Königin auch im Privaten

Selma Lagerlöf in ihren Briefen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich bin der Meinung, dass die Liebe den höchsten Grad des Egoismus darstellt“, schreibt Selma Lagerlöf 1894 an ihre Freundin und Schriftstellerkollegin Sophie Salomon, verwitwete Elkan. Ihre innigen Briefe an diese sind stets mit „Liebe, liebe Freundin!“, „Liebste Freundin!“ oder auch „Geliebte!“ überschrieben, und sie überlegt sich, wo die brieflich übersandten Küsse einzulösen wären: in einem „Salon voller Leute“ oder in dem „Gewächshaus in Nääs“? Jenes Gewächshaus gehörte zu Elkans Sommerdomizil.

Viele gute Schriftsteller sind schlechte Aphoristiker. Für Lagerlöf gilt das nicht: das Epos und die Saga lagen ihr ebenso wie die Sentenz und das Bonmot. Sie war gleichermaßen scharfzüngig wie klug:

Wir möchten Wertschätzung erfahren. Das gibt uns eine Daseinsberechtigung. Das gibt uns alles: Kraft, Mut und Gesundheit. Und zu leben ist das Wichtigste. Ich verstehe, was diejenigen meinen, die sagen, das Zentrale im Leben sei die Liebe, aber sie ist nur ein Mittel. Das Zentrale im Leben ist, zu leben oder sich lebendig zu fühlen. Das klingt wie ein Kreis, ist aber wahr.

Wertschätzung muss Kritik nicht ausklammern. Elkan war als Schriftstellerin eine Repräsentantin des literarischen Realismus. Gösta Berling konnte sie, als Beispiel der neuen, hässlichen Strömung des Naturalismus, nicht gutheißen. Sie äußerte ihren Vorbehalt, und genau das beeindruckte Lagerlöf:

Wärst Du eine überaus raffinierte Kokette (die Du natürlich bist), hättest Du mich gar nicht besser umgarnen können, als damals in Stockholm mit der Erklärung, dass Dir mein Buch nicht gefällt. So etwas imponiert mir. Aber sobald man mich bewundert, denke ich, mit ihr ist nicht viel los. Was bringt es mir? Denn man ordnet sich jenem Menschen, den man bewundert unter, und das vertrage ich nicht.

Schon im ersten Jahr ihrer (Brief-)Freundschaft sind die Fronten klar, die Grenzen gezogen. Der intime Brief erklärt die Regeln, nach denen hier gespielt werden darf. Entgrenzungen, die die Welt des Salons in Aufruhr versetzen könnten, sind nicht beabsichtigt. Die Liebesbegegnung findet auf dem Papier statt, wo sie auch hingehört. Die gemeinsamen Reisen, auf denen größere Nähe erprobt werden kann, verursachen keinen Skandal. Die Briefe blieben 50 Jahre gesperrt, um – wie der Herausgeber und Übersetzer Holger Wolandt anmerkt – „allen erwähnten Personen“ die „Gelegenheit“ einzuräumen, „zu sterben“. Mit Wehmut denkt man an die Diskretion und die Gesittung des bürgerlichen Zeitalters zurück. Heute, wo jeder jede Lebensregung sofort online stellt oder mit seiner Peergroup teilt, scheint das Grelle alles Dezente verdrängen zu wollen. Wir beobachten eine Brutalisierung der Gesellschaft, bei gleichzeitiger Infantilisierung. Wie schön, dass davon nichts bleiben wird: all die Telefonate, E-Mails und Kurznachrichten verschwinden dereinst wieder im Orkus des Ungesonderten.

Briefe bleiben, Papier ist geduldig. Als weltoffen und modern beschrieb Holger Wolandt die schwedische Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf in seiner Biografie Värmland und die Welt. Nun hat der Skandinavist einen Briefband Lagerlöfs herausgegeben, dessen Briefe sich ursprünglich an die beiden engsten Weggefährtinnen der „Königin der schwedischen Literatur“ gerichtet haben. Die jüdische Schriftstellerkollegin Elkan (1853–1921) war vermutlich die erste Liebe, zu der Lagerlöf sich bekannte:

Wenn mir jemand die große Freude bereitet, mich an seinem inneren Leben teilhaben zu lassen, dann würde ich am liebsten auf die Knie fallen und dieser Person danken. Ich weiß nicht, ob es sich dabei, wie Du es nennst, um Hypnose handelt, aber da ich selber nie lebe, besitze ich die ausgeprägte Fähigkeit und auch das große Bedürfnis, durch andere zu leben. Außerdem fiel mir bereits, als ich Dich zum ersten Mal sah, auf, dass Du gefährlich und von einem fürchterlich anziehenden Magnetismus umgeben bist. Du sagst, dass Du für gewöhnlich nicht über Dich selbst sprichst, und ich pflege nicht anschmiegsam zu sein. Oh, das ist reine Elektrizität!

Lagerlöf und Elkan hatten sich an Neujahr 1894 kennengelernt, und Lagerlöf bewunderte die glänzende Erscheinung der Geliebten. Sich selbst sah sie als graue und alltägliche Arbeitsbiene: „Ich habe den ganzen Tag geschrieben, und deswegen ist mein Kopf schwach.“ Drei Jahre zuvor war Gösta Berlings Saga erschienen, Lagerlöfs erster Roman und erster großer Erfolg auf der literarischen Bühne. Noch arbeitete sie als Lehrerin, aber im Juni 1895 kündigte Lagerlöf ihre Stelle, um ganz von der Literatur zu leben – und um mit Elkan auf Reisen gehen zu können. Ihre wohl wichtigste gemeinsame Reise führte sie 1899 in den Orient und ins Heilige Land. Diese Orientfahrt zeitigte eine merkwürdige Vereinbarung der beiden Autorinnen – dem Vertrag von Tordesillas nicht unähnlich, teilten sie vorab den Reiseertrag unter sich auf: Erkan sollte über Ägypten schreiben dürfen, Lagerlöf über Palästina. Besonders Jerusalem lag Lagerlöf am Herzen: Dort war die American Colony aus schwedischen Auswanderern entstanden, eine Sekte, die in der Heiligen Stadt selbst den Jüngsten Tag erwarten wollte:

Ich war den gesamten Dienstag draußen in der Kolonie und habe mir einige ihrer Schulen etc. angesehen. Das sind schon außerordentlich merkwürdige Leute, das muss ich sagen, aber es ist angenehm, sich anzusehen, wie sauber, gepflegt und wohlorganisiert alles bei ihnen ist. Sie sagen, sie seien glücklich, und die Männer sehen auch munter und lebhaft aus, die Frauen jedoch weniger. Alle haben Englisch gelernt. Larsson hat hier nichts zu sagen, jetzt ist es eine Frau Spafford, Amerikanerin, die das Ganze leitet.

Die Auswanderer stammten aus Dalarna, dem Inbegriff Schwedens, sie waren schon seit vier Jahren in Palästina. Gleichwohl waren die beiden Autorinnen die ersten Schwedinnen, die der Kolonie die Ehre erwiesen und ihr einen Besuch abstatteten.

Aus dem sonderbaren Vertrag gingen zwei Bücher hervor: Lagerlöfs Jerusalem-Roman (in zwei Teilen 1901 und 1902 erschienen) und Elkans Traum vom Morgenland. Doch während Jerusalem zum bestverkauften Buch des Jahres avancierte, von der Kritik gefeiert und in gleich sieben Sprachen übersetzt wurde, fiel Traum vom Morgenland bei Kritik und Publikum durch. Schockierend war zudem, dass Lagerlöf in dieser von Eifersucht getrübten Phase ihre zweite große Liebe in Gestalt von Valborg Olander (1861–1943) entdeckte, was Elkan nicht verborgen bleiben konnte. Fortan mussten sich Olander und Elkan in die Liebe Lagerlöfs teilen.

Doch Wolandts Briefband dokumentiert nicht nur diese außergewöhnliche Liebeskonstellation. Er macht schmerzlich deutlich, was wir verloren haben: die große Briefkultur, die bis ins 20. Jahrhundert hinein entwickelt wurde und die nun unwiederholbar vorbei sein dürfte. Zwar bekommen wir hier nur die Briefe Lagerlöfs geboten (die Gegenbriefe werden nur dann und wann in den Herausgeberkommentaren anzitiert), aber selbst diese Briefe erschließen uns eine ganze Welt. Sie sind in ihrer Ausführlichkeit, Genauigkeit und Zugewandtheit Meisterstücke diplomatischen Geschicks, literarischen Sendungsbewusstseins, kultureller Bonhommie und Liberalität.

Zwar kann Lagerlöf auch scharfzüngig und verletzend sein, insgesamt aber wirkt sie großherzig, auch in ökonomischen Fragen generös, politisch wach und aufgeklärt. Bisweilen zeigt sie sich beunruhigt über Briefe, die sie geschrieben hat (und versucht, sie den Empfängern wieder abzugewinnen), doch durfte es dort nichts Verletzendes geben. Lagerlöf bewies Bürgersinn und Umgangsformen, sie demonstrierte auch und gerade im Privaten Verantwortung gegenüber dem Wort und erwies sich all der Ehrungen würdig, die ihr widerfuhren: Sie war erste Nobelpreisträgerin, erstes weibliches Mitglied des Nobelpreiskommitees, galt als Ikone und Aushängeschild der schwedischen Nationalkultur im Ausland, wurde Adressatin der Bedürftigen, Kujonierten, Unterdrückten, und sie engagierte sich für das Frauenwahlrecht, das auch in Schweden erst erkämpft werden musste.

Lagerlöf, hin- und hergerissen zwischen zwei Liebesbeziehungen, zwischen Pflicht und Berufung, zwischen Falun (wo sie 1907 ein großes Anwesen erwarb) und Mårbacka (dem eindrucksvollen Gut in Värmland, wo sie 1858 zur Welt gekommen war), versuchte stets, allen Anforderungen gerecht zu werden. Sie ging mit der Zeit, arbeitete unermüdlich und bis an „die Grenze der Verzweiflung“, entwickelte unternehmerischen Ehrgeiz, erwarb ein Automobil und steuerte die Geschicke der Ihren mit großer Hingabe. Neben ihrer Schriftstellerei wurde die Korrespondenz zur Überlast, aber sie ließ sich helfen: Vor allem Olander bot Unterstützung, wurde ihre Sekretärin, ihr „Fels in der Brandung“.

Über 40 Jahre bildet dieser Briefband ab. Er stellt nur eine kleine Auswahl dar – allein 3.500 Briefe zwischen Lagerlöf und Elkan sind erhalten geblieben; aber schon diese kleine Kostprobe gewährt großzügig Einblicke in die Welt von gestern, zwischen früher Autorschaft, als Lagerlöf in Schweden zur öffentlichen Person wurde, und späten Jahren des Verlusts, der Krankheiten, Erschöpfung und Resignation. Als Lagerlöf infolge eines Schlaganfalles 1940 starb, war der zweite Weltkrieg voll entbrannt. Sie hatte nicht an Adolf Hitler geschrieben (wie ihr unterstellt worden war), sondern hatte Thomas Mann bewundert, der mit Hitlers Deutschland längst gebrochen hatte und sich nun aus dem Exil zu Wort meldete:

Ich war ganz ergriffen, als ich in meiner Zeitung gestern Thomas Manns Brief an den Bonner Dekan las. Dazu hatten sie ein gutes Porträt von ihm, auf dem er wie ein Racheengel mit blankem, erhobenem Schwert aussah. Er teilte Schlag auf Schlag aus. Man meint, die ganze Hitler-Herrschaft müsste sofort einstürzen. Aber die hält sich vermutlich noch. Stell Dir vor, dass so ein Mann, der die Verhältnisse kennen muss, genauso empfindet wie wir. Über alle Wohltaten, die Hitler dem deutschen Volk erwiesen haben soll, verlor er kein Wort.

Die knappe Auswahl macht es notwendig, dass die Briefe mit Überleitungen und Erläuterungen versehen werden, was der Herausgeber auf wenig Raum kenntnisreich und mit großem Geschick vornimmt. Gelegentlich interpretiert er auch: „In diesem Brief wird deutlich, dass Selma Lagerlöf in vielem moderner dachte und selbstbewusster war als ihre weitgereiste und weltgewandte Freundin.“ Das Buch ist, in Satz und Ausstattung, schön gestaltet, die Übersetzung von Lotta Rüegger und Holger Wolandt ist makellos, von wenigen ungrammatischen Sätzen abgesehen.

Titelbild

Selma Lagerlöf: Liebe Sophie – Liebe Valborg. Eine Dreiecksgeschichte in Briefen.
Herausgegeben und kommentiert von Holger Wolandt.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt.
Urachhaus Verlag, Stuttgart 2016.
350 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783825151065

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