Gedächtnis auf dem Prüfstand

Ljiljana Radonićs und Heidemarie Uhls Sammelband zur „Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Begriffs“ im 21. Jahrhundert

Von Sandra BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2016 von Ljiljana Radonić und Heidemarie Uhl herausgegebene Sammelband Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschftlichen Begriffs diagnostiziert für das Gedächtnisparadigma eine Übergangsperiode. Im Anschluss an den aktuellen Forschungsstand umreißen die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung kundig und prägnant ein „Spannungsfeld zwischen Gedächtnis als neuer Pathosformel und den neuen ‚memory wars‘ [Dan Stone] im Post-1989-Europa“, das Uhl in ihrem Einzelbeitrag kenntnisreich erläutert. Aleida Assmann schließt an diesen Denkrahmen an und pointiert „die ethische Dimension [als] das historisch Neue an der gegenwärtigen Erinnerungskultur“. Den Rückblick auf Aufbau, Pflege und Institutionalisierung einer selbstkritischen Erinnerungskultur verbindet sie mit der Frage, wie diese für eine moderne europäische Einwanderungsgesellschaft im Zeitalter der Globalisierung zukünftig zu gestalten sei. Nach Assmann besteht die zentrale gesellschaftspolitische Herausforderung an Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert darin, die genealogisch verfassten, „monologisch-nationalen Ge­dächtnis-Konstruktionen“ für eine multiperspektivische Erinnerungspraxis zu öffnen und für ihren Umgang mit Geschichte einen transnationalen Referenzrahmen zu finden.

Wie aktuell und spannungsreich diese dargelegten Problemlagen sind, zeigt Ljiljana Radonićs Untersuchung geschichtspolitischer Narrative am Beispiel postsozialistischer Gedenkmuseen. Sie interpretiert diese musealen Repräsentationen des Holocaust überzeugend als bewusste „‚Anrufung‘ Europas“. In ihrem vergleichenden Blick auf das Holocaust-Gedenkzentrum und das Haus des Terrors in Budapest offenbaren sich dabei zugleich erhebliche Dissonanzen in der ungarischen Museumslandschaft, die viktimologisch-europäische und nationalistisch-revisionistische Geschichtsnarrative nebeneinander präsent hält. Zugleich ist die so erkundete Konfrontation von Holocaust- und GULag-Gedächtnis nur eine der erinnerungspolitisch ‚heißen Zonen‘. Am Beispiel des kroatischen Jasenovac-Gedenkmuseum skizziert Radonić, wie im Holocaust-Gedenken eine (ästhetische) Strategie gefunden werden kann, Opfer und Täter auszublenden, die (noch) nicht Teil der selbstkritischen Geschichtsdeutung geworden sind. Vor dem Hintergrund von Dieter Pohls Auseinandersetzung mit ‚Genozid‘ als geschichtspolitischer Kategorie, die als transnationales „Aufmerksamkeitszeichen“ für ethnische und nationale Identitätsbildung fungiere, wird so deutlich, wie mit der Besetzung des Erinnerungs­ortes Jasenovac zugleich einem integralen Moment des serbischen nation building die Anerkennung verweigert wird.

Mit der analytischen Terminologie von Oliver Marchart, der in einem theoretisch dichten Beitrag seine politische Theorie kollektiver Erinnerung aktualisiert, ließe sich diese Geschichtspolitik als Verdrängung beschreiben. In Marcharts hegemonietheoretischer Diskursanalyse, die sich auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stützt, werden Verdrängung, Verleugnung und Verwerfung als „negatorische Strategien“ präzisiert, mit deren Einsatz der hegemoniale Diskurs in einem Spannungsfeld widerstreitender, mitunter widersprüchlicher Vergangenheitsnarrative operiert und sich – freilich immer nur zeitweilig – durchsetzt. Auf der anderen Seite verdichten sich nach der Lektüre von Radonićs Ausführungen auch die von Robert Traba formulierten Zweifel am analytischen Nutzen einer „als homogen vorgestellte[n] ‚postkommunistischen Erinnerung‘“. Traba stellt der bedenklichen Begriffsbildung das methodische Plädoyer für Fallstudien entgegen, die er in Grundzügen für das polnische kollektive Gedächtnis entwickelt.

Als ein thematischer roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit der Universalisierung der Holocaust-Erinnerung und ihren erinnerungskulturellen Folgen durch einen Großteil der Beiträge. Dabei erweist sich der von den Herausgeberinnen zitierte Einwand Dan Diners – gegen eine enthistorisierende und dekontextualisierende Transformation des Holocaust zu einem Genozid unter Genoziden jenseits historischer Täter- und Opferschaft – implizit als leitend. So lässt sich den Beiträgen Pohls und Norman M. Naimarks entnehmen, wie Genozid als geschichtspolitisches Konzept in Folge seiner auf der Holocaust-Erfahrung basierenden Kodifizierung zum integralen Moment neuer nationaler Identitätsbildung avanciert, wie mithin der Genozid in Srebrenica zum „Bosnian Auschwitz“ (Naimark) werden kann.

Nach der Lektüre des Bandes zeichnet sich eine deutliche Ambivalenz ab: Die Universalisierung des Holocaust leitet mit der daran geknüpften Anerkennung der Menschenrechte als zukunftsweisenden Werten eine Öffnung der nationalen Erinnerungskulturen ein und stiftet für eine ethisch fundierte europäische Identität einen negativen Bezugspunkt, dessen Anerkennung zugleich die Inklusion in den supranationalen Staatenverband der EU regelt. In dieser Deutung wird der Holocaust zur universell gültigen Chiffre transformiert, sodass sich neben ihre zum Teil nur rhetorisch-ästhetische Anrufung nationalistische Gedächtnisnarrative stellen lassen, in denen gerade die Umstellung auf universalgeschichtlich fundierte, viktimologische Narrative neue Opferkonkurrenzen und Tabuisierungen hervortreibt. Welche Potenziale hier Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses entfalten kann, Dialogizität, Verständnis und Multiperspektivität zu fördern, erörtert Michael Rössner am Beispiel des Epos. Er zeigt, wie Literatur in der immer neuen Aneignung kultureller Gründungsnarrative sowohl „universale oder transnationale Narrative translatorisch zu nationalisieren“ als auch „nationale (und koloniale) Narrative zu dekonstruieren und/oder zu transnationalisieren“ vermag.

Der Verzicht der Einleitung, für den Band eine gemeinsame theoretische Zugriffsweise zu entwickeln, mag sicher auch der Vielfalt der analysierten Gedächtnisformen (Literatur, Museen, Jubiläum/Event) geschuldet sein, ist aber doch überraschend, da sich knapp die Hälfte der Artikel auf Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire beziehen lässt. So zeichnet Elisabeth Großegger nach, wie Prinz Eugen von Savoyen sowohl in habsburgisch-zentraleuropäischen als auch in deutschnationalen Identitätsnarrativen funktionalisiert wurde, während Christoph Leitgeb Noras theoretischen Entwurf als Kontrastfolie nutzt, um den von ihm diskutierten unheimlichen Modus des Holocaust-Gedenkens zu präzisieren, und Marketa Spiritova am Beispiel der Samtenen Revolution die zivilgesellschaftliche und populärkulturelle Konstruktion eines Erinnerungsortes „von unten“ nachzeichnet.

Im Einzelnen verfolgen die versammelten Beiträge unterschiedliche Erkenntnisinteressen, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf der fundierten historiographischen Aufarbeitung kollektiver Gedächtnisregister in ihren nationalen, binationalen und transnationalen Friktionen, Spaltungen und Verwerfungen liegt. Dabei stehen grundlegende methodische Reflexionen in der Regel gegenüber konkreten Einzelfallanalysen zurück. Die bereits angesprochenen Querverbindungen, die sich bei der Lektüre herstellen lassen, veranschaulichen exemplarisch den Mehrwert, den die Veröffentlichung der durchweg stringenten und kenntnisreichen Einzelbeiträge gerade in einem Sammelband bietet. Eine ausdrücklichere Vernetzung der versammelten Beiträge untereinander wäre freilich wünschenswert gewesen. Um diese stärker herauszuarbeiten, hätte sich der Begriff „Pathosformel“ angeboten, den die Herausgeberinnen für ihre wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf die Durchsetzung von „Gedächtnis“ als zeitgeschichtlichem Grundbegriff des ausgehenden 20. Jahrhunderts verwenden, dessen analytisches Potenzial dabei aber nur angedeutet wird. Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil so die an Reinhart Koselleck angelehnte Verwendung nicht als Abweichung von Aby M. Warburgs kunstgeschichtlicher Begriffsprägung erläutert wird – und mit ihr die durch die Zeit des Nationalsozialismus abgebrochene Tradition kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung ungenannt bleibt.

Angesichts der aktuell zu beobachtenden Angriffe auch auf die deutsche Erinnerungskultur im Namen einer radikalen Gegenwartsorientiertheit wäre es uns zu wünschen, dass sich die von den Herausgeberinnen einleitend hervorgehobene „Akzeptanz für die moralische ‚Pflicht‘ des Gedenkens mitsamt symbolischer Zeichensetzungen“ wirklich auf Dauer durchgesetzt hat – auch wenn dies den Grundprämissen kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung widersprechen mag.

Titelbild

Ljiljana Radonić / Heidemarie Uhl (Hg.): Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschftlichen Begriffs.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
284 Seiten, 32,99 EUR.
ISBN-13: 9783837632361

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch