Ein Leben ohne Gedächtnis – aber nicht ohne Liebe

Joyce Carol Oates überzeugt in „Der Mann ohne Schatten“ mit einem verwegenen und brillant erzählten Plot

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nur schwer nachvollziehbar, wie es sich anfühlt, das eigene Gedächtnis zu verlieren. Ebenso sicher vermögen wir es wohl kaum, uns vorzustellen, in eine Person verliebt zu sein, die uns nach 70 Sekunden bereits wieder vergessen hat.
Genau davon handelt Joyce Carol Oatesʼ Roman Der Mann ohne Schatten, der zu den Glanzstücken der mittlerweile 80-jährgen amerikanischen Autorin zählt, die seit Jahren als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis gehandelt wird.

Wie stets bei Oates überzeugen auch in diesem Werk, das seit Mai 2018 auf Deutsch vorliegt, sprachliche Raffinesse, meisterhafte Erzähltechnik mit subtiler Dramaturgie und psychologischer Tiefgang. Hier kommen aber auch noch fundierte Kenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Forschung hinzu. Dieses Wissen ist gewiss ihrem zweiten Ehemann Charles G. Gross geschuldet, der bis zur Emeritierung an der Princeton University als Hirnforscher arbeitete. Diese Fachkenntnisse jedoch einfühlsam und nuanciert in einen tiefgründen, spannenden Plot zu verwandeln, das ist natürlich das Werk der Autorin.

Dank ihres literarischen Könnens gelingt Oates das Wagnis, die Geschichte nicht nur aus der Perspektive der Protagonistin Margot Sharpe zu erzählen, sondern auch Sequenzen aus der Innensicht des zweiten Protagonisten, des an Amnesie erkrankten Elihu Hoopes, einzustreuen. Diese spiegeln glaubhaft die Verwirrung und Zerrissenheit eines Menschen wider, der sich nur an das Leben vor der Krankheit erinnert und ansonsten auf Gedeih und Verderb seiner Umgebung ausgeliefert ist, während er in einer ewigen Gegenwartsschleife verharrt.

Dabei war Elihu (Eli) Hoopes wahrlich kein hilfloses Kind, als er eine schwere Enzephalitis erlitt und die lebensrettende OP bei ihm einen irreparablen Hirnschaden hinterließ. Als Mitglied einer alteingesessenen Familie mit großen Vermögen, arbeitete der damals 37-jährige erfolgreich in der familieneigenen Firma, war verlobt und engagierte sich mit viel Energie für die Aufhebung der Rassentrennung in den USA. Doch nun, nach dem einschneidenden Gedächtnisverlust, klinisch als „anterograde Amnesie“ diagnostiziert, lebt er bei seiner Tante und wird einmal pro Woche in das Institut des Neurowissenschaftlers (und späteren Nobelpreisträgers) Milton Ferris gebracht.

Dort unterzieht man ihn über Jahrzehnte hinweg zahllosen Tests, denn Elihu ist als Patient ein Glücksfall für die Forschung: Sowohl vor und nach der Amnesie ist er mit einem sehr hohen IQ gesegnet, sodass man mit ihm Experimente zur Funktionsweise des menschlichen Hirns durchführen kann, wie sie noch nie möglich waren. Zum Team von Milton Ferris gehört ab 1965 auch die ehrgeizige junge Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe, der ihr Beruf über alles geht. Auch als eine Liaison mit dem verheirateten Mentor Ferris von diesem beendet wird, verzweifelt die attraktive, aber einsame und sozial wenig kompatible Frau nicht. Umso mehr stürzt sie sich in die Arbeit mit Eli Hoopes und übernimmt Schritt für Schritt die Kontrolle über das Projekt.

Doch nicht nur in Sachen Forschung richtet sich ihr Augenmerk ausschließlich auf Eli: Allen ethischen und wissenschaftlichen Grundsätzen zum Trotz beginnt sie eine heimliche Liebesbeziehung mit ihrem Probanden, dem sie vorspielt, seine Frau zu sein. Aber bei aller Nähe und zeitweiligen Innigkeit weiß auch sie nichts Genaues über die Abgründe seiner Kindheit, die mit einem düsteren Geheimnis um den Tod seiner Cousine Gretchen verbunden sind.

Kaum einem anderen Autor würde es wohl gelingen, innerhalb des ohnehin schon komplexen Plots auch noch Krimi-Sequenzen mit einzubinden, ohne das Ganze völlig zu überfrachten. Oates schafft mit dem Bild des toten Mädchens im Bachlauf aber ein weiteres Leitmotiv neben dem immer wiederkehrenden „Hallo“, das den Leser weitertreibt und mit Spannung verfolgen lässt, wie sich die Geschichte des ungleichen Paars entwickelt.

Dem Plot liegt übrigens der wahre Fall von Henry Gustav Molaison (1926–2008) zugrunde. Der Amerikaner  litt unter einer speziellen Form des Gedächtnisverlustes und unterzog sich bis zu seinem Tod zahlreichen Testreihen, deren Ergebnisse fundamental für das Feld der Erinnerungsbildung sind. Das literarische Vorbild für Margot Sharpe ist Brenda Milner, die als Professorin für Neurologie und Neurochirurgie lehrte und zahlreiche Arbeiten über Henry Gustav Molaison publizierte.

Titelbild

Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
379 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972764

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