Kein Wintermärchen

In Julia Decks Roman ,,Winterdreieck“ verliert sich eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst

Von Larissa DehmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Larissa Dehm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht nur dieser Name: Bérénice Beaurivage. Von der Figur eines Filmes von Éric Rohmer übernommen, beschließt eine junge Frau ihn sich fortan zu eigen zu machen. Und im Glauben, auf den richtigen Namen folge mit Sicherheit auch bald die dazu passende Persönlichkeit, navigiert sich die eigentlich namenlos bleibende Protagonistin des Romans durch eine Abfolge zufällig aneinandergereihter Nichtigkeiten.

Von Hafenstadt zu Hafenstadt und Zeitarbeitsvertrag zu Zeitarbeitsvertrag, wobei sie die Sinnlosigkeit des letzteren recht schnell erkennt und das mit der Arbeit lieber ganz sein lässt, hangelt sich die junge Frau durch ihr Leben: scheinbar ohne Ziel – und ohne Ausgangspunkt. In einem Museum trifft sie einen Mann und zieht kurz darauf in sein Hotelzimmer ein. Er ist Schiffsinspektor, mehr erfährt der Leser nicht und nach und nach erhärtet sich der Verdacht, es gäbe über ihn auch nicht viel mehr zu sagen. Sie macht ihm Glauben, sie sei eine bekannte Romanautorin, ganz wie ihr filmisches Vorbild Bérénice und versucht selbst vergeblich diese Fiktion in die Wahrheit umzusetzen. Als er beruflich nach Marseille muss, begleitet sie ihn, obwohl er sie nicht darum gebeten hat. Dort eskaliert die Situation, der Schiffinspektor ist der Verschlossenheit der jungen Frau überdrüssig und versucht sie zu verlassen – doch dies gestaltet sich sehr viel schwieriger als gedacht.

Scheinbar willkürlich entwickelt sich die Handlung und steigert sich bisweilen sogar ins Absurde, da eine Identifikation mit der Protagonistin schwerfällt. Statt in ihre Gedankengänge eingeweiht zu werden, darf der Leser nur an ihren ausufernd detailreichen Studien der sich umgebenden Gebäude und ihrer Architektur teilhaben. Diese sind – wie der Stil des Romans selbst – funktional und klar strukturiert und kommen ohne jegliche Verzierungen aus. Doch Julia Deck gelingt es, gerade durch diese Distanz zwischen Leser und Protagonistin eine Spannung aufrecht zu erhalten und eine Stimmung zu erzeugen, die in ihrer eigentümlichen Kälte und Stumpfheit so befremdlich wirkt, dass man sich davon nicht lösen kann.

Wie seine Handlungsorte wirkt auch der Roman insgesamt ungemein konstruiert. Bereits der Titel verweist auf die Dreiecksstruktur, die sich in wie ein roter Faden durch das Geschehen zieht und auch charakteristisch für die Atmosphäre ist. Nichts ist abgerundet, alles scheint geprägt von harten Kanten und Ecken, an denen man sich stoßen kann, sowohl auf stilistischer als auch inhaltlicher Ebene. Seien dies nun die fehlenden Satzzeichen bei der wörtlichen Rede oder die plötzlichen Wechsel von der Ich-Perspektive in die dritte Person: Der Roman ist in vielerlei Hinsicht unkonventionell. Dennoch oder gerade deswegen lohnt sich die Lektüre. Lässt man sich auf das Verwirrspiel ein, so erkennt man, mit welcher Präzision und mit wie viel Fingerspitzengefühl Julia Deck das Psychogramm einer auf verschiedensten Ebenen verloren Frau erstellt, ohne jemals zu psychologisieren oder pathetisch zu werden. Je weiter der Roman fortschreitet, desto weniger geht es darum, die Motive der jungen Frau nachvollziehen zu können, sondern gemeinsam mit ihr das Gefühl der Isolation zu erfahren.

Dementsprechend bleibt von diesem Roman zunächst ein Gefühl der Leere. Doch nach kurzem Innehalten wandelt es sich merkwürdigerweise in einen beinahe optimistischen Eindruck des ungeheuren Potentials der Welt, die vor einem liegt. Beinahe so, als stehe man selbst am Hafen, den Blick aufs Meer gerichtet…

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2018 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2018 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Julia Deck: Winterdreieck.
Übersetzt aus dem Französischen von Antje Peter.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
144 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132765

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch