Vom Nutzen der ästhetischen Autonomie

Iris Laner systematisiert Voraussetzungen, Prozesse und Wirkungen ästhetischer Bildung

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Iris Laner backt in ihrer Einleitung zu Theorien der ästhetischen Bildung keine kleinen Brötchen. Sie verortet ihre Arbeit im Rahmen zeitgenössischer Debatten zu Bildung allgemein sowie zu Bildungs- und Sozialpolitik. Sie beobachtet, dass die künstlerische Betätigung als möglicher Wert an sich, aber auch im Hinblick auf „Kompetenzerwerb und Transfereffekte“ eigentlich schon seit Jahrzehnten zum weithin gewürdigten „Sinnbild für ganzheitliche Erziehung und integrative Bildungsansätze“ geworden ist, die wiederum, so darf man ergänzen, in der Erziehungswissenschaft den Mainstream ausmachen. Von der ästhetischen Bildung erhoffen sich die Befürworter der entsprechenden Ansätze auch „eine Verbesserung von nicht dezidiert ästhetischen Fertigkeiten […], die für viele wissenschaftliche, politische, soziale und auch ökonomische Zusammenhänge eine Rolle spielen.“ Mit anderen Worten: Die Annahme lautet, dass die Welt gerechter wird, wenn sie ästhetischer wird.

Hiermit sind implizit eine Reihe von Ansprüchen an die ästhetische Bildung, an die Subjekte von Bildungsprozessen und auch an Kunstwerke und andere ästhetische Objekte formuliert, die Laner auf ihre jeweiligen ideengeschichtlichen Ursprünge zurückführt, auch um zeigen, dass sie zueinander in vielfältigen, teils kaum auflösbaren Spannungen stehen. Sie haben mit dem Verhältnis ästhetischer Produktion und Rezeption zu „Wahrnehmung und Geschmack“, „Moralität, Urteilskraft und Kritik“ sowie „Einbildungskraft, Kreativität und Handlungsfähigkeit“ zu tun (so die Überschriften der Kapitel 2 bis 4).

Der ideengeschichtlich und bildungspolitisch springende Punkt ist dabei in jedem Fall eben das Verhältnis, der Bezug – im Grunde genommen lassen sich die wesentlichen von Laner nachgezeichneten Positionen aus 2.500 Jahren unter dem Stichwort der so oder so gefassten, mehr oder weniger stark profilierten, mehr oder weniger deutlich abgelehnten oder eingeforderten ästhetischen Autonomie behandeln. Laner tut das nicht, denn es wäre wohl doch eine ziemlich brachiale Herangehensweise; aber sie fragt, und zwar sehr sorgfältig, nach den Ansprüchen, die im Hinblick auf Bildungswege und Bildungsziele an ästhetische Objekte und Verfahren gestellt werden: Soll die Beschäftigung mit einem Kunstwerk den Menschen moralischer machen, indem sie ihm ein Vorbild zur Nachahmung empfiehlt – oder wird er gerade dadurch moralischer, dass die Beschäftigung mit einem Werk ihn aus alltäglichen Verstrickungen herauslöst und zur Setzung eigener Normen anspornt? Welche Dimensionen der ästhetischen Praxis sind lernbar oder können eingeübt werden, in welchen manifestiert sich eine nicht steuerbare Veranlagung? Was als „ästhetisch“ zu gelten hat, überlässt Laner dabei den jeweiligen Autorinnen und Autoren; dass sie sich einer vereinheitlichenden Definition enthält, tut der Analyse überraschend gut.

Laners Untersuchung, die trotz der kategorial formulierten Kapitelüberschriften im Wesentlichen chronologisch ist, leiten und begleiten eine Reihe spannender Fragen: Was setzen die verschiedenen theoretischen Konzeptionen der ästhetischen Bildung von Platon über Friedrich Schiller bis zu Hannah Arendt, Martha Nussbaum, John Dewey und Antonio Gramsci voraus? Inwiefern halten sie den Menschen eigentlich für ästhetisch bildbar? Welche Wirkungen versprechen sie sich von der ästhetischen Bildung? Und vor allem: Wem steht in der jeweiligen Theorie der Weg zur ästhetischen Bildung überhaupt offen? Welche Ressourcen (Zeit, Geld etc.) beziehungsweise Eigenschaften (männlich, bürgerlich etc.) muss der zu Bildende gemäß ihrer oft nur implizit vorhandenen Annahmen besitzen? Es ist eines der großen Verdienste von Laners Buch, dass sie die Frage nach dem Zugang zur ästhetischen Bildung besonders nachdrücklich aufwirft und verfolgt.

Gerade in dieser Hinsicht hätte es nahegelegen, den mit dem ersten Kapitel angelegten Faden am Ende noch einmal aufzunehmen: Was ergibt sich aus der Musterung verschiedenster Kunst- und Bildungsvorstellungen für die eingangs angesprochenen Debatten? Welche Akteure tummeln sich auf dem Feld der ästhetischen Bildung, und welche Rolle können Künstler, Lehrerinnen, Freunde, Bildungseinrichtungen, der Staat und vielleicht sogar Unternehmen in diesem Bereich spielen – zumal in einem gesellschaftlichen Umfeld, das, wie Laner richtig feststellt, auf Nützlichkeit und ökonomische Verwertbarkeit viel Wert legt? Laner bezieht eine beeindruckende Fülle von Theorien ein, und zwar, das darf man ruhig einmal hervorheben, aus ganz verschiedenen Sprachräumen. Angesichts der eingangs betonten Relevanz oder sogar Dringlichkeit des Themas würde es sich aber lohnen, die hier erarbeitete Systematik auch zur Analyse bildungspolitischer White Paper und einflussreicher grauer Literatur heranzuziehen. Dieser Schritt wird angedeutet, aber letztlich nicht gegangen – das Buch endet ziemlich abrupt. Freilich kann, wer sich mit Ästhetik und Bildung beschäftigt, nun auf eine ausgesprochen tragfähige Analyse zurückgreifen und diesen Schritt selbst gehen. Dass sich das lohnt, macht Laner mehr als deutlich.

Titelbild

Iris Laner: Ästhetische Bildung. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2018.
220 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783960603009

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