Dem Genuss des Augenblicks hingegeben

„Das Leben ein Tanz“: Karin Sagner stellt die farbenfrohen Bilder Pierre-Auguste Renoirs vor

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Mittelstand im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts hatte nicht nur konservative Maler, er hatte auch die fortschrittlichsten Künstler: Edouard Manet, Edgar Degas, Auguste Renoir, Claude Monet und andere. 1874 fand die erste Ausstellung der Impressionisten statt – danach wurde der Impressionismus für die nächsten 100 Jahre die beliebteste aller Kunstrichtungen. Der Hunger auf impressionistische Gemälde und Zeichnungen schien unersättlich, obwohl oder gerade weil der Impressionismus das noch ungetrübte Bild einer heilen Welt bot: das städtische und ländliche Leben – die Cafés und Parks, die Salons und Schlafzimmer, die Boulevards, den Strand und die Ufer der Seine. Der Impressionismus fand seine Sujets in Lebensfreuden und Vergnügungen, die sich fast jeder, wenn er nicht bitter arm war, leisten konnte.

Die impressionistische „Sicht“ zeigte eine Sache zu einem gegebenen Zeitpunkt, eine Licht- und Farbwirkung, die logischerweise flüchtig war. Im Idealfall hätte man an einer impressionistischen Landschaft nur so lange malen dürfen, wie man brauchte, um sie zu betrachten. Der Impressionismus kannte kein festes System, außer der Genauigkeit des Künstlerauges und der sensitiven Pinselführung, mit der die Farben schnell auf die Leinwand gebracht wurden. Dieser Mangel an System wurde dann auch einer der Hauptgründe für seine Beliebtheit. Von einem impressionistischen Gemälde konnte sich eigentlich niemand angegriffen oder beleidigt fühlen. Und trotzdem haben die Auflösung der Formen und die flammenden Farben etwa bei Renoir mehr als einmal die Kritiker befremdet.

Die Kunsthistorikerin Karin Sagner, eine Spezialistin für die Kunst des französischen Impressionismus (so hat sie bereits ein Buch mit dem Titel Renoir und seine Frauen und in der ArtEdition Monet. Einladung nach Giverny und  Gauguin. Von Pont Aven nach Tahiti vorgelegt) hat jetzt in der ArtEdition Renoir. Das Leben ein Tanz veröffentlicht, das einen intensiven Blick auf einen der Hauptvertreter des Impressionismus wirft und dabei viel Neues hinsichtlich der Betrachtungsweise einbringen kann. Hat sich Renoir selbst primär immer als „Figurenmaler“ gesehen, so sind gerade auch in seinem Spätwerk Landschaften von einer unerhörten technischen Sicherheit und von einer grenzenlosen Freiheit im Umgang mit den malerischen Mitteln entstanden, die wegweisend wurden für die weitere Entwicklung der Malerei. Im Vergleich mit Werken seiner Freunde und Weggefährten – mit Monet, Pissarro, Sisley, Degas, Cézanne und anderen – zeigt sich, welche anderen, neuen Qualitäten im Werk Renoirs zum Tragen kommen.

Karin Sagner geht von zwei Erkenntnissen aus: Renoir ist nicht der Impressionist schlechthin, für den er gewöhnlich gehalten wird. Bereits die Anfänge im Umkreis der Maler von Barbizon unterscheiden sich von den „impressionistischen“ Jahren, als er 1874 mit seinen Freunden den Impressionismus begründete. Dann sollte ihn das Licht und die Kunst Italiens und die Landschaft im Süden Frankreichs zu Bildfindungen, Kompositionsformen und Farbkonstellationen führen, die weit über den Impressionismus hinausreichten. Ausgelöst durch eine Krise um 1883 gelangte er zu einer Abwendung vom locker getupften „impressionistischen“ Farbauftrag und zu einer Hinwendung zur Klassizität der Renaissance – zu Raffael – und zum französischen Klassizismus, vor allem zu Jean-Auguste-Dominique Ingres. Er entwickelte im Alter seine Form immer mehr zum Plastisch-Runden, beinahe reliefhaft Anmutenden weiter.

Doch wir befinden uns zunächst noch in der impressionistischen Phase Renoirs. Anfang der 1870er Jahre ließ er die ursprünglich erdenschwere Farbigkeit Gustave Courbets und der Barbizon-Künstler hinter sich und spielte den ganzen Reichtum seines Erfindungsgeistes und einer hellen Palette aus. In diesen Jahren arbeitete er oft an der Seite Monets vor derselben Landschaft; 1874 stieß auch Édouard Manet hinzu, der sich erst hier zur Arbeit im Freien bekehrte. In Renoirs Atelier auf Montmartre entstanden einige seiner berühmtesten Gemälde wie Moulin de la Galette (1876), Die Schaukel (1876) und Weiblicher Akt im Sonnenlicht (1875/76). Renoirs Modelle in Moulin de la Galette sind einfache Arbeiter und „Mädchen von der Straße“ in einem populären Vergnügungslokal der Vorstadt. Mit kurzen Strichen in unterschiedlicher Ausrichtung formuliert der Maler einen fließenden, den gesamten Bildraum durchziehenden Figurenrhythmus, aus dem einzelne tanzende Paare und Gruppen von Gästen deutlich hervortreten, in deren Gesten und Blicken sich die heitere und gelöste Stimmung gleichsam repräsentativ verdichtet. Von einer „in Verwesung übergehenden Fleischmasse“ hat man seinerzeit bei Weiblicher Akt im Sonnenlicht gesprochen, dabei geht es hier um die Wiedergabe der Reflexe des durch das Laub fallenden Lichts, das die „lustvolle und zugleich natürliche Empfindung des nackten Körpers“ vermittelt, ein Akt, der die „verlockende und zugleich unerreichbare Frau“ zeigt, wie Sagner schreibt.

Ganz anders als Moulin de la Galette“ ist – obwohl zeitgleich entstanden – das Frühstück der Ruderer (1876). Hier ist es die Vielfalt der Farben, die nicht nur die einzelnen Figuren voneinander absetzt, sondern ihnen auch eine jeweils eigene Individualität verleiht. Immer wieder ist in den Bildern Renoirs die geglückte Suggestion eines komplexen Geschehens zu bewundern, in das sich der Betrachter unmittelbar hineinversetzt fühlt. Das Thema der bewussten oder zufälligen Begegnung von Menschen im öffentlichen oder halböffentlichen Raum – in Cafés, Restaurants, Tanzlokalen, Geschäften, im Theater oder auf den Pariser Boulevards – hat Renoir dann weiterverfolgt. Die Darstellungen tanzender Paare, die zwischen 1882 und 1883 entstanden sind, interpretiert Sagner „als Sinnbilder vitaler Lebensfreude und als Gegenbild zur Sinnentleerung der Industrie- und Massengesellschaft“.

Ein Höhepunkt dieser „impressionistischen“ Periode sind die Zwei Schwestern (auf der Terrasse) (1881) – die Figuren wirken so unmittelbar, als seien sie in einem bestimmten Augenblick eingefangen worden. Aber auch die Landschaften und Seestücke von Guernesey oder die Landschaft mit Badenden (um 1885) gehören dazu. In seinen „Ausschnitten aus der Natur“ verlor Renoir nie den Menschen aus den Augen.

Renoir verzichtete bald auf einen Teil seines charakteristischen weichen Charmes, er kämpfte gegen seine Eleganz, seine Anmut und Mühelosigkeit. Seine Palette beschränkte er zunächst auf Erdtöne und Kobaltblau. Die Formen, die er vorher nur durch Farbschwankungen, Modellierungen und Konturen anzudeuten pflegte, umschloss er nun mit den schweren Linien einer intellektuell geordneten Zeichnung.

Karin Sagners Bildbetrachtung endet mit den Badenden im Wald (um 1897). Der Grund: Renoir verzichtete nunmehr auf städtische Themen und wandte sich vorwiegend zeitlosen Themen zu. „Das Reich der Harmonie, das Renoir bisher in Paris und Umgebung angesiedelt hatte, verlagerte sich seit den 80er Jahren mehr und mehr in die zeit- und ortlose freie Natur“, konstatiert die Autorin. Das Spätwerk Renoirs entstand im Süden, in Cagnes, wo er sich schließlich niederließ. Die alten Olivenbäume nannte er als ausschlaggebendes Argument für den Kauf des Anwesens „Les Collettes“. Seit 1900 malte er vorwiegend Landschaften und Figuren in der Landschaft. In den Bildern Cagnes“ (um 1909/10) und Olivengarten (1907/12) ist das Laubwerk in vielen einzelnen „Laub-Klümpchen“ auseinandergedriftet. Ein flirrendes, vibrierendes Element kommt durch die Verteilung der „Lichtklümpchen“ über die Fläche in das Bild. Es entsteht eine Tiefenräumlichkeit, die bis in ungewisse Fernen reicht. Man fühlt sich an Vexierbilder erinnert, an Bilder, deren Wirklichkeit sich dem Betrachter entzieht. Zum Greifen nah erscheinen die bezaubernden weiblichen Akte in dem Bild Nach dem Bade (1912) und doch eingebunden in eine schützende Landschaft. Eine perfekte Illusion gelingt Renoir in diesen Bildern, die Vorstellung, aus den bedrohlichen Zeichen des beginnenden neuen Jahrhunderts wenigstens für einen Augenblick in das bukolische Arkadien einer „heilen“ Antike entschwinden zu können.

Will man ein Fazit der so anregenden Bildbetrachtungen von Karin Sagner ziehen, so kann man wohl mit Recht sagen, dass wir es hier mit einer Malerei von höchst kalkulierter Momenthaftigkeit zu tun haben, die dennoch als malerische Fiktion von Wirklichkeit gestalterisch kohärent bleibt.

Kein Bild

Karin Sagner: Renoir. Das Leben ein Tanz.
Bookspot Verlag, München 2018.
110 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783937357980

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