Theodor Fontane und die Anforderungen des literarischen Marktes

Iwan-Michelangelo D’Apriles packende Fontane-Biografie gewährt viele originelle Einblicke

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer heute eine Biografie über Theodor Fontane (1819–1898) schreibt, hat beste Voraussetzungen. Gerade jetzt, kurz vor der 200. Wiederkehr seines Geburtstages, blüht die Fontane-Forschung: Wissenschaftsverlage veröffentlichen laufend Studien, Tagungen werden abgehalten, und die Große Brandenburger Ausgabe der Werke Fontanes geht ihrem Abschluss entgegen. So hat es ein Fontane-Biograf auch schwer, sich in dieser Fülle zurechtzufinden. Iwan-Michelangelo D’Aprile, der an der Universität Potsdam lehrt, ist dies zweifelsohne gelungen; sein Buch Fontane, mit einem Personenregister von 600 Namen, verarbeitet die frühen Erkenntnisse ebenso wie die klassischen Abhandlungen von Tau, Roch und Reuter bis hin zu den neueren und neuesten Werk- und Briefkommentaren.

Dabei setzt D’Aprile eigene Akzente; „Ein Jahrhundert in Bewegung“ lautet der Untertitel seiner Biografie. Mehr als jedem anderen Fontane-Biografen vor ihm geht es ihm auch um die soziologischen, politischen und weltanschaulichen Tendenzen und Wechselfälle des 19. Jahrhunderts. Fontane hat sie erlebt, ja nicht nur das: Er musste auf sie reagieren, um seine Werke zu schaffen – Werke, die ihm und seiner Familie den Lebensunterhalt einbringen sollten. Der Autor war gezwungen, auf „Profile der Zeitungen und Zeitschriften, auf Verleger- und Redaktionsvorgaben“ Rücksicht zu nehmen, eben „flexibel auf die Marktanforderungen“ zu achten. Das liest sich plakativ, wird aber von D’Aprile sorgfältig begründet; er ist ein hervorragender Kenner der damaligen Verlags- und Medienwelt. An einer Stelle geht er so weit, dass er Fontanes Schaffen „lebenslange Versteckspiele“ nennt. Er resümiert: Das Bild vom „Genie, das aus seiner Individualität heraus sein Werk ‚organisch‘ hervorbringt, geht an Fontanes Schreibrealität vorbei“.

Im Alter schließlich, als er berühmt war, hat Fontane in seinem großen Roman Der Stechlin selbst höchst kunstvoll dargestellt, wie die Fakten der alltäglichen Politik und Kulturpolitik auf unser Denken und Handeln einwirken. D’Apriles dreizehn Seiten Erläuterungen zum Stechlin, diesem „vielstimmigen Epochenbild einer Gesellschaft im Umbruch“ mit seinem „Tableau von rund hundert Figuren“, sind eine meisterhafte Interpretation, die die immense Sekundärliteratur zu diesem Roman bündig zusammenfasst und da und dort noch vertieft. Dabei macht er geradezu amüsante Beobachtungen: Im Stechlin treffen zufallsartig andauernd Menschen aufeinander, ähnlich wie in Arthur Schnitzlers Reigen, „nur dass nicht wie bei Schnitzler miteinander geschlafen, sondern immer nur geredet wird“.

Doch stellen wir D’Apriles Buch vor, indem wir die drei Themen „Leben“, „Werk“, „Epoche“ einzeln angehen. Was die Fakten von Fontanes Vita betrifft: Der Autor erfasst sie übersichtlich, wie schon die Titel seiner drei Großkapitel zeigen; sie lauten „Apotheker auf der Flucht“ – hier die ersten 30 Jahre, Fontane im bürgerlichen Beruf und Verfasser von historischen Balladen –, „Journalist im Dienst“ – kümmerliches Arbeiten in Pressebüros, aber mit Englanderfahrung und dem Aufstieg zum Kulturjournalisten der Mark Brandenburg – und „Romancier der Hauptstadt“ – die Niederschrift seiner 17 großen Zeit- und Gesellschaftsromane. Wir erfahren, dass Fontane 1848 als Demokrat auf die Barrikaden ging, sich später konservativen Zeitungen andiente und im Alter äußerte: „Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar“. D’Aprile hat nichts Wesentliches ausgelassen. Besonders interessant ist, wie sich Fontane ein Netzwerk von Bekannten aus der Apotheker- und Chemiker-Szene aufgebaut hat (der Rostocker Friedrich Witte, Zulieferer für die Pepsi-Cola-Produktion, gehörte dazu), wie er 1844 als einer der ersten Pauschaltouristen nach London reiste und wie er dank seiner vorher absolvierten bildungsbürgerlichen Italien-Reise zu dem (nur kurz währenden) Beamtendasein an der Berliner Akademie der Künste gelangte. Als Fontane in französischer Kriegsgefangenschaft war, waren es vor allem ihm fremde Kreise, nämlich „Franzosen, Juden und Katholiken“, die seine Freilassung bewirkten.

Zu korrigieren ist: Fontanes Frau Emilie, außerehelich geboren, ist die Tochter einer Witwe, nicht einer untreuen Ehefrau; und die Berliner Gewerbeschule war nicht irgendeine Anstalt für nützliches Wissen, sondern, in moderner Terminologie, ein mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium mit hochkarätigen Lehrern, die zum Teil Professoren an der Universität waren. Seine „intime Beziehung“ zum Pflanzenreich, die D’Aprile einmal herausstellt, hatte Fontane von dort.

Bei der Betrachtung des Werkes geht D’Aprile zunächst auf die Gedichte und die Reisetexte ein: In den vaterländischen Balladen mit ihrer „einheitlichen Volksliedstrophe“ bemerkt er eine „Ohrwurmqualität“, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg sieht er sowohl romantisch als auch realistisch fundiert. Diese Bände seien ein „joint venture“ von Fontane und Verleger Hertz (der Vorschuss gewährte und mitwanderte) und außerdem ein preußisches „Aufholprogramm“, denn in Süddeutschland war die Regionalforschung schon weiter. Um die Inhalte der Romane wiederzugeben, skizziert D’Aprile gelegentlich die Diskussionen, die sie in den Redaktionsstuben ausgelöst haben. Sie erzählen von Normverstößen in der Gesellschaft und sind oft sogar „gleichsam sozialpsychologische Versuchsanordnungen mit offenem Ausgang“. Bemerkenswert ist, dass D’Aprile Effi Briest und den ganz anders aufgebauten Amerika-Roman Quitt gemeinsam beleuchtet: Hier wie dort, bei dem Totschlag beziehungsweise dem Duell, gehe es um eine Art „Ehrengerichtsverfahren“. Auch Fontanes theoretische Schriften kommen zur Sprache; der große Essay Poesie seit 1848 wird völlig zu Recht als Fontanes „Realismus-Manifest“ bezeichnet.

In seinen Angaben zur Epoche führt der Autor, wie erwähnt, nicht nur die Medien an, sondern stellt auch die Grundzüge der damaligen preußischen Geschichte und das zur Weltstadt wachsende Berlin vor. Er nennt viele Einzelheiten der Kulturentwicklung: die Anfänge des Cook’schen Reisebüros, den Aufstieg des Verlegers Samuel Fischer, die Forschungen Rudolf Virchows über das Nervensystem. Zahlreiche alte Abbildungen auf besonderen Kunstdrucktafeln machen diese untergegangene Welt sichtbar.

D’Apriles Sprache ist erfrischend handfest und schwungvoll; manchmal hat sie einen lässigen Umgangston: Rezensent Julius Rodenberg fühlte sich durch die Langweiligkeit von Fontanes erstem Roman „veräppelt“, Wilhelm II. konnte die Nobelpreisvergabe an Gerhart Hauptmann „beim besten Willen nicht verhindern“. Jedenfalls schreibt D’Aprile sehr einprägsam. Der sogenannten Kreuzzeitung (Neue Preußische Zeitung) attestiert er eine „abstoßende Mischung aus reaktionärer Frömmigkeit und denunziatorischem Schmuddeljournalismus“. Großartig und zutreffend ist sein Lob für Fontanes Ehefrau: „Emilie Fontane war nicht nur Geschäftsführerin, erste Redakteurin, Lektorin und Buchhalterin, sondern auch literarische Ratgeberin und manchmal auch Koautorin.“

Wenn D’Aprile so sehr daran gelegen ist, Fontanes Produktion in die Zeitumstände und die literarischen Marktansprüche von damals einzubinden, so stellt sich bei aller Zustimmung und Bewunderung gegenüber seinen diesbezüglichen Darlegungen die Frage: Aber bitte, wo bleibt die Gegenwart, warum wird Fontane heute noch und wieder gelesen? Doch auch dafür liefert der Biograf gute Hinweise. Durch Fontanes Schreibtechnik „des Neuordnens, Kompilierens, ständigen Überarbeitens“ haben seine Romane einen „experimentellen“ Charakter. Überdies lässt Fontane seine weiblichen Figuren emanzipiert denken; sie getrauen sich mehr, als er selbst in seinen Briefen den Frauen zugesteht. „Das gründerzeitliche Berlin in Fontanes Romanen ist eine Stadt der Frauen.“ Fontane erweist sich somit auch als ein moderner Schriftsteller.

Titelbild

Iwan-M. D'Aprile: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
544 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783498000998

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