Das Vertraute, aber anders

Josef Winkler arbeitet seine Geschichte unter anderen Bedingungen um

Von Inge ArteelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Inge Arteel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 2015 die Biografie des hochrangigen Nationalsozialisten Odilo Globocnik erschien, war für den Autor Josef Winkler (geb. 1953) sofort klar, dass sich ein nächstes Kapitel in der literarischen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte aufdrängte: Die von Johannes Sachslehner rekonstruierte Biografie von „Hitlers Manager des Todes“ erzählt, wie dessen Leiche, nachdem Globocnik mit einer Giftkapsel Suizid begangen hatte, 1945 von britischen Militärs heimlich auf einem Acker in unmittelbarer Nähe von Winklers Kärntner Elternhof begraben wurde. Als eine wirklich unerhörte Begebenheit regte dieses verschwiegene Faktum die literarische Verarbeitung in Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe an. An der aufgedeckten Tatsache interessiert den Autor nicht so sehr deren historisch-dokumentarische Relevanz, sondern die erstaunliche Realität, dass in seinem Heimatdorf niemand darüber gesprochen hat.

Auch in diesem Buch kehrt Josef Winkler also in das kreuzförmig angelegte Heimatdorf Kamering zurück, in dem sich die Auseinandersetzung des Erzählers mit der Geschichte immer wieder vollzieht. Die Stationen dieser Geschichte sind zur Genüge bekannt: die bäuerliche Familiengeschichte und deren prägende, gewalttätige Kraft, die ehemalige Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, das Nachleben der nationalsozialistischen Gesinnung, die individuellen Ausbruchsversuche des Erzählers – in der Leidenschaft für Lesen und Schreiben, in sinnlicher Lust und Sexualität, in den vielen Reisen – aber auch die wiederholte Rückkehr in den elterlichen Hof. Mehrere für Winkler-Leser bekannte biografische Anekdoten und Geschichten, Urmomente und Kernszenen aus der Winkler’schen literarisierten Biografie, tauchen auch hier wieder auf, nicht selten in wörtlicher Wiederholung. Gerade aber die unerhörte Begebenheit, die den Motor dieses neuen Buchs bildet, erzwingt Variationen und Verschiebungen in der wiederholenden Bewegung.

Hier liefert nicht so sehr die bekannte kreuzförmige Topografie des Dorfes den räumlichen Rahmen; der Raum dieses Buches ist das von den Dorfbewohnern „Sautratten“ genannte Gemeinschaftsfeld des Dorfes, worauf mehrere Bauern – unter ihnen auch der Vater des Erzählers – Getreide anbauen und worin einst die Leiche des Globocnik verscharrt wurde. Als Feld für den Ackerbau des Vaters, aber auch als Spielplatz der Kinder, als Grundstück neben dem Hof des Onkels Hermann und als Station auf dem Fußweg ins Nachbardorf bilden die Sautratten das räumliche Konzentrat, von dem die Erzählstränge ausgehen und zu dem sie immer wieder zurückkehren. An diesem Acker interessiert vorwiegend dessen Erde, da diese – daran lässt der Erzähler keine Zweifel – von der Leiche des Nazitäters verseucht und von dessen Skelettresten durchsetzt ist.

Die Erde der Sautratten ist das konkrete Motiv dieses Romans: die Erde, die sich mit dem Getreide vermischt, die Erde, die an den Schuhen klebt, die Erde unter den Fingernägeln des Vaters. Die Ausarbeitung dieses Motivs lässt sich allegorisch lesen, als Sinnbild für das Verscharren und Verschweigen der verbrecherischen Vergangenheit, die im Untergrund weiterwuchert und unweigerlich einmal wieder hochkommt. Aber der Roman besticht auch in der taktil-materiellen Darstellung dieser Ungeheuerlichkeit. Der tägliche handgreifliche und routinemäßige Umgang mit der Erde und dem Feld, um dessen Geheimnis man nicht weiß oder nicht wissen will, macht den Erzähler im Nachhinein fassungslos: Als Kind hat auch er, unwissend und unaufgeklärt, diese Erde angefasst; das Brot, das mit dem Getreide der Sautratten gebacken wurde, hat auch er gegessen.

Die Empörung über das Verschweigen treibt die Erzählung voran. Der Erzähler zieht vor allem seinen verstorbenen Vater ob dessen Schweigen zur Rechenschaft. Mit einer emphatischen Aufforderung zum Geständnis fängt das Buch an und sie wird im Laufe des Textes mehrmals variiert: „Lieber Tate! Böser Tate! Warum hast du geschwiegen, warum hast du es wohl verschwiegen, du mußt es gewußt haben, gib’s zu, mein Tate“, „warum hast du diese Leiche vor uns verleugnet“. Der Sohn verurteilt das Schweigen des Vaters, versucht aber auch, dessen Gründe herauszufinden und zu verstehen. Obwohl er den Vater nach wie vor mit unnachgiebigen Fragen und unbequemen Wahrheiten konfrontiert, beschreibt er öfter als in älteren Texten die Erinnerungen an prekäre Momente der Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn.

Durch die kontinuierliche direkte Anrede gestaltet sich das Buch als eine Art Brief an den Vater, als eine umfangreiche Apostrophe und Heraufbeschwörung des toten Vaters, dessen Sohn verzweifelt auf eine Antwort drängt. Die informelle Anredeform „Tate“, „mein Tate“, signalisiert eine alte Vertrautheit und Nähe, die der Sohn im Medium des Briefs wiederherzustellen versucht. Auch der Titel enthält im ersten Teil eine informelle Anrede; er verwendet mit dem Verb „heimgeigen“ den dialektalen Ausdruck einer abschätzigen Rüge und situiert die Zurechtweisung in einem intim-familiären Kontext.

Das Netz der nationalsozialistischen Familie, in das der Vater sich „feige“ fügt, wird in diesem Vaterporträt ausführlich dargestellt. Mit seinem Bruder Franz als ehemaligem SS-Mitglied und seinem Schwager Hermann mit dem „Hitlerbärtchen“ bildet er ein „Trio der Kriegsveteranen“, das sich ein paar Mal pro Jahr mit nostalgischen „Kriegsgeschichten und Hetzereien“ gegen „Zigeuner und Juden“, gegen „Kriminelle“ und „Arbeitsscheue“ hervortut. In den letzten Abschnitten des Buchs wird diese Konstellation von Winkler zu einer fantastisch-grotesken Szenerie ausgearbeitet. Zu Allerheiligen treffen sich die drei „Kriegsberichterstatter“ in der Küche des Elternhauses des Erzählers. Während sie einander mit ihren Geschichten aufhetzen, kocht die Mutter des Erzählers eine Fritattensuppe mit den „Odilo-Globocnik-Knochen, die der Hitlermaulwurf Onkel Hermann bei seinen unterirdischen Gängen durch die Sautratten aufgegabelt hatte“. Nachdem sie die Suppe gegessen haben, verfallen sie dem Wahnsinn und tanzen schließlich im Kreis „auf den Sautratten über den Skelettresten von Odilo Globocnik“.

In den grotesken Ritualen des Leichenschmauses und des Totentanzes wird nichts verdaut noch beschworen, im Gegenteil. Vielmehr tut sich ein Kontinuum zwischen dem Skelett und den Nachlebenden auf. Das Gift des verscharrten Nazitäters hat nicht nur den Boden verseucht, sondern auch das Gehirn der drei Mitläufer auf immer erweicht – das Stichwort „Kreuzfeld-Jakob-Krankheit“ ist ein auffallend klinisches Element in dieser Groteske. Ihr verbales Randalieren beschließt das Buch und ihr letzter Satz, „Ich bin und bleibe beileibe ein Österreicher!“, klingt wie die ominöse Drohung des Immergleichen.

Josef Winklers neues Buch ist eine Wiederholung unter anderen Bedingungen. Die bekannte(n) Geschichte(n) seiner Herkunft wird/werden in diesem Buch wörtlich neu grundiert: Im Untergrund befindet sich ein Skelett, das symbolisch und konkret zugleich die Nachwelt verseucht. Winkler macht diese andere Bedingung von Anfang an sichtbar und präsent: In das Erzählen der bekannten Anekdoten wird immer wieder das Skelett des Nazitäters eingefügt. Winkler steckt das eigene Narrativ anachronistisch mit dem neuen Wissen an, indem sein Erzähler das Vergangene genau zu fassen versucht und zugleich das ehemalige Geheimnis offen einsetzt. Der Erzähler bringt das neue Wissen in die alte Geschichte ein und stellt es dadurch aus: Das Skelett wird monströs ausgebreitet, es durchsetzt den ganzen Text, so wie dessen Knochen das Feld durchsetzen. Ein Beispiel von vielen: „Nach der Erdäpfelernte haben wir das trockene Erdäpfelkraut über dem Skelett von Odilo Globocnik angezündet“.

Das Skelett ist zwar ein Fremdkörper, aber zugleich auch ein vertrauter Körper, der nahtlos zu der bestehenden Gesinnung und Geschichte passt, so wie er sich auch nahtlos in die Grammatik der Sätze einfügt. Das Wissen um das Skelett bringt an sich also keine Überraschungen zutage und das Verschweigen seiner Existenz in der Nachkriegszeit mag ebenso wenig verwundern wie der Versuch des Vaters, die Hakenkreuzfahne von den Familienfotos abzukratzen. Vielmehr liegt die Ungeheuerlichkeit darin, dass es ein bleibender Rest ist, der das Weiterleben bedingt: Die drei Randalierer lassen den Nazitäter am Ende des Buchs begeistert hochleben. Damit erklärt sich auch die Notwendigkeit dieses Buchs, das kein neues, sondern ein nächstes Kapitel der literarisierten Geschichte ausmacht. Das wiederholte Durcharbeiten lässt nichts verschwinden – im Gegenteil, es bringt noch einmal sehr konkret zur Sprache, was schon immer da war.

Titelbild

Josef Winkler: Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
195 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427965

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