Ein müder Autor

Smalltalk mit Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Entscheidung, Kazuo Ishiguro (石黒一雄) den Nobelpreis für Literatur zu verleihen, in den deutschen Feuilletons durchgängig positiv aufgenommen wurde, weist auf eine Charakteristik des Autors hin, die bei einer Gesamtschau seines Werks auch Anlass sein könnte, seinen Beitrag zur zeitgenössischen Literatur ein wenig differenzierter zu betrachten.

Ishiguros literarische Reise

Die ungewöhnliche Biografie Ishiguros bildet den Ausgangpunkt seiner Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2017. Geboren 1954 in Nagasaki, kam er als Kind einer japanischen Familie 1960 in ein noch sehr „englisches“, homogenes England, in dem er, wie er anschaulich erzählt, im Laufe von Kindheit und Adoleszenz sozialisiert wurde. Sein Vater Shizuo Ishiguro war ein renommierter Ozeanograf, im Elternhaus erfuhr der Sohn eine japanische Sozialisation. Japan als das Land seiner frühesten Eindrücke verblasste mehr und mehr, je länger er sich, bedingt durch die berufliche Situation des Vaters, in Europa aufhielt. Sein Bemühen, das Land, im Speziellen die Stadt seiner Geburt, Nagasaki, als Heimaterfahrung zu bewahren, bildete, wie er bekennt, dann auch die Grundlage für seine Karriere als Schriftsteller – erst 1989 sollte der mittlerweile anerkannte Autor auf Einladung des japanischen Kulturförderinstituts Japan Foundation seinem Herkunftsland wieder einen Besuch abstatten.

Erste Zukunftsplanungen des jungen Ishiguro gehen zeitgemäß in Richtung Rockstar. Nach einem BA-Studium meldet sich Ishiguro dann jedoch an der University of East Anglia zu einem Graduiertenkurs für kreatives Schreiben an. Im Winter 1979/80 lebt er von Frühstücksflocken und Lammnieren im typischen Zimmer des Poeten zur Untermiete und schreibt an seiner Abschlussarbeit – die zugleich sein erster, 1982 publizierter Roman wird: A Pale View of the Hills (dt. Damals in Nagasaki, 1984). Ein Schaumstoffviereck dient als Bett. Seine Freundin und spätere Ehefrau, die Sozialarbeiterin Lorna (Lorna MacDougall), besucht den Literaturadepten jede zweite Woche im Monat. 1983 wohnen die beiden in London, 1988 ziehen sie in ein eigenes Haus in Südlondon um, 2001 liegt ihr Domizil in Nordlondon. Der Autor, seit 1983 britischer Staatsbürger, führt in angenehmem Plauderton dekadenweise durch sein Leben, während er schriftstellerische Einsichten erläutert, die er – seiner Darstellung nach eher zufällig – über die Jahre hinweg zu bestimmten Anlässen gewonnen hat.

Identitätsfragen, Schreibrezepte, Karriere

Am Anfang seiner Laufbahn beschäftigt ihn die Frage nach dem literarischen Stoff – frühe Geschichten thematisieren einen „makabren Selbstmordpakt“, „Straßenkämpfe in Schottland“ oder einen Teenager, der seine Katze vergiftet. Obwohl es dem Autor an Fantasie nicht mangelt, gefällt ihm selbst erst ein Text, der von Japan handelt. Ishiguro war, ohne es damals zu wissen, Teil einer Öffnung der Literatur Englands für nicht rein inländische Themen, das heißt er stand – als selteneres Beispiel eines Einwanderers ohne eigentliche Einwanderungsabsicht – am Anfang der sogenannten postkolonialen Strömung, die, angefangen mit Salman Rushdie und V.S. Naipaul, heute zahlreiche Vertreter aufweisen kann.

In seinen Japan-Erzählungen entwirft der Schriftsteller kein Schaubild des Landes in einer bestimmten historischen Phase wie zum Beispiel der von ihm häufig geschilderten Nachkriegsdekade – die zeitgeschichtliche Perspektive scheint in pars pro toto-Technik (Friedenspark und Mahnmal in Nagasaki) meist nur kurz auf. Die Aussage des Textes entsteht über die psychologische Charakterisierung der Protagonisten, über Andeutungen im Hinblick auf ihre innere Gestimmtheit und ihre Beweggründe für Lebenshaltungen, Überzeugungen, die ins Wanken geraten, oder versäumte Entscheidungen.

In der Nobelpreisrede lässt Ishiguro seine Ansätze und Erzähltechniken wie Zufallsergebnisse wirken, die er in verschiedenen Stadien seiner Karriere, unzufrieden mit dem jeweils aktuellen Schaffen, nach Möglichkeit verbessert. Klar ist ihm der Leitgedanke, dass Literatur mehr bieten muss als das Fernsehen. Einmal entdeckt er Marcel Proust als handwerkliche Anleitung, dann sind es Musik oder Filme, die ihn inspirieren. Erklärtes Ziel ist dabei auch eine „internationale Literatur“, die „kulturelle und sprachliche Grenzen“ überwindet und ethische Dimensionen ergründet. Hier ähnelt die Auffassung Ishiguros von Literatur und der Rolle des Autors vielleicht nicht ganz zufällig der des etwa gleichaltrigen Haruki Murakami – im Übrigen ein Konkurrent für die Nobelpreisnominierung. Beide orientieren sich außerhalb einer literarischen Landestradition und gehen das Vorhaben, eine Schriftstellerlaufbahn einzuschlagen, pragmatisch und zielgerichtet an. Ihr Schreiben möchte einen großen Leserkreis erreichen und das Medium Literatur propagieren.

Als Ishiguro 1983 die britische Staatsbürgerschaft annimmt, hat dies vor allem den Hintergrund, dass er damit berechtigt ist, die literarischen Preise des Landes entgegenzunehmen. Diese erhält er nun in regelmäßigen Abständen: 1986 Whitbread Book Award, 1989 Booker Preis, 1993 Wahl zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences, 1995 Officer des Order of the British Empire, 1998 Ritter des Ordre des Arts et des Lettres. Es schließen sich an der Corine-Belletristikpreis und schließlich die höchste Auszeichnung im Dezember 2017, der Literaturnobelpreis. Spätestens mit dem dritten, ungemein erfolgreichen Roman The Remains of the Day (1989; dt. Was vom Tage übrig blieb, 1990)  repräsentiert er als geachteter Vertreter die literarische Zunft Großbritanniens. Die japanische Seite ehrt ihn ebenfalls und gibt ihm Gelegenheit, mit landeseigenen Literaturgrößen wie Kenzaburô Ôe in Kontakt zu treten.

Es sei einem Schriftsteller zugebilligt, seine Karriere gezielt zu verfolgen und im Literaturbetrieb beziehungsweise auf der internationalen Bühne professionell zu agieren, das heißt sich im Literaturbetrieb mit passender Inszenierung zu vermarkten. Diese Professionalität findet im Falle der vorliegenden Nobelpreisrede ihren Ausdruck darin, dass der Autor erwartungsgemäß die Schrecken des 20. Jahrhunderts anspricht. Aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in der Elterngeneration formuliert er eine Verpflichtung der Schriftsteller seines Jahrgangs, die Lektionen an die Nachfolgenden weiterzugeben. Wie Murakami beschreibt Ishiguro – in andeutender, allegorischer Form – die Mechanismen, die zu Krieg und Vernichtung geführt haben, als dunkle Mächte. Derzeit bemerke er das Wiedererstarken völkischer Nationalismen und einen neuen Rassismus, der „unter unseren zivilisierten Straßen“ seine Glieder recke wie ein „erwachendes Ungeheuer“. Zu Recht tadelt der Preisträger die aktuelle „gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen“ und – auch angesichts „bahnbrechender Neuerungen in den Naturwissenschaften“ – das Fehlen einer progressiven einigenden Version für die Gegenwartsgesellschaften und ihre diversen Problemlagen. Ishiguros Rede ist in der Hinsicht professionell, dass sie den Erwartungen einer Verlautbarung vor der Schwedischen Akademie entspricht. Die persönlichen Reminiszenzen erinnern an eine harmlose Homestory, zeitgeschichtliche und ethische Erwägungen bleiben auf der Oberfläche. Ishiguro verharrt im Rahmen der Konvention, man könnte auch sagen, der heute in allen Sparten so verbreiteten Mittelmäßigkeit. Er vermeidet an dieser Stelle das Risiko und entwirft jedenfalls selbst nicht die „große humane Vision“, die er doch vermisst.

Eine neue Zeit

Anders als dies manche wohlmeinende Lobredner sehen, gesteht der Nobelpreisträger von 2017 fast entschuldigend, er befände sich nicht mehr am Puls der Zeit. Ishiguro wirft die Frage auf, ob er, ein „müder Autor“ einer „intellektuell müden Generation“, noch etwas zur aktuellen Situation beisteuern könne. Das Eingeständnis von Erschöpfung hilft indes nicht viel zur Stärkung des Literarischen und könnte zudem als latente Leistungsverweigerung eines Privilegierten wahrgenommen werden, der zu satt ist. Das Fazit lautet: Er werde „auf die Schriftsteller der nachfolgenden Generationen bauen“ und hoffe auf deren Wissen und Gespür.

Ishiguros Ansprache umfasst, dem Titel der Nobelpreisrede gemäß, die charmante, privat und beiläufig gehaltene Beschreibung einer persönlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Sein dezenter Smalltalk auf der Bühne der Schwedischen Akademie vereint möglicherweise englisches understatement mit dem japanischen Ideal bescheidener Zurückhaltung. Zur Lage der Welt äußert der Autor letztlich Allgemeinplätze, mit denen er gewiss nirgendwo aneckt, andererseits aber auch keinen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Titelbild

Kazuo Ishiguro: Mein 20. Jahrhundert und andere kleine Erkenntnisse. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2017.
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Blessing Verlag, München 2018.
47 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676399

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