Tristesse Royale

Der Roman „Wie bin ich denn hierhergekommen“ des Lyrikers Dirk von Petersdorff erzählt von Ereignislosigkeit

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie bin ich denn hierhergekommen?“ fragen sich die Protagonisten in Dirk von Petersdorffs gleichnamigem neuem Roman. Anna, Doris, Tim und Johannes eint, dass sie bald ihren vierzigsten Geburtstag feiern werden. Ansonsten trennt sie mehr als sie eint. Während der Träumer Johannes vom Erbe der Eltern lebt, nur befristete, kleinere Jobs ausführt und „Berufsideen entwickelt“, beginnt Doris eine Tischlerlehre und verschwindet aus den Augen der anderen. Tim macht im Großraumbüro Karriere mit einer Dating-App. Seine Frau Anna hat gerade ihren Mutterschutz verlängert. Ihr Sohn Elias ist noch im Kindergarten. Ein „absehbarer Lebenslauf einer Langeweilerin“, erschrickt Anna, flüchtet in Sport und joggt vor ihren Gedanken davon, während Tim zu Kongressen fliegt. So driftet auch das Ehepaar auseinander. Vier Freunde gehen unterschiedliche Wege im Leben und werden sich fremd.

Doch dann passiert: Nichts. Die Figuren geraten nur gedanklich ins Schleudern, träumen und fragen sich, was sie bisher in ihren Leben erreicht haben, was sie noch erreichen wollen und ob ihre Ziele von früher noch immer Bestand haben. Befindet man sich neben der Spur oder im Strom der deutschen bürgerlichen Mittelschicht – und was ist besser? Wer ist „drinnen“ im Leben, wer ist „draußen“ – und was bedeutet das, überlegen Johannes und Tim. Und sollte man auf eine Karriere nicht lieber verzichten, weil man sich „weiter unten eigentlich wohler“ fühlt? Sie überlegen nur. Im gesamten Roman werden keine Konsequenzen gezogen. Die zögerlichen Versuche von Johannes, eine feste Anstellung zu finden, seine Schwärmerei für die blonde, schöne Anna, ihre aufflammende Lust oder auch der berufliche Betrug von Tim mit einer erfundenen Marktanalyse bleiben Andeutungen. Tim verliert seine Anstellung nicht, Anna vollzieht den Ehebruch nicht, Johannes denkt nur nach und wird somit nicht zu Tims Antagonisten, Doris erscheint bis zum Ende des Romans nur in Erinnerungen.

Die „Hauptmedizin gegen die Gedankenschleifen“ und die immer lauter werdenden Ängste und Sorgen ist für alle Protagonisten die „Flucht in die Vergangenheit.“ In der Schule lasen sie Siddhartha und wollten die Welt erobern und verändern. Nun schauen sie DVDs mit alten Lieblingsfilmen, hören alte Lieder und lesen Briefe von früher. Sie stehen auf den Terrassen, blicken „die Reihe der Gärten hinab“ und haben Magenschmerzen. Sie lassen das „hohe, verzweifelte Piepen“ der Kinderblockflötengruppe über sich ergehen. Die Erinnerungen an vergangene Orte, Zelturlaube, eine Wanderung, an Asterix-Comics, „Atomkraft? Nein Danke“-Aufkleber, Dosenbier, Waffeleis und Froschschenkel in Knoblauchsauce sind ihre Anker, um in der Gegenwart nicht Schiffbruch zu erleiden.

Früher ging es um den Moment, das Streichen der ersten gemeinsamen Wohnung, der Sex im Stehen mit den Händen an der frisch gestrichenen Wand. Anna und Tim erinnern sich an die Leidenschaft und die Augenblicke. Es gibt kein Zurück. Die Vergangenheit kann nicht wiederholt werden. Wenn auf dem Lebensfluss ein Weg eingeschlagen wird, kann man hernach keinen Rückwärtsgang einlegen. Anna sagt sich immer wieder, dass sie glücklich ist – glücklich mit ihrem Sohn, den Einkäufen in Bioläden und dem Grillen mit den Nachbarn: „Das meinten die anderen auch. Was würde Doris sagen?“ Sie versucht, weidwund im Schwedenurlaub die Balance zu halten. Da sie nicht weiß, welche Gedanken ihr Mann sich wegen seiner unsicheren beruflichen Zukunft macht, sieht sie ihn als beschränkten „Hans im Glück“, was ihre eigene Traurigkeit weiter vergrößert.

Im Jahr 2014 veröffentlichte Dirk von Petersdorff seinen Gedichtband Sirenenpop. Auch die Verse darin skizzieren die Herausforderungen des Lebens moderner Mittdreißiger und beschwören die Sehnsucht nach einer vergangenen Jugend. Die Gegenwart des lyrischen Ichs ist von Arbeit, Kindern und Verantwortung geprägt. Der Autor versucht, die facettenreichen Motive seiner Lyrik in den Roman zu übertragen. Doch die in Sirenenpop so faszinierend schnelle Folge von Sinnesmomenten und Gedanken verebbt in der Weite des Romans. Immer wieder flammt die poetische Kraft Petersdorffs auf – wenn beispielsweise Tim und Anna im Hagelsturm einen Schutzwall für ihren Sohn bilden, sich Gedanken in Köpfen zu Jubelschauern verdichten und Tim durchlässig wird für „Wind und Hagel“, „bis an die vier Ecken der Welt“, dann sprüht die Szene vor Energie und enthält wie die Gedichte stets eine Portion Ironie. Es bleibt indes beim kurzen Aufflammen. Deswegen scheint es, als habe der Autor großen Wert auf die poetischen Szenen seines Romans gelegt; die Verbindung der Szenen misslang. So wurde ein Roman veröffentlicht, in dem nichts passiert. Warum?

Jörg Magenau verriss Dirk von Petersdorffs Roman für den Deutschlandfunk. Er frug berechtigterweise, wer so viel Ereignislosigkeit lesen will: „Ist die Leserschaft dieser Art von Literatur zufrieden damit, ein Spiegelbild des eigenen, ereignislos-aufgeräumten Daseins vorgehalten zu bekommen?“ Vielleicht ist es so, dass es in einem Land, das so wohlhabend ist wie nie zuvor, besonders schwer ist, eine „Familie auf Kurs zu halten“, wie es Tim im Roman ausdrückt. Beziehungen werden bei kleinsten Problemen beendet, Wege des geringsten Widerstandes gesucht. Der Generation der „betäubt vor Müdigkeit an einem Cappuccino-Becher“ saugenden, kreislaufverwirrten und möglichst unauffällig lebenden Menschen den Spiegel vorzuhalten, ist zaghafte Gesellschaftskritik – eine Reflexion der Oberfläche. Immerhin erkennt Johannes, dass er auf dem Weg zum „Sonderling“ ist: „Ich werde ein Arthouse-Softie, der E-Mails mit Tiefsinn garniert“. Im Buch ist dieser Satz in Großbuchstaben geschrieben, wie alle Botschaften, die der Autor betonen möchte, um sein Sittenbild zu formen. Die Erkenntnis ist, man laufe nur stumpf herum und verliere sich „in den Dingen“. Es gibt Hoffnung: „Jetzt kam die zweite Welle ihrer Generation auf den Markt, die beim ersten Anlauf Gescheiterten.“ Es ist ein Spiel mit dem Niedergang. Neues Spiel, neues Glück. Vielleicht werden die heutigen Mittdreißiger noch glücklich?

Titelbild

Dirk von Petersdorff: Wie bin ich denn hierhergekommen.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
218 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406726293

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