Schreiben, schrieb, geschrieben

Hanns-Josef Ortheil begibt sich in „Die Mittelmeerreise“ auf die Spuren der Wahrnehmung

Von Nicola KönigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicola König

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1967 betreten Johannes und sein Vater in Antwerpen den Frachter Albireo und brechen über den Atlantik nach Istanbul auf. Verfasst Hanns-Josef Ortheil mit seiner Mittelmeerreise nach der Moselreise (2010) und der Berlinreise (2014) ein drittes Reisetagebuch aus der Sicht des inzwischen jugendlichen Autors? „Es wird kein Reisebericht und auch kein Reisetagebuch, es wird eine Reiseerzählung“ – klärt der Erzähler seinen Vater gleich zu Beginn über die Unterschiede der Gattungen auf. Während ein Bericht die trockenen Fakten verhandle, konzentriere sich ein Tagebuch auf Empfindungen und Gefühle. Die Erzählung hingegen enthalte neben Fakten und Emotionen vor allem Figuren: Den Kapitän, den Ingenieur, den Steward Dennis und im Zentrum Vater und Sohn – Passagiere, Reisende, Zeichnende, Schreibende und Liebende, die ein letztes Mal gemeinsam unterwegs sind.

Als Erzähler konstruiert und komponiert der 15-jährige Johannes verschiedene Textsorten – Auszüge aus seinem eigenem Tagebuch und dem des Vaters, Postkarten an die daheimgebliebene Mutter, Briefe, journalistische Skizzen, essayistische Betrachtungen und Berichte – zu einer Erzählung. Ortheil musste sich die Frage, ob das tatsächlich die Aufzeichnungen eines Heranwachsenden sind, schon bei den bereits erschienenen Reisetagebüchern gefallen lassen, als sein elfjähriger Erzähler über die Wanderung an der Mosel berichtet und um ein Jahr gealtert die Streifzüge durch Berlin wiedergibt. Eine ausführliche Antwort findet sich in Der Stift und das Papier (2015); der Roman gibt Auskunft darüber, wie Texte entstehen und welche Bedeutung genaues Beobachten und Skizzieren dabei spielen. Johannes hingegen reagiert auf die Wirkung, die seine Texte auf die Leser ausüben, beinahe verärgert:

Jahrelang habe ich Tag für Tag Klavier geübt und jahrelang habe ich Tag für Tag kleine Texte geschrieben. Das war viel Mühe und Arbeit. Harte Arbeit! Deswegen beherrsche ich inzwischen zwei Dinge einigermaßen: Klavierspielen und kleine Texte schreiben. Sonst kann ich nichts, gar nichts, verstehst Du! Ich kann überhaupt nichts von dem, was andere Jungen in meinem Alter können.

Für den Jungen, der seit frühester Kindheit jeden Tag Miniaturen, Beobachtungen und Skizzen verfasst, der sein eigenes Schreiben und seine Musik beständig gegen den Einbruch der Gegenwart und des Alltäglichen verteidigen muss, existiert kein reales Alter als Schriftsteller.

Aber was wird in Mittelmeerreise verhandelt, wenn es sich nicht um ein Reisetagebuch handelt? Ortheil erzählt drei unterschiedliche Geschichten: die Reise nach Istanbul, den Aufbruch zu sich selbst und die Geschichte des Schreibens. Diese Erzählstränge sind architektonisch durch die Reiseroute, leitmotivisch durch die Reflexionen über das Schreiben ineinander verwoben. Der Ablauf der Reise lässt sich dabei in drei Teile untergliedern: Den ersten Abschnitt verbringen Vater und Sohn damit, den Kosmos des Frachters zu beobachten: Weite, Leere und Haltlosigkeit prägen ihren Alltag. Die Außenwelt, die Bewegtheit am Vorabend von 1968, scheint keinen Weg auf den Frachter zu finden. Es sind vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen zu den Mitgliedern der Besatzung, die eine Rolle spielen. Das Schreiben wird dabei zum Akt der Selbtvergewisserung und stellt einen Bezug zur Wirklichkeit und Umwelt des Erzählers her. Während also Johannes im Salon und auf Deck liest und schreibt, zeichnet der Vater ununterbrochen: Zunächst die erahnte, nur imaginierte Küstenlinie, später, wenn die Mittelmeerländer in den Blick kommen, versucht der Vater eine Kartografierung des Gesehenen vorzunehmen.

Bei ihren Landgängen im zweiten Teil nähern sich die Reisenden auf den Spuren des Odysseus dem kulturellen Abendland an: „Sag mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat / Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, / Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.“ Gegen Ende der Reise dominieren die Beziehung zwischen Vater und Sohn, das Abschiednehmen und der Aufbruch: Der Erzähler wird erwachsen, verliebt sich und beginnt sich vom Vater abzugrenzen.

Die dritte Geschichte ist die vertrauteste und zugleich überzeugendste. Es ist die des Schreibens, durch das der Erzähler Halt in der Welt findet – wenn auf dem Meer kein Land in Sicht ist, er nicht weiß, warum er noch nie etwas von den Beatles gehört hat, wenn der Rumpf des Frachters ihm unheimlich, fremd und angsteinflößend erscheint und er hilflos ist, wie er seiner griechischen Freundin gegenübertreten soll.

Was aber zeichnet dieses Schreiben aus, das in Ortheils Werken eine derart dominante Position einnimmt? Zunächst spielen biografische Momente für den Schreibprozess und die ästhetische Komposition eine entscheidende Rolle: Das eigene Schweigen und das seiner Mutter prägten seine Kindheit und ließen den Vater zu seinem Schreiblehrer und ersten Leser werden. Worte wurden gesammelt und montiert, Gegenstände betrachtet und beschrieben, Dialoge beobachtet und notiert. In diesen Passagen mutet die Mittelmeerreise wie eine Anleitung zum Schreiben an. Noch immer ist dieses Erzählen langsam, zuweilen langatmig genau und ungebrochen autobiografisch. Auch auf der Albireo wird dieses Kapitel des frühen Schreibens durch Relikte der Kindheit lebendig: So war ein Holzrahmen auf den Spaziergängen und Reisen von Vater und Sohn ständiger Begleiter und ermöglichte, unterwegs Beobachtungen festzuhalten. Auf dem Frachter dient dieser Rahmen dem Vater zum Zeichnen, für Johannes ist er nun keine der „Behandlungsideen gegen meine diversen Defekte. Wenn ich den Rahmen in die Hand nehme, fällt mir sofort etwas ein, ich brauche nicht nachzudenken, die ersten Sätze ergeben sich einfach von selbst.“  Dieses automatische Schreiben prägt Ortheils Verständnis von der Erlernbarkeit des Schreibens.

Schreiben scheint aber für den Erzähler immer auch eine Verarbeitungsfunktion einzunehmen – um seine Umgebung zu verstehen, mit ihr in Kontakt zu kommen und das Erlebte festzuhalten. Welche zum Teil grotesken Züge diese Vergewisserung und Verarbeitung annehmen können, wird deutlich, als er mit seiner griechischen Freundin Delia einen Tag am Kap Sounion verbringt. Manchmal liegen die einzelnen Aufzeichnungen kaum 20 Minuten auseinander. Ist es die Angst, etwas zu vergessen oder zu übersehen? Ein Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit, die erst im Akt des Niederschreibens ihre Berechtigung erhält? Oder ist es schlichtweg das, was der Erzähler am besten kann. „Manchmal ist das Schreiben kein Triumph, sondern ein hilfloser Akt.“

Bei den Reiseberichten scheint es sich um Fingerübungen im Beobachten zu handeln: „Ich mag keine Fremdenführer, jedenfalls nicht die üblichen, die lange Monologe vor alten Gebäuden halten.“ Stattdessen streifen Vater und Sohn durch die Straßen, ohne Stadtplan, von Neugierde getrieben, hungrig auf Eindrücke und Begegnungen. Der Vater zeichnend, der Sohn schreibend. Im Gepäck die Bücher, die sie in der Bibliothek der Albireo finden und die ihnen von den Crew-Mitgliedern empfohlen werden: die Odyssee, die sie einander vorlesen, der Fänger im Roggen, Der alte Mann und das Meer, Henri Millers Koloss von Maroussi. Je stärker der Erzähler sich von den sicheren Gefilden des Lesens und des bloß Beobachtens entfernt, desto tiefer taucht er in das reale Griechenland ein, um in einem Plattenlanden mit der Junta in Berührung zu kommen, in einer Lagerhalle mit den Beatles und Delia. Diese Begegnungen sind es, die Die Mittelmeerreise davor bewahren, ein in Traditionen verharrender Bildungsroman oder ein Stationen-Epos zu werden.

Schreiben, schrieb, geschrieben: Ortheil moduliert konservierend, selbstreflexiv und kommunikativ die Erlebnisse einer Reise und setzt damit vor allem zwei Kontrapunkte: Die Entdeckung Griechenlands wirkt dabei zunächst anachronistisch sowohl im Hinblick auf die beschriebene Zeit als vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse auf dem Mittelmeer. Das fast vollständige Ausblenden des Politischen und Zeitgenössischen wird aber zu einem Plädoyer für eine genaue, vorurteilsfreie Wahrnehmung der Umgebung und des Selbst. Diese innere Sprachwerdung, das Ringen um einen präzisen, angemessenen Ausdruck zeigt sich in der Materialität der Texte, dem Geschriebenen.

Der zweite Kontrapunkt, den Ortheil setzt, liegt außerhalb des eigentlichen Schreibens selbst, nämlich in der Vermittlung des Schreibens. Ortheil – seit vielen Jahren Dozent für Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim – scheint mit seinen Aufzeichnungen über das Schreiben der in der Schreibdidaktik vorherrschenden Position des Problemlösens entgegenwirken zu wollen. Paradigmen US-amerikanischer Schreibforschung, die die deutschsprachige Forschung nachhaltig prägten und prägen, gehen davon aus, dass Schreiben weitgehend planvoll erfolge und der Bewältigung eines konkreten Problems diene. Basis dieses kognitionspsychologischen Ansatzes sind Protokolle von Schreibenden, die ihren Schreibprozess kommentieren und dadurch sichtbar machen.

Genau das ist es aber, was Ortheil in seinen Werken immer wieder antreibt und sein Schreiben prägt: Das Verstehenwollen, wie Gedanken, Beobachtungen und Gefühle sich in Texten artikulieren, wie Bilder sich in Wörtern materialisieren. Das ist die Reise, auf die Ortheil den Leser mitnimmt. Seine Ausführungen kreisen protokollartig auf der Oberflächenebene um Begegnungen mit Menschen, um Ablöseprozesse und Sorgen eines Pubertierenden. Aber der Text verharrt nicht auf dieser Ebene; Literatur ist für ihn kein Ratgeber, Tagebuch oder Reiseführer. Ortheil geht es nicht allein um die Probleme der jeweiligen literarischen Figur und deren Bewältigung, sondern um den Akt des Schreibens selbst und des sich Einschreibens in Figuren. Die Ressourcen dieses Schreibens sind die Welt der Musik und der Bücher, Dialoge und detaillierte Beobachtungen. Diesen langsamen, langwierigen und zuweilen auch anstrengenden Prozess der Wahrnehmung macht Ortheil in dieser Reiseerzählung sichtbar.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Die Mittelmeerreise. Roman eines Heranwachsenden.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
639 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875354

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