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Ein von Stephan Pabst und Johanna Bohley herausgegebener umsichtiger Sammelband ermöglicht eine horizontale Sicht auf den Dramatiker Heiner Müller in seiner (staubfreien) Gegenwärtigkeit

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In aller Regel setzen Tradierung und Kanonisierung literarischer Persönlichkeiten erst nach deren Tod, also mit dem definitiven, parallelen Werk- und Lebensende ein. Im Falle Heiner Müllers, dem mutmaßlich wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gestaltet sich dies weitaus komplexer. Der im Berliner Verbrecher Verlag von Stephan Pabst und Johanna Bohley publizierte Sammelband Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers wirft – basierend auf dieser Problemstellung – einige Schlaglichter auf die Wirkung der bedeutendsten Persönlichkeit der DDR insbesondere ab den 1990er Jahren. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass es Heiner Müller gerade über die nach Abschluss seines genuin literarisch-dramatischen Werks forcierten Interviews am Beginn dieser Zeit gelang, im Sinne der „Strategie der Selbstkanonisierung“ beziehungsweise der „kontrollierten Selbsthistorisierung“ (Stephan Pabst) aktiv an der Fortexistenz von eigenem Namen und Werk zu partizipieren.

Für derlei Prozesse zentral ist der Begriff des Nachlebens als dialektische Denkfigur: Das Ikonische von Müllers Person und Werk bewirkt bringt eine besondere Konstellation der „produktiven Transformation“, „archäologischen Grabung und Spurensuche“ (Norbert Otto Eke) des Um- und Nachschreibens hervor. Dialektisch ist der Prozess deswegen, weil der Versuch einer Aktualisierung immer mit der Historisierung, das heißt „Erledigung“ (Stephan Pabst) eines Autors einhergeht. Losgelöst vom Autor wird dabei zuerst der Text zum autonomen Material einer Neu-Rezeption; die Ästhetik des Materials wird gewissermaßen in Prozesse neuer Formgebung und -zertrümmerung eingespeist und als dynamischer Ausgangspunkt von Transformationen relevant gesetzt. Das Leben des entkoppelten Materials sichert so (in der skizzierten Ambivalenz) Autor- und Werkexistenz. Das aufgeworfene Nach- und Fortleben literarischer Texte als fortwährender Akt von Zerfall, Zersetzung und Neuanordnung (Walter Benjamin) knüpft damit sowohl an die Idee der Überschreibung und Übermalung (Gérard Genettes Konzept des Palimpsests) als auch an Heiner Müllers Diktum des dramatischen Dialogs mit den Toten an.

Bereits seine eigenen poetologischen Ideen zum Theater sind so von ähnlichen Voraussetzungen geprägt: In der Negation jeglichen Fortschritts werden Lebens- und Weltzeit zyklisch, wird der Tod zum Initialpunkt permanenter Verwandlungen. Die Allgegenwart des Todes geht so mit dem Anspruch an das Theater einher, fortwährend zu stören und zu irritieren – eine quälende Differenz von Ich und Welt in Querstellung zu generieren. Diese Zertrümmerung der Sinnzusammenhänge und Kontinuitäten öffnet das Theater für eine auch formal sichtbare Heterogenität als Diskurstheater und basiert auf einem posthumanistischen Menschenbild, das den Tod des Subjekts der Aufklärung qua Technologie und Biopolitik – als „Verlagerung des Totalitätsanspruches der Humanwissenschaften auf die Naturwissenschaften“ (Heribert Tommek) – konstatieren muss.

Verwandlung und Differenz (Schreiben als „ständiger Tötungs- und Geburtsakt“ (Andreas Degen)) entfalten damit sowohl in der Ästhetik Heiner Müllers als auch im später einsetzenden Umgang mit dieser eine „soziale wie ästhetische Produktivkraft“ (Torsten Hoffmann): Konkret bietet der umfangreiche und enorm vielschichtige Aufsatzband zunächst Auseinandersetzungen mit Heiner Müller als Person und perspektiviert zum Beispiel seine Außenseiterposition innerhalb der DDR (gründend im Geschichts- und Selbstbewusstsein) im Vergleich zu Adolf Endler (Robert Gillet und Astrid Köhler). Er richtet den Fokus etwa auf den Vergleich kommunikativer (Interview-)Strategien von Müller und Thomas Brasch in der Konzentration auf das Rollenspiel und den öffentlichen Denkdialog als suchende Reflexionsbewegung gegen journalistische Zuspitzungen (Birgit Dahlke). Auch Müllers Bezüge auf und Fortschreibungen von Konfrontationen mit Amerika werden elaboriert (Marc Silberman und andere). Darüber hinaus spielen genreübergreifende Wirkungen von Müllers Ästhetik auf Experimental- und Popmusik als Sample (Robert Mießner), auf die Lyrik (Stephan Pabst) beziehungsweise das Hörspiel (Hannes Höfer) eine hervorgehobene Rolle.

Was Pabsts und Bohleys Band besonders produktiv und überzeugend werden lässt, sind die einleitungsartigen ersten beiden Beiträge (Alexander Löck und Stephan Pabst) als metareflexive Überlegungen zu den Konzepten des Nachlebens und des Materials, die sich im Sinne einer übergreifenden Auseinandersetzung mit Literatur in ihrer Modellqualität für andere Texte und Formen als enorm anschlussfähig erweisen. Auch die (mit dem Schaffen Müllers begründbare) Schwerpunktsetzung auf sein dramatisches Werk zeigt sich sehr gelungen in ihrer Vielschichtigkeit – gerade mit Blick auf das Drama der Gegenwart und die fortwährende Präsenz einer gesellschafts- und gerade kapitalismuskritischen Grundnote der Ästhetik Heiner Müllers. Material Müller erlangt damit sowohl eine eminente Bedeutung in der konkreten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Fortschreibungen des DDR-Dramatikers, ist aber ebenso konzeptuelles Vorbild für eine methodenbewusste Literaturwissenschaft als Disziplin, die nach der modellhaften Ausstrahlung von Ästhetik fragt.

Titelbild

Stephan Pabst / Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
474 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957322746

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