Von „Wutbürgern“ und „Gutmenschen“

Vladimir Vertlibs Roman „Viktor hilft“spielt mit der politischen Gegenwart

Von Silke SchwaigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schwaiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viktor Levin, die Hauptfigur in Vladimir Vertlibs 2018 im Deuticke Verlag erschienenem Roman, ist russischer Jude und als Flüchtlingskind mit seiner Mutter nach Österreich gekommen. Er führt mittlerweile in Freilassing, an der Grenze zu Österreich, ein sicheres und gutbürgerliches Leben. Viktor produziert und verkauft medizintechnische Geräte, während seine Frau als Anwältin arbeitet. Als im Herbst 2015 die – von den Medien und der Politik so bezeichnete – „Flüchtlingskrise“ ihren Höhepunkt erreicht, meldet sich Viktor als freiwilliger Helfer in einem der Aufnahmezentren. Das Schicksal der Geflüchteten lässt ihn über seine eigene Geschichte reflektieren: „Viktor erinnert sich an die Kleinkinder ohne Schuhe und Socken, denen er Ende September vor dem Salzburger Hauptbahnhof begegnet war, an Menschen mit Kriegsverletzungen, an schwangere Frauen, die Tausende Kilometer unterwegs gewesen waren. Wie viel Glück er doch selbst gehabt hatte!“

In Viktor hilft finden sich viele autobiografische Verweise aus Vertlibs eigener Biografie. Er wurde 1966 in Leningrad (im heutigen St. Petersburg) geboren, hat jüdische Wurzeln und kam nach vielen „Zwischenstationen“ (so auch der Titel von Vertlibs 1999 erschienenem autobiografischem Roman) in den 1980er Jahren nach Wien. Wie Viktor war auch Vertlib im Herbst 2015 als Freiwilliger in Einsatz und betreute Flüchtlinge am Salzburger Bahnhof und in Aufnahmezentren. Ihre Geschichten und Schicksale, wie er in einem Interview mit dem Hanser Verlag anmerkt, berührten ihn: „Die durch meine Flüchtlingshilfseinsätze geweckten persönlichen Erinnerungen waren oft bitter, die alten Traumata kehrten zurück.“ 

Im Roman verschränkt Vertlib die Vergangenheit seines Protagonisten mit der politischen Gegenwart und greift zusätzlich auf einen Familienplot zurück. Viktor bekommt unerwartet Nachricht von einer alten Jugendliebe: Er hat eine Tochter, von der er bislang nichts wusste. Lisa ist in AfD-Kreise gelangt, und die besorgte Mutter bittet ihn, sie zurückzuholen.

Der hier nacherzählte Plot mag konstruiert klingen, funktioniert jedoch als Erzählung, da Vertlib gewollt überzeichnet und ironisiert. Das Geschwisterpaar Beate und Bruno Beck, bei dem seine Tochter wohnt, ist in rechtsradikalen Kreisen unterwegs, wohnt in Gigricht und engagiert sich bei der Gigrida, dem lokalen Ableger der Pegida. Sie werden von Lisa liebevoll „Onkel Bruu“ und „Tante Bee“ genannt, ihr Wohnzimmer ist als Kontrapunkt zu ihrer politischen Gesinnung mit afrikanischer Kunst geschmückt. Vertlib lässt im Roman unterschiedliche Personen(gruppen) auftreten, die gegensätzliche Perspektiven in der Migrationsdebatte einnehmen – verkürzt gesagt, stehen auf der einen Seite die „linkslinken Gutmenschen“ und auf der anderen Seite die „besorgten Wutbürger“. Die Stimmen erscheinen überzeichnet und gleichzeitig real, sodass beim Lesen das Gefühl aufkommt, ähnliche Ansichten, Argumentationen, Polemiken und Meinungen bereits etliche Male in den Medien, an Stammtischen und/oder im eigenen Alltag, gelesen und gehört zu haben. Viktor hilft ist durchaus humoristisch und versucht gleichzeitig, die Flüchtlingsdebatte aus unterschiedlichen Standpunkten erzählerisch aufzubereiten.

Interessant ist übrigens die Gestaltung des Buchumschlags, der, oberflächlich betrachtet, nicht so recht zum Buchinhalt passt. Die schlichte schwarz-weiße Illustration auf blauem Hintergrund wurde von der Illustratorin und Grafikerin Blanca Gómez gestaltet und zeigt einen Mann (Viktor?), der, so scheint es, beschützend hinter einer Frau steht. Die Darstellung und die für den Buchumschlag gewählte Schriftart wirken schicht-elegant, nostalgisch und spiegeln so gar nicht die Aktualität des Inhalts wider. Vielleicht jedoch trifft genau diese Illustration das Wesen des Buches: Viktor hilft – Flüchtlingen, seiner Jugendfreundin, seiner vermeintlichen Tochter und doch auch sich selbst. Durch die Geste des Helfens begegnet er unterschiedlichen Menschen, die ihn wiederum zwingen, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzten. Und gegen Ende des Romans gelingt es ihm auch, sich mit dieser auszusöhnen.

Titelbild

Vladimir Vertlib: Viktor hilft. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
288 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552063839

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch