Er war ein Baum im Regen

Über Friedrich Anis Roman "Die Erfindung des Abschieds"

Von Melanie WitteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Witte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Romans könnte zu mancherlei Mutmaßungen anregen: Handelt es sich um eine romantische Liebesgeschichte? Oder vielleicht um die Memoiren eines Alltagsphilosophen? Friedrich Ani hat einen Kriminalroman geschrieben und ihm den poetischen Titel "Die Erfindung des Abschieds" gegeben. Worum es geht, verrät die alternative Überschrift des Verlags auf der Rückseite des Buches - ebenso groß gedruckt, wie platt formuliert: "Spurlos verschwunden - verzweifelt gesucht".

Verschwunden ist der neunjährige Raphael Vogel. Er ist von zu Hause weggelaufen, nachdem der Großvater - seine wichtigste Bezugsperson - gestorben ist. Der kleine Raphael will nicht länger bei seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten bleiben. Der Vater, der die Familie im Stich gelassen hat, kommt nur noch gelegentlich vorbei, um Frau und Kind blutig zu schlagen.

Gesucht wird Raphael vom Dezernat 11 der Münchener Polizei. Unverzüglich richtet man dort eine Sonderkommission ein, denn wenn ein Kind vermißt wird, stellt das immer einen besonders heiklen Fall dar. Die Presse schaltet sich ein, aller Augen richten sich auf die Arbeit der Polizei, und bei der geringsten Panne hagelt es vernichtende Schlagzeilen.

Unterdessen plagt sich Kommissar Tabor Süden, genannt "der Seher", wegen eines zurückliegenden Falles mit Schuldgefühlen. Er haust in einer Waldhütte, wo er, abgeschieden von der Welt, eigenwillige Rituale ausübt. "Er war ein Baum im Regen, ein nackter Mann mit erhobenen Armen, dessen Blick starr wie der eines Tieres an etwas hing, das einer verschrumpelten Wurzel glich, die aus einem Erdhügel wuchs und sich bewegte wie bei einem Tanz." So lautet der erste Satz des Romans. Der Mann mit dem neid-erregenden Namen Süden ist ein später Abkömmling der klassischen Detektivfigur, ein genialischer Einzelgänger, was ihm in der Öffentlichkeit großes Ansehen, bei den Kollegen aber eher Mißtrauen einbringt.

Polizeiarbeit ist Teamarbeit, und Tabor Südens Vorgesetzter duldet keine Alleingänge: "Du bist nicht mehr teamfähig, du bist unberechenbar, du bist einzelgängerisch, und so jemanden können wir hier nicht gebrauchen." Aber der Hauptkommissar irrt sich. Der Seher hat zwar keine übernatürlichen Fähigkeiten, dafür aber den richtigen Riecher und eine unkonventionelle Art, seine Gesprächspartner - Opfer wie Tatverdächtige - zum Reden zu bringen.

"Die Erfindung des Abschieds" hat eigentlich alles, was ein Kriminalroman braucht. Die Geschichte ist spannend, glaubwürdig und frei von reißerischen Übertreibungen. Mit viel Einfühlungsvermögen und beachtlichem erzählerischen Talent zeichnet Friedrich Ani überzeugende Milieuskizzen und Figuren, die sofort quicklebendig vor dem Auge des Lesers stehen.

Neuerfunden wird hier allerdings nichts, nicht der Abschied und auch nicht die Gattung des Kriminalromans. Der Titel bleibt irreführend, der Roman hat nicht mehr Tiefe, als man es etwa von einer Krimiserie im Fernsehen erwarten würde. Auch formal erinnert hier vieles an einschlägige Filmproduktionen, was auch nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, daß Friedrich Ani neben Romanen, Gedichten und Theaterstücken auch schon einige Drehbücher geschrieben hat, so z.B. für die Serien "Ein Fall für zwei" und "Faust". Sein neuer Roman schielt deutlich auf eine zukünftige Verfilmung, was sich unter anderem darin bemerkbar macht, daß Szenenwechsel grundsätzlich nicht von einer Erzählerinstanz vermittelt werden, sondern gleichsam in harten Schnitten erfolgen.

Titelbild

Friedrich Ani: Die Erfindung des Abschieds.
Heyne Verlag, München 1998.
420 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3453142969

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