Gesagtes und Nicht-Gesagtes

Die Poetikvorlesungen Katja Lange-Müllers und Ulrike Draesners führen einen qualitativ äußerst unterschiedlichen Dialog mit Ingeborg Bachmann

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit den – schon fast als eigenes Genre in Erscheinung tretenden – Frankfurter Poetikvorlesungen auseinandersetzt, sieht sich zwangsläufig mit Person und Schaffen Ingeborg Bachmanns konfrontiert. Mit ihren fünf im Wintersemester 1959/1960 gehaltenen Vorlesungen setzt sie auf Basis des programmatischen Titels Probleme zeitgenössischer Dichtung den Orientierungspunkt, wohin jenes Format tendieren muss: Konfrontiert mit einer veritablen Notsituation des Ästhetischen innerhalb der gesellschaftlichen Begleitumstände („Der Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber“), verstehen sich ihre Texte als Legitimationsversuche der Kunst.

Von dieser wird nicht weniger als gesellschaftliche Relevanz und Veränderung erwartet – im Zentrum steht das Postulat einer neuen Sprache, die in einer spezifisch neuen Wirklichkeit Moral und Erkenntnis stiftet. Destilliert man aus diesem wichtigen Anfangspunkt der Tradition poetologischer Vorlesungen ein leitendes Prinzip, so kann dies nur in der permanent zu leistenden doppelten Reflexion von eigener literarischer Arbeit vor dem Horizont einer literaturtheoretischen Rahmenüberlegung mit Blick auf die existenziellen Grundbedingungen künstlerischen Agierens insgesamt liegen. Knapp 60 Jahre nach Bachmanns Erinnerung an Kunst als gesellschaftsrelevantem Faktor – kulminierend in ihrer fünften Vorlesung über „Literatur als Utopie“ – treten Katja Lange-Müller und Ulrike Draesner 2018 in gänzlich unterschiedlicher Weise ihre Nachfolge an.

Die 1951 in Ostberlin geborene Katja Lange-Müller wirft in ihrem leichtfüßig daherkommenden poetologischen Text Das Problem als Katalysator gleich zu Beginn ein Schlaglicht auf das Elementare der Literatur: Schreiben reagiert als Akt der Problemüberwindung auf überaus existenzielle Notsituationen des handelnden Autors. Als „Not-Wende“ avanciert der eigene Text gewissermaßen zur eigensinnigen Idee, die den Autor mit sich konfrontiert, von ihm Besitz ergreift und sich im Heine’schen Sinne selbst ermächtigt und zum Leben verhilft. Auf der autobiografischen Basis ihrer eigenen Widerstandsgeschichte als Linkshänderin gegen die Normalisierungsgewalt einer rechtshändig schreibenden Gesellschaft zeigt sie exemplarisch, wie Literatur die je spezifische und individuelle Geschichte ihres Autors hervorbringt.

Zentral ist dabei das Moment der Konzentration: Im Rekurs auf das Format der Erzählung wird deutlich, wie dieses mit der beschriebenen Existenzialität korrespondiert. Der umfangreiche (im Hintergrund stehende) Gesamttext eines potenziellen Romans wird konzentriert auf die beschränkte Form der Erzählung und entfaltet so eine Verdichtung und Präzision, die das Authentische ermöglicht. Inhaltlich bestimmt wird die eigene Lebenserzählung im Wesentlichen über tragikomische Dissonanzen und Ambivalenzen in der eigenen Person, im Anderen, in Gegenständen der Wahrnehmung. Gerade die Dualität von Triebhaftigkeit und Vernunftsteuerung des Ich, die Lange-Müller an Johann Wolfgang Goethes Faust, Adolf Endler oder Kurt Tucholsky zeigt, rekurriert auf die Auseinandersetzung des Textes mit der Menschlichkeit der Figuren, die darüber hinaus Verdrängtes und Disparates zu Tage fördern.

Was sich hier wie eine komplexe literaturtheoretische Gesamtabhandlung liest, ist genau genommen lediglich die konzentrierte Form dessen, was Katja Lange-Müller im ersten Fünftel ihrer Vorlesungen thematisiert. Der weitaus größere Teil des Textes besteht aus einem Portfolio eigener literarischer Texte sowie derer ihrer Vorbilder, die die Autorin im humorvoll-launigen Ton als Ausgangspunkte ihrer eigenen Poetik kenntlich macht. Dieser quantitative wie qualitative Vorzug der Darstellung einer Individualpoetik vor einer Rahmenreflexion kunst- beziehungsweise literaturtheoretischer Relevanz ist unter mehreren Aspekten kritisch zu beleuchten: Das Problem beginnt bereits mit dem Ausdruck „Individualpoetik“. Weil das Übermaß zitierter Vorbilder – von den 180 Textseiten sind 87 reine Zitationen – nicht in eine eigene poetologische Argumentation eingebettet ist, sondern eher den Status eines additiven Anführens zahlreicher positiv evaluierter Texte hat, wird der Bezug ihrer eigenen Texte dazu nicht hinreichend deutlich.

Dass darüber hinaus die (gerade gegen Ende vorgenommene) Einspeisung eigener Texte mit biografischen Notizen verkoppelt wird, macht erneut ein übergreifendes Nachdenken über die Grundmomente des eigenen Schreibens unmöglich. Diese unscharfe Skizze der eigenen Poetik ist final verbunden mit der eher dürftigen Ausgestaltung einer grundsätzlichen Reflexion der Potenziale und Relevanzen des Literarischen im Verhältnis zum gesellschaftlichen Kontext. Lange-Müller Poetikvorlesungen kreisen damit unheilvoll zwischen der (selbst verneinten) „Nähkästchenplauderei“, einer sprunghaften Biografisierung und Politisierung (z.B. zur Situation in der Türkei), dem assoziativen und desintegrierten Rekurs auf eigene Vorbilder und dem – anfangs aufscheinenden – Potenzial einer literarischen Gesamtreflexion.

Die auf vielfältige Weise gattungs- und disziplinübergreifend aktive Münchener Schriftstellerin Ulrike Draesner vollzieht in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen den entscheidenden Schritt in Richtung der Grundideen Bachmanns: Ihre Texte erweisen sich als mehrdimensional tastende Suchbewegungen mit Blick auf diverse Wirklichkeitsenden zur Erfassung des komplexen Gegenstandes der Literatur. Das gattungsorientierte Raster der Vorlesungen (Novelle – Essay – Roman – Gedicht – Nature Writing) strukturiert das Gesagte auf nachvollziehbare Weise und bindet auch die zahlreichen externen Textpassagen und biografischen Momente in die eigene poetologische Argumentation mit ein und lässt Lesen, Schreiben und Leben zu wechselseitig voneinander abhängigen Formen der eigenen Existenz werden.

Programmatisch (und herausragend dargestellt) ist dabei ihre Grundauffassung des Zusammenhangs von Literatur und Leben: Sprachen sind deutungsoffene „gleitende Wirklichkeiten“, die sich wie ein Netz „über die Welt werfen“. Der Eigen-Sinn und die Eigen-(Aus-)Strahlung der Literatur strukturieren dabei das in der Welt Erfahrene im verknüpfenden Sinne. Im Titel Grammatik der Gespenster deutet sich zudem an, wie ein solcher Sprachraum (als „Raum der Geräusche – Mischraum, Grunzraum, Gestenraum, Berührungsraum“) auch Stimmen integriert und zu Tage fördert, die das Unbekannte, das Andere, das abweichend Geisterhafte aussprechen. Zentral für ihre Auseinandersetzung ist daher die Frage, wie das Jenseits, das Abseitige unserer Lebenserfahrung im Literarischen kultiviert werden kann, welches Wissen die Literatur über das Subjekt in den verschiedenen Gattungsformen bereithält.

Auf der Grundlage der eigenen Novelle über das Existenzielle des Kanalschwimmens reflektiert die Gattung das Grenzhafte von Inhalt und Form: Als Brennglas rekurriert sie auf ein unerhörtes Ereignis zwischen Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit, wird begreifbar als „Weitung des ,Faktischenʻ“ und verweist auf das Potenzial des Literarischen, Wirklichkeit neu, anders, ungeordnet zu perspektivieren. Auch der Essay, der die Figuren gewissermaßen halbiert und ihre Intellektualität in Form der Reflexion priorisiert, nimmt eine veränderungsorientierte Position zur Realität ein: Wie Draesner gekonnt performativ auf Basis ihrer eigenen Geschichte und der Reflexion des Heimat-Begriffs zeigt, avancieren Essays zu „Wortbeleuchtungsmaschinen“, die das sprachliche Wirklichkeitsfundament ausheben und im kritischen und geschichtsreflexiven Sinne zeigen können, „was in den Sprüngen von Absatz zu Absatz geschieht“.

In der konstitutiven Auseinandersetzung mit Raum und Zeit wird drittens der Roman zum subversiven Format der gesellschaftskritischen Ich-Auseinandersetzung: Der eigene historische Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt reflektiert dabei (als Generationenporträt von Flucht und Vertreibung während der beiden Großen Kriege) das diffizile Zusammenspiel von Deutungsleerstellen füllendem Leser und suchendem Figuren-Ich im Roman, das dieser als offene Form spiegelt. Die Heimatlosigkeit von Ich und Roman verhandelt so die Grenzen von Raum und Zeit, und damit auch diejenigen der (Leser- und Ich-)Individualität. Der spannungsreiche Zwischenraum von radikalem Sprachfokus (James Joyce) und radikalem Außenweltfokus (Franz Kafka) bringt im Roman außerdem gespenstische Stimmen der Polyphonie hervor, die auf formal und inhaltlich vielfältige Weise hörbar gemacht werden können. Widersprüchlichkeiten und Dissonanzen im Sprechen und Schweigen konstituieren so Erzählungen und Gegen-Erzählungen und lassen den Roman zur Aushandlungsfläche diverser Figurationen von Identität werden.

Neben dem Nature Writing (als – hier nachrangig behandelte – Variante prosaischen Schreibens, das die identitätskritische „Entlastung vom Ich“ im Konfliktfeld von Kultur und Natur diskutiert) rückt Draesner abschließend das Gedicht in den Fokus ihrer Betrachtungen: Die auf Atem, Stimme und Körperlichkeit zurückgehende Verwurzelung des Lyrischen im mündlichen Vortrag zeigt die Verwobenheit beider Ebenen als „Hervorarbeiten der Stimmlichkeit von Stimme in geschriebene, wortsemantische Sprache“. Ähnlich wie der Essay befördert das Gedicht ein Nachdenken über die sprachliche und lautliche Seite des Wortes, was die Autorin an Übersetzungen zwischen dem Deutschen und Englischen sichtbar macht. Die vielfach beschworene Subjektivität im dichterischen Ausdruck wird über die Entkoppelung von Gegenstand und körperlicher Aktivität gleichermaßen aufgelöst: „Ich war nur Stimme, nicht Ich“ wird zum diesbezüglich symptomatischen Ausdruck nach der eigenen ersten öffentlichen Lesung. Weil das Gedicht im assoziativen Sinne Sprünge durch wortsemantische „Optionsräume“ ermöglicht, Sprachmaterialien in Verkettungen anordnet, und gleichzeitig das Körperliche der Äußerung nach außen verlagert, wird gesellschaftliche Erfahrungswelt in lyrischen Denkbewegungen reflektiert und als lyrisches Bild präsent gemacht.

Als produktive Wechselseitigkeit von eigener Poetologie und literaturtheoretischer Reflexion einer gesellschaftlichen Legitimation des Ästhetischen wird der Geist Ingeborg Bachmanns zusammenfassend höchst unterschiedlich reaktiviert: Während Katja Lange-Müllers Ausführungen nicht über ein fragmentarisches Kompendium loser Notizen zum eigenen Schaffen hinaus- und weitgehend ohne eine integrale Metareflexion im obigen Sinne auskommt, liefert Ulrike Draesner eine luzide Form eines ästhetisch komplexen Poetikdiskurses: Präzise und integrierend nachvollziehbar mit eigenen Werkbeiträgen unterlegt, bewegt sich ihr Text auf der Ebene eines substanziellen Nachdenkens über den Geltungsanspruch und die Wirkmöglichkeiten der Literatur. Das Gespenstermotiv bildet hierzu gewissermaßen die Leitlinie einer ästhetischen Herangehensweise, die innerhalb der jeweiligen Gattungen das Nicht-Gesagte, Subkutane und Abseitige sucht und damit ein radikales Interesse an der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten formuliert. Literatur hat in diesem Sinne genau die von Ingeborg Bachmann formulierte Funktion, eine neue Sprache zu etablieren, die jene Wissens- und Erfahrungslücken füllt, die die Lebenswirklichkeit Tag für Tag neu aufreißt.

Titelbild

Katja Lange-Müller: Das Problem als Katalysator. Frankfurter Poetikvorlesungen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
186 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050905

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Ulrike Draesner: Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111505

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