anderem Hammerklavier von Yasmina Reza (Beethovens Sonate fungiert als Auslöser unterschiedlichster Erinnerungen), KV 622 von Christian Gailly (die Suche nach dem perfekten Klang, die eine Radioübertragung des Klarinettenkonzerts von Mozart initiiert) und insbesondere Be-Bop von demselben Autor (Jazz als Thema in einem Text, der sich als jazzähnlich versteht) sowie Der Verfolger von Julio Cortázar (die Geschichte eines Jazz-Saxophonisten). In all diesen Texten geht es auf inhaltlicher Ebene um Musik, die sogenannte „verbal music“, gleichzeitig bestehen Form- und Strukturparallelen zwischen den beiden Künsten und es ergibt sich Wortmusik, ein Klang der Signifikanten, der Musik imitiert. Auch Die Zukunft der Schönheit hat von alldem etwas.

„Verbal music“ – der unverhohlen autobiografische Ich-Erzähler nimmt in New York an einem Schriftstellerkongress teil – Höhepunkt einer von der Ford Foundation gesponserten Reise. Am 1. Mai 1966 besucht der Protagonist mit Freunden ein Konzert des Jazz-Saxophonisten Albert Ayler, der in einem Quintett im Slugsʼ Saloon musiziert und sein Publikum mit „schreiend, stechend hohen Tönen, mit nie gehörtem dissonantem Sound begrüßte und überfiel, schreckte und abschreckte schon mit dem ersten Stück“. Trotz dieser Kakophonie entrollt sich, von ihr angestoßen, eine Kompilation der Erinnerungen, die aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorbricht. Dieses großartige Assoziogramm alterniert zwischen den Ebenen eines semantisch-autobiografischen und eines (sich eher im Hintergrund haltenden) semantisch-kollektiven Gedächtnisses. Das ist bei Weitem nicht alles, denn hinzu tritt als eine Art Basso continuo die Metaebene des Schreibens über das Schreiben. Die Saxophonklagen verknüpfen alle Instanzen, denn „sie vibrierten in allen Sinnen, in allen Gehirnzellen. Die Eruptionen der Töne lösten Verkrustungen […] und machten Platz für freiere Phantasien“.

Die ersten Erinnerungskaskaden gehen aus dem thematischen Umkreis des schweigenden Dorfkindes hervor, als das sich der Erzähler stilisiert. Alle Register des Schweigens seien ihm vertraut gewesen, die er aber beim Jazzhören nicht brauche, weil Worte sowieso deplatziert seien. Danach wandern seine Gedanken zu einer, zu der Schlüsselszene mit dem Vater, der ihn, nachdem er in der Nacht seines 17. Geburtstages mit Freunden noch auf ein Bier in einer Kneipe war, mit einem Kissen bewirft. Ein Sünder sei er geworden, so der strenge Vater, der nur wenige Wochen nach dieser Episode verstirbt. Der Sohn übt sich an ersten Gedichten, die schließlich so erfolgreich sind, dass sie im Radio rezitiert werden. Das ist die Freude seiner Jugend, die sich ansonsten sehr monoton in der „kalten, windigen Kleinstadt Korbach“ abspielt, dort, wo der Vater, ein Pfarrer, eine Stelle angenommen hatte.

Im Politischen, Kollektiven, lenken die Jazz-Klänge als erstes zur Aktualität des Vietnamkrieges hin, bewegen sich von dort hin zum „Korbacher Eichmann“, dem Drogisten Krumey, um schließlich in der bundesrepublikanischen Tagespolitik zu verharren.

Während des Konzerts in Slugsʼ Saloon stehen drei Musikstücke auf dem Programm. Nach jedem gibt es eine kurze Pause, die immer auch eine Zäsur in den frei flottierenden Assoziationen markiert. Obwohl das „New Yorker Tohuwabohu aus wilder Musik und wilden Rückwärtsgedanken“ auf vordergründiger Formlosigkeit gründet, auf der Verabsolutierung individueller Musikalität, kann es nicht formlos sein, denn es gelingt den Musikern zu konzertieren und ihr Programm des Abends als langes Crescendo zu einer musikalischen Pointe hin zu gestalten, mit der sie alte und neue Klänge kombinieren, destruieren und wieder neu erstehen lassen. Dieses Paradoxon der Formlosigkeit des „Free Jazz“ lässt sich als Homologon zu einem „Free Writing“ begreifen. Es entfaltet sich in perfekter Passung zu When the saints are marching in, Ghosts und schließlich Imitation, in dem sich die auf allen Vergleichsebenen präsente Meta-Kommunikation des Schreibens in besonderem Maße konturiert. Im Zuge des langen Auftakts, „the saints are marching in“, gesteht der Erzähler, dass er „Narziss“ sei und ergeht sich in einer längeren Darstellung des Gedichts, das ihm die USA-Reise ermöglicht hat. Mit Ghosts folgt das Regredieren in weiter zurückliegende Zeiten und damit einhergehend immer wieder die Rückkehr zum Vater, zu seiner Krankheit und insbesondere zum Initialerlebnis des Kissenwurfes. Zwar lässt der Erzähler die leichtfüßigen Episoden mit ihm nicht aus, aber die Variationen zum Thema des „Gewaltakts“ gewinnen immer wieder die Oberhand, ein Erlebnis, das die Instrumente mit ihrem „prügelnden Klang“ gleichermaßen triggern und repetieren, das sich in Textpassagen der Redundanz widerspiegelt. Auch der junge Delius besitzt ein Instrument: seine Schreibmaschine, ein Erbstück des Vaters. Obwohl er versuchte, Posaune zu spielen, bleibt er musikalischer Analphabet. Nach dem Tod des Vaters legt er das Musikinstrument definitiv zur Seite, um dessen Schreibmaschine als Instrument zu nutzen, sich damit aus Korbach, aus „Hessisch-Sibirien“, wegzuschreiben. Imitation signalisiert den Höhepunkt in Slugsʼ Saloon. Die Solo-Klänge einer Violine gehen ein Duett mit dem Saxophon ein. Dieses steigert sich zu einem explosiven Finale, das alle Imitation ad absurdum führt, erneut Erinnerungen an das Leben in der hessischen Provinz auslöst, diese aber in die Feier der Geburt eines Schriftstellers münden lässt.

In der vorliegenden Erzählung erstreckt sich die Befreiung der dichterischen Produktion, das „Free Writing“, eher nur moderat auf die Möglichkeit, mit dem Text selbst musizieren zu können. Delius übt nicht selten stilistische Zurückhaltung, ist damit zu Ayler in Parallele zu setzen, dessen Musik bei aller Experimentierfreude oft vorsichtig tastend beginnt, um danach umso heftiger zu para- und zu parodieren, Überkommenes in seine Bestandteile zu zerlegen und in neuer (Dis-)Harmonie erstehen zu lassen. Delius tut einiges in der Lexik und in der Syntax: Manchmal ergibt sich in Sequenzen, die eher als Sakkaden denn als Sätze zu bezeichnen sind, ein besonderer Rhythmus, was aber noch in zarten Anfängen steckenbleibt. „Trotz der wilden Musik“ sei es ihm gelungen, einige Rollen des Vaters anzuspielen, man sollte eher sagen wegen der Musik, denn der Vater, und hier geben sich feuerwerksgleiche Asyndeta ein Stelldichein, deren Rhythmus verhalten jazzt, sei „Wanderliedsänger, Dorfchronist mit der Kamera, Blumenfreund, Italienschwärmer, Tischtennisspieler, Sexualaufklärer, Dialektwitzbold, Familienforscher, Spendierhosenvater, Heimatforscher, Streitschlichter, Ehestifter, Klavierspieler, Kunsterklärer“ gewesen. Ganz selten imitiert Delius die Klänge des Jazz mit onomatopoetischen Anflügen, zum Beispiel dann, wenn „vom Blöken und Krähen, vom Grunzen und Quieken und Stöhnen des Saxophons“ die Rede ist.

„Die Zukunft der Schönheit“ zeichnet sich am Kulminationspunkt der Erzählung ab: „Zersetzen und Zerfetzen“, Dekonstruktion, sei das Gebot der Stunde. Doch wie ein Phönix aus der Asche erhebt sich die Schönheit zu neuer Gestalt, schon allein im Alternieren von erzählendem und erlebendem Ich: Das erzählende Ich assoziiert zu den Assoziationen, dekonstruiert die Dekonstruktion, es sortiert und kommentiert. Eine solche Dialektik ist erneut vorsichtig in Beziehung zu setzen zu Aylers Musik, der – ähnlich wie Gustav Mahler in der Wiener Moderne – Altes und Neues in einem furiosen gigantomanischen Klang kombiniert. Es komme gar nicht darauf an, „alles zu verstehen, was sie da vorne trieben, schon gar nicht die anfangs hässlich wirkende, dann triumphierend fetzende, dann wieder volksnahe Zirkusmusik aus Märschen und Polka und schepperndem Trara“. Das Hermetische, das Geheimnisvolle, das sich sowieso nicht in Worte fassen lässt, weil es sich in ihnen immer wieder entzieht, tarnt sich hier in besonderem Maße als „Katzenmusik“, als Disharmonie, aus der wieder neue Harmonien resultieren können. Und alles schraubt sich hoch hin zur Klimax einer „Ästhetik to be“, die in einer durchindividualisierten Poetik die Verfügungsgewalt über alle Kunstmittel innehat, dabei aber nicht auf den Parnass emigriert, sondern sich mitten in das gesellschaftlich-politische Leben hineinbegibt.

Dieses scheint auch in Die Zukunft der Schönheit hinein, obwohl in dieser verbalen Jam Session eindeutig das Autobiografische dominiert. Aber egal wie – Delius beweist mit seiner Erzählung, dass er nicht nur eine wichtige Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur ist, sondern sich ebenfalls im vielstimmigen Concerto von Musik und Literatur, insbesondere Musik in der Literatur, positionieren kann.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Die Zukunft der Schönheit. Erzählung.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
95 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100403

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