Stilübungen für den Augenblick

Marcel Prousts Gedichte

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weltberühmt wurde Marcel Proust nicht mit seinen Gedichten, sondern mit dem großen Roman À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede zwischen den beiden Gattungen kaum größer sein: hier die kleine poetische Form, dort die ausufernde Autofiktion, deren detailversessenen Beschreibungen nur schwer zu einem Ende finden. Trotzdem stellte Roland Barthes Ende der 1970er Jahre in seiner Vorlesung Die Vorbereitung des Romans eine Beziehung her zwischen dem japanischen Haiku einerseits, einer der knappsten Formen der Poesie, und James Joyce’ und Prousts großen Romanen andererseits. Denn ihnen allen sei gemein, dass sie versuchten, Augenblicke sprachlich einzufangen beziehungsweise in der literarischen Erinnerung wiederauferstehen zu lassen. Das Haiku-Gedicht bewahre, so Barthes, gleichfalls einen Moment für die Nachwelt und stelle somit eine „neue und paradoxe Kategorie“ dar, die eines unmittelbaren Gedächtnisses, das darin bestehe, sich durch das Niederschreiben „auf der Stelle zu erinnern“. In dieser Form der Erinnerung liege „die Aufgabe der Poesie“, von der das Haiku „nur eine radikale Form ist“.

Zwischen den Gedichten Prousts und seinem Hauptwerk bestehen außerdem inhaltliche Korrespondenzen. In Sodom und Gomorrha, dem vierten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ist die Homosexualität eines der Hauptthemen, auch wenn der Erzähler die gleichgeschlechtliche Liebe nur aus der Ferne zu kennen scheint. Anders als der Autor: Als 17-Jähriger widmete Proust 1888 seinem Freund Daniel Halévy das Gedicht „Päderastie“, in dem das lyrische Ich bekennt, es wolle mit einem „warmen Knaben, Jacques, Pierre oder Firmin, für immer schlafen, lieben, leben“. In einem anderen Text, seinem „teuren Freund Jacques Bizet“ gewidmet, heißt es: „Oh, mein kleiner Freund, warum sitze ich nicht auf Deinen Knien, den Kopf an Deinen Hals geschmiegt, warum liebst Du mich nicht?“ Obwohl er sich damit vergleichsweise unbefangen offenbarte, war Proust bereits in jungen Jahren die Diskriminierung und Ausgrenzung von Homosexuellen gegenwärtig, die in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit selbst Adlige wie den Baron Charlus trifft. In einem Brief bat Proust Halévy, ihn „nicht wie einen Päderasten“ zu behandelt, das verletze ihn. „Moralisch versuche ich, und sei es auch nur des guten Tones wegen, rein zu bleiben.“ Die Hauptthemen des späteren Romans – die Erinnerung, die Melancholie und die Trauer – tauchen, der Form entsprechend, gleichfalls früh in den Gedichten auf. Natürlich ist es wieder ein Liebesgedicht des jungen Schriftstellers, in dem es heißt: „Besetzt für alle Ewigkeit den Himmel meiner Erinnerung, ihr unauslöschlichen Augen derer, die ich geliebt …“

So lassen sich die Gedichte Prousts biografisch deuten und als Vorübungen zu späteren Werken lesen. In einem Gedicht nimmt Proust sogar die Rezeption seines großen Romans vorweg, der bei der herrschenden Literaturkritik auf keine positive Resonanz stoßen sollte. Eine von Proust geschätzte literarische Gattung war das Pastiche, das Schreiben im Stil eines Anderen, so wie sich auch Auf der Suche nach der verlorenen  Zeit dadurch auszeichnet, dass die einzelnen Figuren in ihren Redeweisen nachgebildet werden. Manche der Gedichte lesen sich entsprechend eher wie Fingerübungen, angepasst an den herrschenden Geschmack. Nur so lässt sich wohl erklären, dass Proust, vermutlich noch nach 1910, also als erwachsener Mann, ein Spottgedicht über einen schwulen Adligen verfasste. Wollte Proust damit „Homophobie persiflieren“, wie der Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer mutmaßt? Eine der harmloseren Stellen des Gedichts lautet: „Denn d’A… liebt, wie es sein Papa tat, das arme, arme Proletariat, nicht im Salon, o nein, im Bett …“ Bei Zeilen wie diesen stellt sich unweigerlich die Frage, warum man solche Verse in einer so schön aufgemachten, illustrierten und zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht.

Die antisemitische Dreyfus-Affäre, die in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit den Hintergrund bildet, klingt in einigen Gelegenheitsgedichten an, die Proust zum Zeitvertreib mit seinem Freund Reynaldo Hahn austauschte. In einem heißt es wie beiläufig über den Oberst Picquart, der als erster hoher Militär die angeblichen Beweise gegen Dreyfus als Fälschungen entlarvte und dafür bestraft wurde: „Ich habe Picquart lügen sehen gegenüber Ménard d’Orian …“ Aline Ménard d’Orian gehörte zu den Verteidigerin Dreyfus’. An anderer Stelle wird Édouard-Adolphe Drumont, dessen Buch La France Juive ein Klassiker des rassistischen Antisemitismus ist, ebenso genannt wie Fernand Labori, der zu den Dreyfusards gehörte und Emile Zola im Prozess wegen dessen Artikel „J’Accuse“ verteidigte. Dass sich Proust seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert intensiv mit der Dreyfus-Affäre beschäftigte, dass er über den Justizskandal empört war und dass sein Roman À la recherche du temps perdu zu den wenigen zeitgenössischen belletristischen Werken gehört, in denen die Affäre thematisiert wird, ist bekannt. Das heißt jedoch nicht, dass sich Proust von allen Antisemiten seiner Zeit ferngehalten hätten. Ausgerechnet das letzte Gedicht in der vorliegenden Sammlung ist dem Schriftstellerkollegen Paul Morand gewidmet, der ein so fanatischer Antisemit war, dass er später mit dem faschistischen Regime unter Marschall Philippe Pétain kollaborierte. 1921 hatte Proust Morand eine Ausgabe von Les Plaisirs et les Jours mit einem eigenen Theatertext gewidmet, den Fischer wegen der gereimten Form schon fast zu den Gedichten“ zählt.

Sind die Gedichte also vor allem biografisch interessant? Fischer wollte mit dieser Sammlung „das künstlerische Umfeld spürbar machen, in dem Proust sich diskursiv bewegte“. Zu diesem Vorhaben tragen auch die Illustrationen bei, von denen eine möglicherweise Bernard Lazare zeigt, einen heute weitgehend vergessenen Anarchisten und vermutlich den ersten Dreyfusianer. So schließt Les poèmes/Die Gedichte an Fischers Porträt Proust zum Vergnügen an. Ob sie dazu angetan sind, neue Leserinnen und Leser für Proust zu gewinnen, darf bezweifelt werden. Es führt nach wie vor kein Weg daran vorbei, das Hauptwerk Prousts, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zu lesen.

Titelbild

Marcel Proust: Les Poèmes – Die Gedichte. Französisch/Deutsch.
Mit 88 zumeist farbigen Abbildungen.
Herausgegeben und übersetzt aus dem Französischen von Bernd-Jürgen Fischer.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
422 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111581

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