Die Madonna von Villa Ballester

Mit „Nachtleuchten“ entführt María Cecilia Barbetta ihre deutschen Leser in einen exotischen Mikrokosmos vor dem großen historischen Bruch

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass das Buch einer Autorin die Shortlist zum Deutschen Buchpreis erreicht, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, mag ja auf den ersten Blick noch nicht zu sehr überraschen. Wenn allerdings jenes Buch vor allem aufgrund seiner bildhaften, verführerischen Sprache zum Leben erwacht, und zudem noch auf fast 500 Seiten eine komplex konstruierte Geschichte erzählt, ist das schon äußerst bemerkenswert, vor allem wenn man beobachten kann, mit welcher Leichtigkeit die Argentinierin die deutsche Sprache zum Klingen bringt.

María Cecilia Barbetta wuchs in Villa Ballester/Buenos Aires auf, besuchte dort allerdings vom Kindergarten an das Instituto Ballester, eine deutsche Schule, so dass sie der deutschen Sprache bereits seit Kindertagen mächtig war und nach ihrem Abschluss auch als Deutschlehrerin dort arbeitete. Sie zog 1996 mit einem Studienstipendium nach Deutschland, promovierte und blieb. Nachtleuchten ist ihr zweiter Roman, der erste, Änderungsschneiderei Los Milagros, gewann unter anderem den aspekte-Literaturpreis, während ein erster Auszug aus dem vorliegenden Buch bereits mit dem Alfred-Döblin-Preis geehrt wurde.

Trotz all dieser Ehrungen bleibt nach der Lektüre dieses Buches jedoch zunächst ein großes Fragezeichen stehen. Etwas ketzerisch könnte man behaupten, Barbetta erfülle die deutsche Sehnsucht nach dem Klischee des blumigen, kraftstrotzenden lateinamerikanischen Erzählens, das eine Autorin wie Isabel Allende ja auch immer wieder gerne bedient. Dabei sind die Voraussetzungen erst einmal äußerst verlockend: Nachtleuchten spielt in einer Zeit vor dem großen Umbruch, von dem der Leser schon weiß, ihre Figuren allerdings noch nicht. Dieser Wissensvorsprung ist es, der die Faszination des Plots zunächst ausmacht. Der Tod des heimgekehrten Juan Domingo Perón und die Amtsübernahme seiner Frau Isabel bedeuteten für Argentinien das Vorspiel zur wohl dunkelsten Epoche seiner Geschichte, der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 herrschte. Das ausufernde Figurenensemble des Romans quälen bereits dunkle Vorahnungen, was denn da kommen mag, die wiederum das Leitmotiv von Nachtleuchten bedingen: Spiritismus, Aberglaube, religiöser Fanatismus, kurz: der Wunsch, im Übersinnlichen Zuflucht zu finden, die Toten anzurufen, um das Schicksal der Lebenden zu schützen.

Was in der Zusammenfassung sehr spannend klingt, erweist sich in der Ausführung jedoch als problematisch. Da Barbetta bewusst mit einem Figurenensemble arbeitet, verweigert sie dem Leser eine zentrale Identifikationsfigur. Das ist nicht nur legitim, das kann auch äußerst reizvoll sein, wie beispielsweise Don DeLillo in Underworld demonstriert hat. Doch die zahlreichen Fäden, die aufgegriffen werden, sorgen dafür, dass der Leser sich immer stärker in ihnen verheddert und am Ende keinen Ausweg mehr finden kann. Bei drei Teilen zu je 33 Kapiteln denkt man zunächst an eine Neuschreibung der Divina Commedia, doch wie Dante bezieht sich Barbetta mit der mythischen Zahl wohl eher auf dasTodesalter von Jesus Christus, das schließlich dasselbe wie jenes Evita Peróns ist.

Weiterhin kommt erschwerend hinzu – wobei man das dem Buch und seiner Autorin nicht vorwerfen darf – dass nur die wenigsten deutschen Leser die tieferen Implikationen der argentinischen Geschichte verstehen werden, den hier zentralen Mythos um Evita Perón, wenn überhaupt, nur aus Andrew Lloyd Webbers Musical kennen und selbst die in der argentinischen Literatur seit mehreren Jahrzehnten maßgebliche, traumatische Verarbeitung der Militärdiktatur wohl allerhöchstens am Rande mitbekommen haben. Leider sind diese Kenntnisse elementar zum Verständnis des Romans.

Dabei ist klar, dass Barbetta jene Zeit der Unsicherheit auch als Allegorie des Zustands der westlichen Welt im 21. Jahrhundert versteht. Doch durch die kompromisslose Fokussierung auf einen historisch und topographisch konkreten Mikrokosmos (der dankenswerterweise niemals durch zweideutige Verweise auf andere kulturelle und historische Kontexte aufgeweicht wird), gibt Barbetta dem deutschen Leser, der mutmaßlich ihr primäres Zielpublikum ist, nur eine geringe Chance, ihren Roman adäquat rezipieren zu können. Und genau an diesem Punkt tritt letztlich der durchaus berechtigte Vorwurf des Exotismus auf: Denn die Welt, die Barbetta schafft, jenes Villa Ballester der frühen 70er Jahre, ist ein hermetisch abgeschlossenes Universum, in dem jegliche Interaktion der Porträtierung und Ausschmückung jenes Mikrokosmos dient.

Aus diesem Grund ist die Erzählhaltung gleichzeitig euphorisch und distanziert. Der Leser kommt den Figuren nicht richtig nahe, weil er sie wie in einem Theater beobachtet. Und als Figuren stellen sie Archetypen dar, die den Exotismus, der dem deutschen Leser in jeder Zeile entgegenspringt, stets unterstreichen: Der überkandidelte homosexuelle Frisör. Der nerdige, dickliche Jugendliche, der sich als großer Detektiv geriert. Die moderne, revolutionäre Nonne (die Opfer des Systems wird). Das neugierige Mädchen, dessen Couragiertheit zum Bindeglied vieler Geschichten wird. Die tölpelhaften, unterbelichteten Polizisten, die aufgrund ihres politischen Opportunismus vom Slapstick-Paar zu Gewinnern des neuen Systems werden. Diese Liste könnte man endlos weiterführen. Erstaunlich, aber auch konsequent dabei ist, dass die finale Katastrophe ausgespart bleibt und der Roman kurz vor der Machtergreifung durch das Militär endet. Und ganz am Schluss tatsächlich von einem bewegenden, furiosen kurzen Schlusskapitel gerettet wird, dessen Inhalt an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Nur so viel: Wer sich durch diesen manchmal allzu anstrengenden und scheinbar formlosen Roman gequält hat, wird am Ende halbwegs entschädigt werden.

Andererseits wird es auch zahlreiche Leser geben, und der Kritiker-Erfolg unterstreicht dies, die sich von einem Roman aus Lateinamerika genau das erwarten, was ihnen hier vorliegt. Trotzdem vermisst man die Nüchternheit und das ästhetische Wagnis, das Werke argentinischer Autoren mit ähnlicher Thematik – zu nennen wären Patricio Pron, Félix Bruzzone, Elsa Osorio oder Carlos Busqued – auszeichnet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Maria Cecilia Barbetta: Nachtleuchten. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
521 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972894

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