Ein umtriebiger und fast vergessener Dichter mit einem malerischen Blick

Zum 100. Todestag von Max Dauthendey

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weltfremdheit und Weltsehnsucht betitelte der Germanist Gert Ueding seinen Essay über Max Dauthendey (in Die anderen Klassiker. Literarische Porträts aus zwei Jahrhunderten, 1986). Biografie und Werk von Max Dauthendey, der Dichter und Maler wie auch Lebenskünstler und Weltreisender war, muten tatsächlich wie ein Fantasiegebilde an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er ein literarisches Phänomen, das sich keiner Literaturströmung seiner Zeit zuordnen ließ. Im Vorjahr war Dauthendeys 150. Geburtstag, nun, am 29. August, sein 100. Todestag. Beide Jahrestage fanden jedoch in den Programmen der renommierten Verlage keinerlei Beachtung.

Max (Maximilian Albert) Dauthendey wurde am 25. Juli 1867 in Würzburg geboren. Er war das achte Kind des erfolgreichen Fotografen und Geschäftsmanns Carl Albert Dauthendey (1819–1896) – ein Pionier der Fotografie in Deutschland. So führte er als erster die Daguerreotypie in Deutschland ein; davor war er sogar jahrelang als Porträtfotograf am Zarenhof von St. Petersburg tätig. Der fantasiebegabte Max verlebte in Würzburg eine glückliche Kindheit, die allerdings 1873 durch den frühen Tod der Mutter Caroline Dauthendey (ein Kind deutscher Kolonisten in St. Petersburg) getrübt wurde. Seine schulischen Leistungen waren wohl eher bescheiden, allein zu den schönen Künsten fühlte sich der Junge hingezogen.

Der recht autoritäre Vater hatte allerdings ganz andere Pläne; er wollte, dass einer seiner beiden Söhne (neben Max der ältere Sohn Kaspar (geb. 1858)) sein gutgehendes Geschäft in Würzburg weiterführen sollte. Kaspar erlernte auch den Fotografenberuf, entzog sich jedoch dem Vater und dem unliebsamen dreijährigen Militärdienst durch eine Flucht in die USA, wo er 1885 Selbstmord beging. Blieb allein Max für die Übernahme des väterlichen Geschäfts – doch der wollte lieber Dichter und Maler werden. Mit einer mehrmonatigen Reise durch Mitteldeutschland im Frühjahr 1886 versuchte der Vater, der ein leidenschaftlicher Technik-Verehrer war, ihn noch umzustimmen. Tatsächlich fügte sich Max nach seiner Rückkehr dem väterlichen Willen und begann eine Fotografenlehre. Gewissermaßen als Kompromiss tolerierte der Vater zunächst bis zu einem gewissen Grad („Nebenbeschäftigung“) die künstlerischen Ambitionen des Sohnes, doch der Konflikt war nur aufgeschoben. Im Frühjahr 1889 ergab sich die Möglichkeit – Max nutzte ein dreimonatiges Volontariat in einer Genfer lithografischen Anstalt zur Flucht nach Russland zu seinen mütterlichen Verwandten, wo er immerhin ein halbes Jahr blieb. Nach der Rückkehr kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Vater, die schließlich zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch des Sohnes führten. Daraufhin sah sich der Vater veranlasst, den „unverbesserlichen Träumer“ kurzzeitig in eine Nervenheilanstalt einzuweisen. Freunde brachten ihn schließlich auf den Würzburger Gutshof „Neue Welt“ der befreundeten Malerin Gertraud Rostosky. Nach seiner Genesung begann Dauthendey mit seinem Roman Josa Gerth (1892), dessen Handlung auf dem Gutshof angesiedelt war. Der Erstling stand in der Nachfolge von Jens Peter Jacobsens (1847–1885) psychologischem Entwicklungsroman Niehls Lyne und blieb über Jahre hinweg die einzige Prosadichtung Dauthendeys.

Inzwischen, im Dezember 1891, war es zum endgültigen Bruch mit dem Vater gekommen, der enttäuscht zurückblieb, während der inzwischen 24-jährige Sohn völlig mittellos nach Berlin floh. Dort wollte er endlich seinen langgehegten Wunsch nach einer Schriftstellerkarriere verwirklichen. Aber bereits nach zwei Wochen musste er den Vater in einem Brief um Geld bitten. Dieser sicherte ihm eine monatliche Unterstützung zu, um wenigstens die materielle Existenz des Sohnes abzusichern. Die Geldsorgen sollten aber eine lebenslange Begleiterscheinung bleiben.

In Berlin wurde Dauthendey mit den geistigen Umwälzungen der damaligen Zeit konfrontiert; außerdem fand er schnell Anschluss an Künstlerkreise. So machte er später die Bekanntschaft von Richard Dehmel (1863–1920) und Stefan George (1868–1933), dessen Kreis er zeitweilig nahestand. Darüber hinaus unternahm Dauthendey in den folgenden Jahren zahlreiche Reisen, die ihn unter anderem nach München, Paris, London,  Zürich und Skandinavien führten. Wie ein freier Schriftsteller (oder mittelloser literarischer Vagabund) zog er quer durch halb Europa, mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten. In Schweden lernte er die Kaufmannstochter Annie Johanson kennen. Die beiden heirateten im Mai 1896 auf der englischen Kanalinsel Jersey und zogen anschließend nach Paris. Vier Monate nach der Hochzeit verstarb sein Vater. Dessen Erbe ermöglichte dem jungen Paar über einen gewissen Zeitraum hinweg ein fast sorgenfreies Leben. Dauthendey floh mit seiner Frau in die Ferne. Sie bereisten 1897/98 Nordamerika von New York bis Vera Cruz (Mexiko) und waren getragen von Auswanderungsplänen und dachten an eine Existenz als Landwirte. Die Reise verzehrte das väterliche Erbe jedoch schnell; außerdem wurde dem ansonsten wirklichkeitsfremden Dauthendey schnell klar, dass Mexiko nicht das Zauberland war, für das er es gehalten hatte. Zum Dichten brauchte er die Geborgenheit daheim. Eilig kehrte das Paar wieder nach Europa zurück, wo in den folgenden Jahren vor allem sein geliebtes Paris zur wichtigsten Lebensstation wurde.

Dauthendey lebte immer wieder von der Unterstützung seiner Freunde, fielen seine Honorare doch meist sehr spärlich aus. Er vertrat sogar die wichtigtuerische Meinung, die Bürger eines Landes seien zum Unterhalt ihrer Dichter geradezu verpflichtet. Überhaupt war es für die Bohemiens der damaligen Zeit schlicht unehrenhaft, sich auf bürgerliche Weise den Lebensunterhalt zu verdienen. Strotzend vor Selbstbewusstsein hatte Dauthendey 1897 aus Mexiko geschrieben: „Ich bin deutscher Schriftsteller und habe in Europa in Petersburg, Berlin, München, London, Stockholm, Paris, Venedig und Sizilien Literatur, Malerei und Musik studiert.“ Dabei war Annie all die Ehejahre damit beschäftigt, Geld für den Lebensunterhalt und die vielen Reisen ihres Dichtergatten zu beschaffen. Dieses Engagement wusste Dauthendey durchaus zu schätzen: „Sie hat immer gesorgt, solange sie konnte, dass ich reichlich vom Verlag und Freunden Geldsendungen erhielt, wovon sie selten nur ein wenig für sich behielt. Sie erscheint mir wie eine Heilige.“

Neben dem Roman Josa Gerth hatte Dauthendey in den 1890er und 1900er Jahren zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht – von Regenduft (1893) über Ultra-Violett (1893) und Singsangbuch (1907) bis zu Weltspuk (1910). Seine rhythmische Lyrik wurde bereits zu Lebzeiten dem literarischen Impressionismus zugerechnet. Die poetische Gestaltung der sinnhaften Eindrücke wurde von Farben, Tönen und Düften bestimmt und brachte Dauthendey die Bezeichnung „Farbendichter“ (Dehmel) ein.

Morgenduft

Schwergebogen nasse Äste,
Trübe Aprikosenblüten.
Unter tiefen Wolken schleichen
Feuchte Wege.
Aschenweiche tiefe Wälder,
Kahle perlenmatte Fjorde,
Kaltes Schilf. Auf glasigem Grunde
Spielen scheue Rosenmuscheln.

oder

Auf meinem Schatten kühl ich saß

Und legte mein Gebein ins Gras,
Mein Auge stieg zum Grün und Blauen
Und tat aus Wolken Häuser bauen.
Und Menschen setzte ich hinein,
Schrieb Schicksale in Hände ein,
Und ließ die Menschen lachen, küssen,
Bis sie aus Wolken fallen müssen.

Darüber hinaus war die innige Liebe zu seiner treuen Gefährtin Annie ein großes Leitmotiv seiner Lyrik:

Alles wird wertlos

Als ich Abschied nahm von deinem Mund,
Hielt mich noch dein Haar wie Arme fest;
Ich ward stumm von der Stille jener Stund,
Und von deiner Träne blind,
Die mich nicht mehr verläßt.
Wenn du mich verläßt,
Kann mein Herz nicht fliegen,
Und sitzt wie ein nasser Vogel im Nest.
Sonst seh ich in alle Kammern hinein,
Doch wenn du mich verläßt,
Steh ich an Türen von Stein.
Alles wird wertlos,
Auchʼs Gold in der Hand,
Und die Sehnsucht führt mich
Hinkend durchs Land.

Stefan George lobte zunächst die Gedichte seines Dichterkollegen, sie „seien das einzige, was jetzt in der ganzen Literatur als vollständig Neues dastehe … eine eigenartige Kunst, die reicher genießen lasse als Musik und Malerei, da sie beides zusammen sei.“ Als sich Dauthendey später mehr einer volksliedhaften Lyrik, ja sogar dem Bänkelsang zuwandte (Bänkelsang vom Balzer auf der Balz (1905)), legte sich Georges Begeisterung jedoch. Wesentlich grotesker äußerte sich dagegen Otto Julius Bierbaum (1865–1910):

So was ist noch nicht dagewesen! Dieser Mann nimmt ein geschliffenes Crystallglas, steckts in den Mund, zerbeißt es, spuckt die Splitter auf den Tisch und murmelt verklärt: Sehet her und Staunet an, ich habe die alte Form überwunden, und eine neue liegt vor euch, die so schön ist, daß Indianer vor Seligkeit darüber weinen müßten! … Sämtliche Setzer, die die Werke Maximilians gesetzt haben, sind in der Blüte ihres Mannesalters tobsüchtig geworden … Maximilian selber aber ist ganz gesund.

Dauthendey, der wie viele andere europäische Künstler seiner Zeit Sehnsucht nach dem ‚Fernen Osten‘ verspürte und der für sein Dichtertum stets Anregung brauchte, verließ Ende 1905 erneut Europa und trat – dieses Mal allein – seine erste Weltreise an. In nur sieben Monaten bereiste er Ägypten, Indien, Ceylon, China, Japan, Honolulu und schließlich die USA. Zu Füßen der Pyramiden, des Himalayas, Bombay, Delhi, Kalkutta, die Zimmetgärten von Colombo, die chinesischen Gärten – ein überaus modern anmutendes Reiseprogramm. Welttourismus vor 100 Jahren.

Mit vielen fremden Eindrücken hatte die ausgedehnte Reise alle Erwartungen Dauthendeys erfüllt, obwohl er „den Fluch des Reisens“ beklagte: „Hast du aber den Ort einmal reisend mit deinem Leib erreicht und wirkliche Tage dort erlebt, so bist du dem Gefängnis der Wirklichkeit verfallen.“ Zurück im heimischen Würzburg erwachte jedenfalls neue Schaffenskraft und er machte sich voller Elan an die Verarbeitung seiner Erlebnisse und Eindrücke. Wichtigstes Ergebnis dieser literarischen Ausbeute war das Versepos Die geflügelte Erde – ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere (1910). Das lautmalerische und synästhetische Großgedicht verband auf fast 500 Seiten „Erzählen“ und „Dichten“ in einer „eigenartigen Mischung aus Odyssee und Reisetagebuch“ (Peter Sprengel), wobei manche Gedichtüberschriften wie Baedeker-Titel wirkten. Die exotischen Reiseschilderungen in rhythmischer Prosa waren Dauthendeys umfangreichste Dichtung. Bemerkenswert daran sind die extremen Langzeilen in der Tradition von Walt Whitman. Dauthendey experimentierte hier mit wechselnden und ausgeklügelten End- und Binnenreimen, wodurch mitten in den freien Prosalangzeilen ein lyrischer Ton entstand, wie das Beispiel Das Geisterheer beweist:

Mein Ohr hat Tag und Nacht in Delhi vor Sturm gewacht und konntʼ die Ruhʼ nie finden,
Stets heulte Aufstand und der Geist von einer Schlacht in dem Gejohlʼ von Winden.
Stets las ich Tafeln voll von toten Namen auf den Ruinenwegen,
Und hochgewachsen kamen finstere Indier, in ihren Mienen drohend, dir entgegen.

Wie Dauthendey später selbst ausführte, stellte er „die Reimworte mitten in die Zeilen, um so die im Takt schreitenden Schritte der Wandernden ertönen zu lassen“, auch die „Heranziehung von wechselnden Vergleichen und Bildern des Naturlebens“ war die Folge eines nun befreiten Weltblickes. Mit Die geflügelte Erde wollte Dauthendey den daheimgebliebenen Lesern und im Besonderen seiner Frau die fernen Wunder des Ostens (oder gleich der ganzen Erde) in lyrischer Form nahebringen. Für seine opulente Reisedichtung hatte der nicht immer bescheidene Dauthendey sogar mit dem Literatur-Nobelpreis gerechnet. Als 1913 Rabindranath Tagore die Auszeichnung erhielt, forderte er einen „asiatischen Nobelpreis“: „Ich bin überhaupt in Asien bekannter als in Europa. […] Schade, dass es in Asien keinen Nobel-Preis gibt. Wenn Europa dem Inder Rabindranath den Preis gab, müsste eigentlich Asien mir den Preis dann geben.“

Eine weitere literarische Ausbeute seiner Weltreise waren einige Novellen, die in zwei Bänden Lingam. Asiatische Novellen (1909) und Die acht Gesichter am Biwasee (1911) veröffentlicht wurden. Es sind farbenprächtige, unterhaltende Miniaturen in impressionistischer Manier, deren Handlungsorte auf Ceylon, in Indien, Malaysia, Indonesien, China und Japan lagen, und die das erwachte Interesse der deutschen Leser an der fernöstlichen Welt bedienten. In Asiatische Novellen griff Dauthendey klischeehafte Vorstellungen von Geishas, Samurais, Rikschafahrern, Wasserverkäufern oder Hindumädchen auf, während sich die Japan-Erzählungen Die acht Gesichter am Biwasee an den Farbholzschnitten des japanischen Meisters Utagawa Hiroshige (1797–1858) orientierten. Die Bildtitel dieser Farbtafeln hatte er sogar als Überschriften für seine Erzählungen übernommen.

Außerdem versuchte Dauthendey in diesen Jahren mit verschiedenen Stücken am Theater Fuß zu fassen. Bühnenerfolg hatte er jedoch nur mit dem Versdrama Die Spielereien einer Kaiserin (Uraufführung 1910 im Münchner Schauspielhaus mit Tilla Durieux), das die Geschichte der russischen Zarin Katharina über einen Zeitraum von 25 Jahren – von der Marketenderin bis zur Alleinherrscherin – behandelte. 1929 erfolgte sogar eine Verfilmung mit der bekannten Schauspielerin Lil Dagover in der Hauptrolle.

Nach fast 20 Jahren (Josa Gerth) versuchte sich Dauthendey wieder an einem Romanprojekt: Raubmenschen (1911) – ein recht eigentümlicher Roman um einen deutschen Geheimdiplomaten, der sich neben poetischen Schilderungen mit der mexikanischen „Raubwelt“ auseinandersetzt. Anspruchsvoller und durchaus noch lesenswert sind seine beiden autobiografischen Schriften. In dem Lebensbild Der Geist meines Vaters (1912) zeichnete Dauthendey anhand der Tagebuchblätter und Erzählungen seines Vaters die Geschichte seiner Familie nach. Noch einmal griff er dabei den Vater-Sohn-Konflikt auf; doch diese „Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert“ waren zugleich eine Art Versöhnung mit dem Vater. Die beiden Bände Gedankengut aus meinen Wanderjahren (1913) waren dagegen eine Rechenschaft über seine bisherige Entwicklung, vermischt mit Schilderungen über die geistige Atmosphäre vor der Jahrhundertwende, in der er zum Dichter wurde.

Die Jahre nach seiner ersten Weltreise waren für Dauthendey eine enorm schöpferische Phase gewesen: Gedichtbände, Dramen, Novellen, Romane und Autobiografien waren entstanden. Die finanzielle Lage hatte sich durch die Honorare etwas gebessert, sodass er im Würzburger Stadtteil Steinbachtal (am Guggelesgraben) ein Grundstück kaufte und mit Geld von gutwilligen Freunden ein Wohnhaus bauen ließ. Im Frühjahr 1913 konnte das Eigenheim bezogen werden, doch langanhaltende Regenfälle vermiesten ihm bald die Freude an seinem „Waldhaus“. Neuerliche Unrast und Reiselust packten ihn. „Um recht lange vor dem deutschen Bindfadenregen bewahrt zu bleiben“, brach Dauthendey im April 1914 schließlich zu seiner zweiten Weltreise auf – mit finanzieller Unterstützung des Norddeutschen Lloyd und des Albert Langen Verlags, der mit dem Interesse seines Lesepublikums an exotischer Literatur spekulierte. Die Weltreise führte ihn nach Ostasien mit den Stationen Sumatra, Java und ins damalige Deutsch-Neu-Guinea. Im September wollte er wieder in Deutschland sein, doch auf der Rückreise wurde er vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht. Jetzt geriet der Dichter, der sich immer aus der Politik herausgehalten hatte, in die Kriegswirren, die ihm die Rückkehr nach Deutschland verwehrten. Kein Schiff nahm deutsche Staatsbürger mehr an Bord, da diese in internationalen Gewässern von den Engländern gefangen genommen worden wären. Viele deutsche (Gerhart Hauptmann) und internationale Schriftsteller (Romain Rolland), selbst der Engländer George Bernhard Shaw, setzten sich für ihn ein. Vergebens, restriktive Kriegsgesetze vereitelten es. Vier Jahre verbrachte der „Ausländer“ Dauthendey an wechselnden Orten, teilweise in niederländischer Internierung. In dieser Zeit entdeckte er seine malerische Leidenschaft wieder und schuf zahllose Aquarelle. Außerdem entstanden die beiden Versdichtungen Des großen Krieges Not (1915) und Das Lied der Weltfestlichkeit (1917). Selbst hier im Gefangenlager trat noch einmal sein Glaube an die „Weltfestlichkeit“, nach der alle Menschen der Welt innerlich verbunden sind, zutage.

Vier Jahre kämpfte Dauthendey mit der Not, der Tropenhitze und fiebrigen Malariaanfällen, immer hoffend, doch noch auf ein rettendes Schiff zu kommen. Dazu das ständige Heimweh und die verzehrende Sehnsucht nach seiner Lebenskameradin Annie („Von dir getrennt muß ich durch diesen Tropengarten gehen“). Kurz vor Ende des Krieges, am 29. August 1918, starb er im Alter von 51 Jahren in Malang auf Java (damals Teil des niederländischen Kolonialreichs). Annie Dauthendey verwaltete über ein Vierteljahrhundert das literarische und bildnerische Erbe ihres Mannes. So sorgte sie für die postum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen Die Erlebnisse auf Java (1924) und Letzte Reise (1925) sowie die Briefauswahl Mich ruft dein Bild (1930), die allesamt auf eine wohlwollende Resonanz bei Kritikern und Lesern stießen. Auf Initiative der Stadt Würzburg und unter Mithilfe der Stadt Malang gelang es Annie Dauthendey, im Mai 1930 die sterblichen Überreste ihres Mannes in seine Heimatstadt überführen zu lassen, wo sie im Garten des Luitpoldmuseums feierlich beigesetzt wurden. 1951 verlegt man seine letzte Ruhestätte schließlich auf den Würzburger Hauptfriedhof.

Annie Dauthendey hatte übrigens neben dem Nachlass (Briefe und Tagebücher) auch rund 300 Aquarelle aus der Internierungszeit ihres Gatten mit nach Deutschland bringen können. Ein Großteil ging jedoch im Zweiten Weltkrieg verloren, denn Annie ereilte ein ähnlich tragisches Schicksal – auch sie erlebte das Ende eines Krieges nicht mehr: Sie kam im Februar 1945 im alliierten Feuersturm von Dresden ums Leben.

Max Dauthendey gehörte zu den bedeutendsten Vertretern des Impressionismus in Deutschland, der sich in zahlreichen Literaturgattungen – Lyrik, Prosa und Drama – versuchte, wobei er in der Verknüpfung von Lyrik und Prosa seinen persönlichen Stil gefunden hatte. Mit seinen eigenwilligen Schöpfungen brachte er einen neuen Ton in die Lyrik, dabei ging es ihm weniger um eine realistische Wiedergabe der Natur, sondern um eine dichterisch gestaltete Wahrnehmung. Mit seiner virtuosen Sprachbegabung und intensiven Gefühlseindrücken schuf er Wortkunstwerke, in denen er Naturversunkenheit, Fernweh und Heimatsehnsucht zum Ausdruck brachte – Walter Benjamin sprach 1933 von einer „Exotik des Jugendstils“. Wie Paul Gauguin (Samoa), Emil Nolde (Rabaul) oder Henri Matisse (Marokko) in der Malerei suchte der umtriebige Dauthendey als Schriftsteller (und Maler) in der Ferne neue Inspiration, sah aber in der fernöstlichen Kultur nicht nur ein Ideal seiner eigenen Geisteshaltung, sondern auch ein Gegenbild zu Europa. Den politischen und gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit war Dauthendey jedoch in seinen Werken ausgewichen, ganz im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Frank Wedekind, Erich Mühsam, Peter Hille oder Richard Dehmel.

Abschließend soll auf zwei bescheidene, aber dafür verdienstvolle Publikationen hingewiesen werden. Bereits im Vorjahr erschien im trafo Literaturverlag Berlin mit Die Lichter dunkeln eine umfangreiche Auswahl von Dauthendey-Gedichten. Auf 280 Seiten sind Gedichte aus insgesamt zehn Lyrikbänden des Autors versammelt, von Ultra Violett bis zu Des großen Krieges Not. Kriegsgedichte und Lieder der Trennung – ergänzt durch das Gedicht Anfang und Ausgang aus dem Band Die geflügelte Erde. Neben dieser repräsentativen Auswahl muss das umfangreiche Nachwort Weltfestlichkeit und Heimweh des Herausgebers Klaus Kühnel erwähnt werden, das auf 40 Seiten Einblicke in Leben und Werk Max Dauthendeys gewährt – unter anderem mit einigen historischen Abbildungen. Kühnel beleuchtet dabei mit „Weltferne“ und „Weltnähe“ die beiden Seiten Dauthendeys: „Die Sehnsucht nach Weltnähe kann nur entstehen, wenn man der Welt fern ist.“ Daneben verweist er auch auf Dauthendeys Bemühungen um das literarische Kabarett, beispielsweise auf seine Veröffentlichungen in der satirischen Zeitschrift Simplicissimus.

Das Bändchen No. 9 der edition im STAUBLAU präsentiert die kleine Erzählung Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen aus dem Novellenband Die acht Gesichter am Biwasee. Der Künstler Oizo soll für die kaiserliche Prinzessin den Flug der Wildgänse in Form eines bestimmten japanischen Schriftzeichens an die Wände ihres Saales malen. Doch nur in Katata am Biwasee bildet sich zwischen Himmel und Erde dieses wunderbare Schriftzeichen aus der Flugformation der Gänseschar. Ohne jeden Hinweis und Orientierungspunkt ist Oizo zunächst völlig ratlos, bis ihm Graswürzelein, die Tochter eines Töpfers, zu Hilfe kommt. Die Geschichte endet schließlich in einer versteckten Liebeswerbung. In ihrem Nachwort TEXTE lesen wie sind versucht die Herausgeberin Uta Fleischmann, diese zentrale Botschaft der Erzählung herauszuarbeiten. Ein weiterer Aspekt ist die Schwierigkeit, Natur in und mit der Sprache abzubilden, was wohl nur mit japanischen Schriftzeichen gelingt. Das Gedicht Immer Lust an Lust sich hängt (1909) und die Versdichtung Der alte Baum am Biwasee (1910) komplettieren die Neuerscheinung. Klappencover, Fadenheftung sowie zwei Farbzeichnungen des niederländischen Malers Wim Heesen sorgen zudem für eine äußerst ansprechende Erscheinung.

Die beiden lobenswerten Veröffentlichungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Interesse an Max Dauthendey schwindet. Sein Dichterkollege Richard Dehmel hatte zwar prophezeit: „Du bist der Rhapsode des seligen Überflusses, Deine Stimme jubelt nach Jahrhunderten noch“, doch die letzte (und einzige) sechsbändige Gesamtausgabe seiner Werke erschien 1925 im Münchner Albert Langen Verlag. Abgesehen von der englischsprachigen Ausgabe Poet-Philosopher (1936, H. G. Wendt) und der Dissertation Mensch und Werk (1937, Wilhelm Kraemer) zeichnete nur Sieben Meere nehmen mich auf (1957, Hermann Gerstner) ein Lebensbild des Dichters. Eine zeitgenössische Biografie? Fehlanzeige seit über einem halben Jahrhundert. Selbst Dauthendeys anerkannte Lyrik ist kaum noch anzutreffen. So sucht man ihn in den beiden Bänden (immerhin 998 Seiten) von Reclams Buch der deutschen Gedichte (2017) vergeblich, und in den letzten Ausgaben des Echtermeyer wurden seine Gedichte getilgt. In seiner Heimatstadt Würzburg löste sich 2015 die 1934 gegründete Dauthendey-Gesellschaft auf. Max Dauthendey – ein vergessener Dichter der Moderne? Fast möchte man sich wünschen: Lest wieder Dauthendey!

Leben heißt Sehnsucht verehren

Über den leeren mächtigen Bäumen
Hängen die schmächtigen Sterne,
Umdrängen den Mond im Kreise.
Sehnsüchte leben auch in den prächtigen Himmelsräumen,
Und auch Gestirne kommen aus ihrem Geleise.
Keine Sonne, kein Stern kann sich der Sehnsucht erwehren,
Alle Leben leiden und lachen auf gleiche Weise.
Leben heißt Sehnsucht verehren;
Niemals der Tod, die Geliebte allein kann dir Ruhe bescheren.

Kein Bild

Max Dauthendey: Die Lichter dunkeln. Ausgewählte Gedichte.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Kühnel.
trafo verlag, Berlin 2017.
342 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783864650871

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Titelbild

Max Dauthendey: Der Wildgänse Flug.
Illustriert von Wim Heesen. Herausgegeben von Uta Fleischmann.
Isensee Verlag, Oldenburg 2018.
40 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783730814345

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