Gibt es ein richtiges Lesen im falschen?

Jörg Magenau erkundet als Liebender das Phänomen des Bestsellers

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist der Traum aller Verleger (und der meisten Autoren), jedoch der Alptraum aller Leser mit ausgeprägtem Distinktionsbedürfnis: der Bestseller. Er ist allgegenwärtig, per definitionem bestens (wenn auch nicht zwingend am allerbesten) verkauft und womöglich doch selten gelesen. Oft ist er handwerklich gut gemachte Massenware, bisweilen auch ein von Kritik und Publikum gleichermaßen geschätzter großer Wurf. Niemals aber ist er unschuldig. Er ist häufig ein Symptom für größere Zusammenhänge, gesellschaftliche Kollektivsehnsüchte, zeitgeschichtliche Strömungen, allgemeine Stimmungslagen. Er kann mithin auch, betrachtet man ihn nicht rein kulinarisch, Gegenstand, wenn nicht gar Instrument der kritischen Analyse sein.

Jörg Magenau ist in Theorie und Praxis ausgewiesener Experte für den Gegenstand seines jüngsten Buches. Er ist nicht nur ein bekannter Journalist und Literarturkritiker, der für einige der wichtigsten Zeitungen Deutschlands geschrieben hat. Unter anderem ist er auch Autor des bestsellerlistenerprobten Buches Princeton 66: Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Nun begibt sich Magenau seinerseits auf eine abenteuerliche Reise. Er erkundet das Feld der (west)deutschen Nachkriegs-Bestseller, es ist ihm um nicht weniger als „die kollektive Geschichte der Bundesrepublik“ zu tun. Mit durchaus kritisch geschärftem Blick, aber doch auch mit großer Empathie.

Magenau beginnt mit einer kurzen Geschichte seiner Lesesozialisation, die – wie noch zahlreiche folgende Passagen – in einem nachgerade schwärmerischen Ton gehalten ist. Hier erzählt einer, der Bücher liebt, der mit Leidenschaft Leser ist. Aber auch einer, der als Heranwachsender solchen Büchern, die sich gut verkaufen, zunächst kritisch gegenüberstand: „Bestseller hätte ich instinktiv abgelehnt, denn was für alle gut ist, kann doch nicht auch für mich das Richtige sein.“ Eine gelungene Entwicklungsgeschichte kommt aber nicht ohne die Einsicht in eigene Vor- und Fehlurteile aus. Der spätere Literaturkritiker ist dann auch frei von intellektuellem Snobismus und verbindet kritisch-analytische Haltung und einfühlende Hingabe miteinander, indem er versucht, „das Buch als ein Gegenüber zu betrachten, das sich objektiv beschreiben lässt, und dabei doch ein Leser zu bleiben, der in seine Lektüre eintaucht und dabei vor allem etwas über sich selbst erfährt“. Diesem Ansatz ist auch der Erzähler dieses Buches verpflichtet, der sich vom empirischem Jörg Magenau ab- und in einem Leserkollektiv auflöst. Immer wieder sagt er „wir“ und berichtet von „unseren“ allgemeinen Leseerlebnissen. Das impliziert, dass der Erzähler eben nicht nur ‚etwas über sich selbst erfährt‘, sondern über ein Kollektiv, das die gleichen Sehnsüchte, Ängste und Vorlieben teilt.

Der in der Teilnahme aufgehobene Selbstbeobachter wird unausweichlich auch zum Analytiker der Zeitgeschichte:

Der Buchmarkt ist ein Spiegelbild all dessen, was sich ereignet Jahr für Jahr. Er zeigt, was uns umgibt und wie reich an Möglichkeiten die Wirklichkeit ist. Er umfasst in jedem Moment unsere ganze Geschichte und all unsere Wünsche.

Der Blick auf die vermeintliche Oberfläche der Kultur führt direkt in deren Inneres und ermöglicht eine von Tiefenschärfe geprägte Perspektive auf die gesamte Geschichte einer Gesellschaft. In Büchern, die massenhaft gelesen werden, begegne uns das, „was uns ausmacht und was uns mit allen anderen verbindet“. Ob und in welcher Weise auch mit den Nicht-Lesern, bleibt ein blinder Fleck in dieser Konstruktion eines zum gesamtgesellschaftlichen Resonanzraum erklärten Lesekollektivs. Soll man es optimistisch, idealistisch, anachronistisch bildungsbürgerlich oder gar elitär nennen, wenn niemals in den Blick gerät, dass sich Biografien auch jenseits von „großen, lustvollen Leseerlebnissen“ entwickeln können? Erfrischend frei hingegen von elitären Haltungen wird erklärt, Erfolg sei „kein Makel, sondern ein Ausweis von Aktualität“, was weder gut noch schlecht sei. Lande aber ein Buch auf der Bestsellerliste, belege dieser Umstand, „dass es auf irgendeine Weise jetzt gerade, heute, zu uns spricht“.

In Magenaus „kleiner Geschichte der Bestseller“ geht es nicht um die Suche nach einer überzeitlichen Bestsellerformel, auch wenn über das gesamte Buch verstreut diverse wiederkehrende Elemente von Bestsellern hervorgehoben werden. Das Erkenntnisinteresse des essayistischen, locker geschriebenen Buches richtet sich vielmehr auf die Frage, wieso bestimmte Titel – sowohl aus dem Gebiet der Belletristik als auch dem des Sachbuches – zu ihrer Zeit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich waren und was die Titel selbst sowie ihr Erfolg über „uns“ erzählen. Allerdings lasse sich dieses Narrativ nicht auf jeden Bestseller anwenden. Manch Millionenseller sei ganz und gar in Vergessenheit geraten, ohne Debatten auszulösen oder Spuren zu hinterlassen. Zudem seien viele große Erfolge „dann halt doch bloß gute Unterhaltung und nicht weiter der Rede wert“. Zur Verkaufszahl muss mithin etwas hinzukommen, das ein Buch zu einem Erkenntnismedium der Wünsche seiner Leser macht: ein Verbundensein mit anderen Strömungen.

Sei dies gegeben, machten es Bestseller durch ihre Massentauglichkeit möglich, individuelle Leserlebnisse in größere Zusammenhänge aufzuheben, da aus der einsamen Lektüre ein gemeinschaftlicher Vorgang werde. So erkenne sich jeder Leser als Teil einer Gemeinschaft, in der er sich geborgen fühlen oder ein Abgrenzungsbedürfnis entwickeln kann. Daher rühre auch die Beliebtheit von Bestsellerlisten, da sie jedem Einzelnen erlaubten, sich mit der Masse zu vergleichen.

In den unterschiedlichen „Erwartungen und Haltungen“ der Lesenden seien aber doch „Entwicklungslinien kollektiver Befindlichkeit“ zu entdecken, „Empfindungsverdichtungen und Interessensverknotungen“. Diese kollektive Emotionalität wiederum hänge von wandelbaren Stimmungen ab. Bestseller seien zu begreifen als Folge solcher Stimmungen, die sie allerdings ihrerseits verstärken können. Bestseller seien demnach „keine isolierten Ereignisse“, sondern „stehen in vielfältigen gesellschaftlichen Bezügen und Abhängigkeiten“. Daher liege der Erfolg auch darin begründet, dass Buch und Leser auf einem „historischen Boden“ stehen, der seinerseits die Stimmung erzeugt, an die ein zum Bestseller werdendes Buch anknüpfen und die es perpetuieren kann. So lasse sich anhand von Bestsellern auch „eine Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten in der Bundesrepublik Deutschland ablesen“.

Eine so perspektivierte Betrachtung von Bestsellern rückt sich selbst in die Nähe des Projekts der Mentalitätsgeschichte einerseits und der Ideologiekritik andererseits (wobei sich Magenau vom elitären Standpunkt der traditionellen Ideologiekritik und ihrer Pauschaldiagnose des „falschen Bewusstseins“ plausibel abgrenzt). Mit diesem Rüstzeug gelangen die Ausführungen zu teilweise glänzenden Einsichten über die je zeitspezifischen Gründe des Erfolgs. Anhand des Kriegs-Romans Stalingrad (1945) von Theodor Plievier, dem „ersten großen deutschen Nachkriegs-Bestseller“, und des „Archäologie-Romans“ Götter, Gräber und Gelehrte (1949) von C.W. Ceram wird, immer mit dem Blick auf symbolträchtige Details, die Dialektik von Eskapismus und Bewältigung der Schrecken der jüngsten Vergangenheit luzide greifbar, immer einen Gedanken weiter als es gerade naheliegt. Auch wenn über manche Befunde, Formulierungen und Einordnungen (Charlotte Roches Feuchtgebiete als „Porno-Schocker“?) zu streiten wäre: Längst nicht mehr geläufige und noch allenthalben präsente Titel aus unterschiedlichsten Genres – seien es Dale Carnegies Sorge dich nicht – lebe!, Bernhard Grzimeks Serengeti darf nicht sterben, Hugo Hartungs Ich denke oft an Piroschka, Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft, Patrick Süskinds Das Parfum, Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg oder Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume, um nur eine bescheidene Auswahl zu nennen – werden in Stimmungskontexte gestellt und auf Kollektivsubtexte abgeklopft, was oft genug zu bemerkenswerten Beobachtungen führt.

Ganz nebenbei werden, nicht systematisch geordnet und daher unaufdringlich eingestreut, allerlei Facetten des Phänomens „Bestseller“ über die Gestaltung des Umschlags, der medialen Verwobenheit etwa mit Verfilmungen oder den Autornamen als Marken sehr gewinnbringend beleuchtet. Ebenso wird die Unschärfe des schillernden Begriffes hervorgehoben, der seinerseits nicht nur eine nachträgliche Bezeichnung für ein Erfolgsbuch, sondern auch das denkbar beste Marketinginstrument ist: Was sich gut verkauft, wird sich durch diese Auszeichnung weiterhin oder noch besser verkaufen. Aufgrund solcher Überlegungen möchte man das Buch allen ans Herz legen, die sich mit Belangen des Buchmarktes oder der Literaturvermittlung in den Medien beschäftigen.

Wenn er aber nicht allein Erfolgsphänomene analysiert, sondern den Nutzen des Lesens rühmt, greift der erzählende Enthusiast allzu häufig ins rhetorische Regal mit abgeschmackten Kalenderweisheiten und driftet in Gefilde der Lesepädagogik und -esoterik ab. Ja, einverstanden, hier kämpft ein mit allen Wassern gewaschener Insider des Literaturbetriebs für das, was hinter all der Betriebsamkeit verloren zu gehen droht: den Akt des Lesens, die kontemplative Versenkung in die Lektüre, die geradezu amouröse oder gar erotische Bindung, die sich zwischen Leser und Buch einzustellen vermag. Es ist ein Kampf für die gute Sache, aber er wird doch etwas penetrant und mit zu dünnen Argumenten geführt. Die beschworene Liebesgeschichte (die zu einem veritablen Bestseller offenbar dazugehören muss) ist rührend naiv und bei Weitem zu seicht: „Die Bücher, die wir liebten, liebten uns auch. Sie haben aus uns bessere Menschen gemacht. Sie können nicht anders, weil Leser bessere Menschen sind.“ Nun ja. Ob der Verfasser dieser Rezension, ein Leser auch er, ein besserer Mensch ist, stehe dahin. Einstweilen wartet er jedenfalls auf den Beweis, dass etwa ein Bestseller wie Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab seine Leser zu besseren Menschen gemacht hat – es ist zu vermuten, dass sie allenfalls zu besseren Populisten wurden. Das weiß Magenau auch selbst, gerade deshalb ist es enttäuschend, dass er vor Liebe bisweilen blind ist.

In seinem abschließenden Liebes-Hymnus bemerkt der Erzähler, dass „wir“ jederzeit das Recht haben, nicht zu lesen (was einerseits beruhigend ist, fürchtete doch der Rezensent schon um die Rechte der zahlreichen ihm bekannten Nicht-Leser, andererseits aber eine falsche Fährte sein dürfte, da sich Magenaus „wir“ nur aus denen zusammensetzt, die ohnehin lesen). Man habe auch das Recht, „Seiten zu überspringen“. Von dieser Lizenz gelegentlich Gebrauch zu machen, ist bei Magenaus von Redundanzen nicht ganz freiem Buch kein Schaden. Nicht alle Ausführungen zu allen vorgestellten Büchern sind gleich fesselnd. Dieser Eindruck dürfte aber subjektiven Interessen geschuldet sein, in denen sich das „Ich“ dann doch vom „Wir“ unterscheidet. Wenn aber das „Ich“ bei einzelnen Passagen hängenbleibt, wird es nicht selten reich belohnt. Trotz mancher Einwände: Man möchte Bestsellern möglichst viele Leser wie Magenau wünschen. Und Magenaus Bestseller-Buch möglichst viele Leser. Sie müssen sich ja nicht zwingend verlieben. Gelegentlich ist auch ein unverbindlicher Flirt anregend.

Titelbild

Jörg Magenau: Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
287 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455503791

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