Der Briefwechsel Theodor Storm/Theodor Fontane

Gabriele Radecke ediert ihn mustergültig als große Dokumentation einer Dichterbeziehung

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Realisten Theodor Storm (1817–1888) und Theodor Fontane (1819–1898) wurden vor ungefähr 200 Jahren geboren. Fontanes 200. Geburtstag wird im kommenden Jahr gefeiert. Die Germanistin und Editionswissenschaftlerin Gabriele Radecke hat den Briefwechsel – bestehend aus 93 Briefen – herausgegeben und dem Band, in einem besonderen Essay-Teil, alle Abhandlungen und Rezensionen, die die beiden Autoren sich gegenseitig gewidmet haben, hinzugefügt. Allen Texten ist ein historisch-kritischer Apparat beigegeben. Auf diese Weise dokumentiert der Band umfassend das Verhältnis von zwei Großen der deutschen Literatur. Ergänzt werden die dokumentarischen Kapitel durch eine Darstellung der wechselvollen Überlieferungsgeschichte (immer wieder gab es im 20. Jahrhundert Teilabdrucke des hier vorgelegten Materials), fünf annotierte Register (sogar eines zu den damaligen literarischen Vereinen und dem internen Sprachgebrauch ihrer Mitglieder) und vor allem einen ausführlichen Stellenkommentar zu den Briefen.

Es handelt sich um die Neuausgabe des gleichnamigen Bandes, der 2011 etwas versteckt innerhalb der Reihe der „Storm-Briefwechsel“ erschienen ist; der Erläuterungsteil wurde aktualisiert. Der Verlag präsentiert das Ganze nun in kartonierter Form und in ansprechender Optik, der Preis wurde enorm reduziert. Wir haben hier eine wissenschaftliche Edition im Umfang eines schweren Lexikonbandes mit einem Faksimile-Kunstdruckteil für unter 30 Euro.

Zu würdigen ist die editionsphilologische Leistung. Für zwei Drittel der Briefe und ein Drittel des Essay-Teils lagen der Herausgeberin die originalen Handschriften vor. So konnten auch die Zwischenstadien der Niederschrift aufgezeigt werden. Der Leser erfährt die Korrekturen, Streichungen, Einfügungen, Überschreibungen, Überklebungen sowie weitere Feinheiten wie etwa die gelegentliche Benutzung der lateinischen (statt der deutschen) Schrift – also alle Elemente der Textgenesis. Die so entstandenen höchst detaillierten Apparate sind eine editorische Spitzenleistung und eine intellektuelle Freude für alle, die die einstige Briefkultur schätzen. Um die Apparate zu verstehen, sollte der Leser sich mit den komplizierten, aber klar systematischen Sigeln und editorischen Kürzeln vertraut machen.

Eine besondere Herausforderung war Fontanes später Text Erinnerungen an Theodor Storm, der in mehreren Absätzen unvollständig ist, sogar Abbrüche mitten im Satz aufweist. Von einer „endgültigen Version“ kann man hier nicht sprechen. Die Herausgeberin arbeitet mit den Begriffen „Grundschicht“ und „überarbeitete Textschicht“.

Bei den Briefen und Texten, deren Handschriften verschollen sind, wurde auf die vorhandenen Abschriften und Drucke zurückgegriffen. Da in solchen Fällen pro Dokument zumeist mehrere solcher Vorlagen existieren, wurde die vermutlich zuverlässigste Version ausgewählt, der textkritische Apparat bezieht dann die anderen Vorlagen ein.

Zusätzliche Anstrengungen erforderten die Beilagen, mit denen manche Briefe bestückt sind. Bei den Recherchen zu solchen mehrteiligen Briefen wurden ein Schreiben Storms vom 9. August 1853 und ein Blatt mit Storms eigenhändiger Abschrift seines Gedichtes Abschied, beides völlig getrennt archiviert, als ein Ganzes erkannt: Der Brief war zerrissen worden! Weitere Recherchen der Herausgeberin haben ergeben, dass Fontane die Korrespondenz mit Storm am 28. Dezember 1852 eröffnet hat; der Brief ist nicht erhalten. Elf weitere nicht mehr vorhandene Briefe konnten ebenfalls erschlossen werden.

Ein eigener Glanzpunkt der Edition ist der Stellenkommentar zu den Briefen, der heute unbekannte Begriffe erklärt, die historischen und geografischen Anspielungen ausführlich erläutert und alle persönlichen Mitteilungen – von den Schaffensplänen und literarischen Kontakten bis zu den Familienereignissen – aufschlüsselt. Dabei wurde eine Fülle von Quellen, etwa auch Post- und Adresshandbücher, herangezogen. Im Übrigen ist Radecke eine exzellente Kennerin des 19. Jahrhunderts. Etwa sind drei Sätze Fontanes über seine Begegnungen mit Klaus Groth der Anlass für eine fast zwei Seiten lange Darlegung seines Aufenthaltes in Kiel 1878. Wenn aber Fontane während der Arbeit an seinem ersten Roman auch tadelnde Kritiken befürchtet (Brief vom 14. Januar 1877), muss da der Stellenkommentar so weit gehen, dass er eine derartige Kritik anführt, die zwei Jahre später (!) erschienen ist?

Bei aller Aufmerksamkeit für die vielfältige philologische Leistung in diesem Band soll der Kern des Ganzen nicht übersehen werden, nämlich die Briefe und Essays der beiden Autoren. Es ist spannend zu lesen, wie sich deren Beziehung im Laufe der Jahre entwickelte und wie sie in die damalige Literatenszene eingebettet war. Storm und Fontane berichten von ihrer Arbeit und ihren Publikationen, sie beraten und kritisieren sich gegenseitig, und sie bewundern einander. Fontane schätzte („Sie sind und bleiben nun mal mein Lieblingsdichter“, 22. Mai 1868) allerdings an Storm mehr den Poeten als den Menschen, Storm dagegen hat Fontane immer als Menschen und Künstler zugleich verehrt („liebster Freund“, „liebster Fontane“ – in dieser Weise beginnt nur Storm manche Briefe). Zu einer wirklichen Freundschaft ist es nicht gekommen, es blieb – getrauen wir uns das zu sagen – letztlich wohl nur eine kollegiale Verbundenheit. Und dies trotz ähnlicher sozialer Lage. Beide waren Familienväter mit vielen Kindern und Geldsorgen. Freilich waren sie von gegensätzlichem Charakter und obendrein durch ihre unterschiedliche Herkunft geprägt. Fontane hatte durchaus recht, wenn er Storm Provinzlertum zuschrieb (Fontanes berühmte Schelte „Husumerei“ steht in dem Essay von 1896), und Storm hatte ebenso recht, wenn er dem Preußen und Großstädter Fontane eine Neigung zu autoritärem Denken und zu „Phrasenkram“ (19. Dezember 1864) vorwarf.

Die alten Texte führen also ein in die Psyche zweier bemerkenswerter Individuen, sie zeigen zeittypische Sitten, Ideale und Befangenheiten auf, sensibilisieren für verschiedene politische Haltungen und machen bei alledem die kreative Potenz der beiden Großen der deutschen Literatur sichtbar. Radeckes vorzügliche Edition dieser wertvollen Materialien ist ein kapitaler geistiger Genuss.

Titelbild

Gabriele Radecke (Hg.): Theodor Storm – Theodor Fontane. Der Briefwechsel.
Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2018.
LXVII + 528 S., 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783503177622

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