Der Geist von Weimar als Geist der großen Dichter, Dichterinnen und anderer Kunstschaffender

Sabina Beckers Kulturgeschichte der Weimarer Republik zeigt viele Facetten einer höchst produktiven Zeit

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution erscheint Sabina Beckers umfangreiche Kulturgeschichte der Weimarer Republik. Obwohl anscheinend jeden Monat mehrere Bücher zur ersten parlamentarischen Demokratie Deutschlands auf den Markt kommen, steht Beckers Buch als umfassend konzipierte Kulturgeschichte zurzeit allein auf weiter Flur.

Das umfangreich bebilderte Buch Experiment Weimar setzt bereits historisches Wissen über die Zeit voraus und kümmert sich nur am Rande, wenn dies für die kulturelle Produktion und Rezeption von Nöten ist, um die Darstellung von Ereignissen und Fakten zur Geschichte der Republik. Damit ist der Blick frei für Debatten um ästhetische Verfahren, die großstädtischen Lebenswelten samt der dazugehörigen Angestelltenkultur, die vielfältigen Ausformungen der Massen‑ und Populärkultur oder auch die unterschiedlichen Theaterprojekte der Weimarer Republik. Auch die vermehrte Tätigkeit von Frauen in allen künstlerischen Sparten und die kulturellen Leistungen abseits der Kultur‑Hauptstadt Berlin in Städten wie Hannover, Weimar oder Dessau finden Erwähnung. Zudem zeigt Beckers Buch eindrücklich, wie die Grenzen zwischen unterschiedlichen Kunstformen in den 1920er Jahren vermehrt zu fließen beginnen. Die Vielfalt der im Buch angeschnittenen Themen kann hier nicht ansatzweise wiedergegeben werden. Das Leitmotiv der Darstellung stellt die Ansicht dar, dass, trotz des politischen Scheiterns und den ökonomischen Krisen, die Republik eine Zeit der künstlerischen Innovationen und eines prosperierenden Kulturbetriebs war.

Mit welcher Tradition der Beschäftigung mit der Kunst und Kultur in der Weimarer Republik sich Becker hier trifft, um sie in einer Auseinandersetzung hinter sich zu lassen, wird gleich im Eingangskapitel klar: Vor allem Peter Gays Weimar Culture. The Outsider as Insider von 1968 (im selben Jahr ins Deutsche übersetzt) und Detlev Peukerts Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne von 1987 gilt es zu relativieren. Kurzgefasst geht es bei Gay und Peukert (sowie der durch sie beeinflussten Forschung) um die Ansicht, dass die Weimarer Republik, als Krisenzeit der klassischen Moderne, keine eigenen Leistungen auf kulturellem Gebiet vorzuweisen hat und nur aufgrund der Vorleistungen von vor 1918 Innovationen hervorbringt. Die Widerlegung dieser Thesen gelingt Becker souverän.

Die Darstellung in Experiment Weimar überrascht dabei nicht wirklich, scheint sich doch bereits seit einigen Jahren ein entsprechender Konsens in der Forschungsgemeinde, zumindest im Rahmen der Literatur‑ und Kulturwissenschaften, stabilisiert zu haben. Mitunter meint man, dass man Beckers Buch bereits gelesen hat. Dies verwundert nicht, ist die Germanistin doch seit Jahren eine ausgewiesene Expertin zum kulturellen Leben der Weimarer Republik und durch ihre umfangreiche Publikationstätigkeit breit rezipiert. Das von ihr seit Mitte der 1990er Jahre mitherausgegebene Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, ihre zweibändige Studie über die Neue Sachlichkeit (2000) oder das 2016 erschienene Handbuch zu Alfred Döblin sind nicht mehr wegzudenkende Leistungen zur Beurteilung der Zeit zwischen 1918 und 1933 und darüber hinaus. In diesem Zusammenhang ist auch der Tagungsband Literarische Moderne. Begriff und Phänomen (2007) zu erwähnen, den Becker gemeinsam mit Helmuth Kiesel herausgegeben hat und in dem bereits viele der theoretischen Positionen zu finden sind,  die Becker für Experiment Weimar implizit wieder aufgreift.

Das Buch eignet sich aus den genannten Gründen hervorragend zum Einstieg und zur Vertiefung in die Epoche und die komplexe Situation der Kunst‑ und Kulturproduktion in einer Zeit, die durch Umbrüche eine politische Neuorientierung Deutschlands bedingt. Die um das erwähnte, zentrale Postulat der Innovationsfreudigkeit der Kultur der Weimarer Republik kreisende Argumentationsführung greift immer wieder die wesentlichen Punkte auf, sodass das Buch auch ohne weiteres kapitelweise gelesen werden kann. Das ausführliche Namensregister und der umfangreiche Anmerkungsapparat tun ihr übriges. Auch ist es für die Darstellung ergiebig, dass die „Zwischenkriegszeit“ endgültig ausgedient hat und der Zweite Weltkrieg nicht mehr die bestimmende Bewertungsgrundlage der Weimarer Republik ist. Denn die grundsätzlich positive Bewertung der Kultur der Weimarer Zeit in Beckers Argumentation macht es möglich, tatsächlich diese Kultur als eine eigenständige zu betrachten, ohne dass dabei ein bereits verengender Blick jenseits von 1933 schielt und die NS‑Diktatur in allen Lebensbereichen präfiguriert sehen will. Was trotzdem nicht außen vor bleibt, sind jene Stimmen, die unter dem Sammelbegriff „Konservative Revolution“ als antidemokratische Strömungen gefasst werden und zu deren Umfeld neben Hugo von Hofmannsthal auch Thomas Mann gezählt werden kann.

Bei der Lektüre des Buchs fällt jedoch auf, dass die Themenkomplexe immer wieder um dieselben Personen kreisen. So wird (Kultur‑)Geschichte anscheinend von vielen Männern und verschwindend wenigen Frauen geschrieben: Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Thomas und Heinrich Mann, mit Abstrichen Gottfried Benn, Robert Musil, Erwin Piscator, Ernst Toller, Gabriele Tergit, Irmgard Keun, Erich Kästner, George Grosz, Walter Gropius und László Moholy‑Nagy heißt die lose Reihe der wichtigsten Kronzeugen und Kronzeuginnen, die Becker, oft in ausgiebigen Zitaten, für die Kultur der Weimarer Republik sprechen lässt. Wer unbekanntere Autorinnen und Autoren sucht, findet diese zwar, wie zum Beispiel auch den Publizisten und Feuilletonnisten Anton Kuh, jedoch meist nur in kurzen Zitaten im Rahmen der diskursgeleiteten Darstellung. Die Liste der Namen zeigt auch, dass Becker im Kern eine sehr literaturlastige Kulturgeschichte verfasst hat. Deren Grundgerüst wurde bereits mit den beiden, Anfang der 1980er Jahre veröffentlichten, Text‑ und Dokumentsammlungen von Thomas Anz und Michael Stark zum Expressionismus (1982) sowie von Anton Kaes zur Weimarer Republik (1983) vorgezeichnet. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, jedoch fällt zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Kinokultur der Weimarer Zeit äußert kurz aus. Lediglich 15 Seiten der über 500 der Gesamtdarstellung befassen sich mit dem Film und legen dann wiederum den Fokus auf das filmische Schreiben. Dem Bauhaus respektive der funktionalen Ästhetik und der Fotografie widmet Becker zumindest 50 Seiten.

Trotz dieser Abstriche ist Beckers Buch eine lesenswerte Kulturgeschichte, vor allem für Literaturinteressierte sowie Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, die besonderen Wert auf intermediale Perspektiven legen. Die immer wieder eingestreuten Textinterpretationen Beckers machen Lust, auch altbekanntes nochmals zu lesen, wie Döblins Berlin Alexanderplatz oder die Gedichte von Kästner. Aber ebenso regen ihre Interpretationen dazu an, lange Versäumtes oder Aufgeschobenes nachzuholen: Keuns Das kunstseidene Mädchen, Tergits Käsebier erobert den Kurfüstendam oder Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier bieten sich an.

Titelbild

Sabina Becker: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918-1933.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2018.
608 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783534270514

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