Nicht mehr als 100 Wörter

In ihrem Roman „Vox“ führt Christina Dalcher die Prinzipien einer misogynen Theokratie vor

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„ICH GLAUBE, dass der Mann nach dem Bilde und zum Ruhme Gottes geschaffen wurde, die Frau aber zum Ruhme des Mannes, da der Mann nicht aus der Frau geschaffen wurde, sondern die Frau aus dem Mann“ – so lautet der Beginn des plakativen sexistischen Credos, das die Grundlage der neuen amerikanischen Regierung bildet. Nach der Machtübernahme von Präsident Bob Myers sorgen eine Reihe von theokratischen Erfüllungsgehilfen, allen voran Reverend Carl Corbin, dafür, dass Mädchen und Frauen nicht mehr als 100 Wörter am Tag sprechen. Allen wurde ein Wörterzähler an das Handgelenk montiert. Jedes Wort zu viel ahndet der Minicomputer mit Stromschlägen, deren Intensität mit jedem weiteren Verstoß zunimmt. Für Frauen gilt darüber hinaus ein strenges Berufsverbot, denn jede solle sich auf ihre ureigensten Pflichten der Reproduktion und Haushaltsführung besinnen und dabei die regierungsbildende Bewegung der „Reinen“ unterstützen.

In diesem zeitgenössischen Amerika lebt Dr. Jean McClellan, Neurowissenschaftlerin, kognitive Linguistin und Spezialistin für Wernicke-Aphasie. Seit mehr als einem Jahr darf sie ihr Labor nicht mehr betreten. Ihr Ehemann Patrick, mit dem sie drei Kinder – zwei Jungen und ein Mädchen – hat, ist enger Berater des Präsidenten. Steven, der älteste Sohn des Paares, geht noch zur Schule, ist aber dort neben seinem Unterricht in Sachen Staatserziehung für die „Reinen“ unterwegs. Nachdem seine Freundin Julia auf ihren Wunsch hin mit ihm Sex hatte, zögert er nicht, sie zu denunzieren, bereut dies aber schmerzlich, als sie mit geschorenen Haaren in einer Fernsehsendung auftreten muss und ihre Deportation in ein Straflager kurz bevorsteht.

Jean erhält überraschenderweise die Chance, dass der Wortzähler von ihrem Handgelenk deinstalliert wird. Als Wissenschaftlerin werde sie gebraucht, weil sich der Bruder des Präsidenten bei einem Skiunfall eine linkshemisphärische Läsion zugezogen habe, die sein Sprachzentrum blockiere. So handelt Jean mit Reverend Carl aus, dass auch ihre Tochter Sonia wieder sprechen darf, so viel sie möchte. Die Mutter kehrt in ihr Labor zurück, wo sie Lorenzo, ihren Kollegen und Liebhaber, wiedertrifft. Außerdem stellt sie fest, dass sie von der einzigen geheimen Begegnung mit Lorenzo während der Zeit ihres Berufsverbots schwanger geworden ist.

Im Laborgebäude ist nicht allein die ursprüngliche Forschungsgruppe aktiv, deren Projekt der Entwicklung des Medikaments gegen Wernicke-Aphasie kurz vor ihrem Abschluss steht, sondern zwei weitere Gruppen führen Versuche durch. Vor allem ihnen ist die Transformation des Labors in einen geheimnisträchtigen Hochsicherheitstrakt zu verdanken, soll doch die erste Gruppe das neu entstehende Medikament so modifizieren, dass es Wernicke-Aphasie hervorruft und die zweite wiederum just dieses Mittel so manipulieren, dass es wasserlöslich wird und großflächig als biologische Waffe eingesetzt werden kann.

Nebenbei enttarnt Jean ihren Postboten als aktiven Widerständler. Eigentlich ist er ein Ingenieur, der seiner Frau und seinen Töchtern den echten Wörterzähler durch ein Fake ersetzt hat und auf einer Farm im Abseits des Stadtzentrums den Umsturz vorbereitet. Jeans Ehemann Patrick und Poe, der Aufseher im Labor, opponieren mit ihm gegen die Regierung.

In einem rasanten Showdown, in dem es nicht zuletzt um den Test des Wernicke-Medikaments geht, trifft Jean ihre ehemalige Kommilitonin und militante Feministin Jackie Juarez wieder, die viele Jahre in einem Arbeitslager inhaftiert war. An ihr sowie an Jeans Kollegin Lin Kwan und deren Lebensgefährtin soll das Medikament zum Auslösen der Wernicke-Aphasie getestet werden. Doch nach einigen weiteren Verwicklungen, unter anderem gehört dazu ein Anschlag auf das Weiße Haus, werden die Kommandeure der theokratischen Diktatur gestürzt und Neuwahlen im Hinblick auf eine demokratische Regierungsform stehen an.

Frauen mittels partieller Cyborgisierung, mit der festen Installation des Wörterzählers am Handgelenk, zum partiellen Mutismus zu verdammen, sie damit zu demütigen und zu willfährigen Objekten zu machen – darauf basiert die Handlung des Romans. Die quantitative Maßnahme des Wörterzählens kann ad libitum qualitativ erweitert werden, so etwa mit dem Einbau eines „Höflichkeitstrackers“, der Schimpf- und andere Tabuwörter identifiziert und ihren Gebrauch sofort bestraft. Der Roman spielt in einer nicht näher bezeichneten Universitätsstadt (dass „Mardi gras“ eine Rolle spielt, legt einen Bezug zu New Orleans nahe) in einem zeitgenössischen Amerika, in „Trump-Land“, dort also, wo ein Präsident regelmäßig frauen- und fremdenfeindliche Statements in die Welt hinein twittert. Dass ihm dies nicht zum Verhängnis wird und er trotz mancherlei Unkenrufe an der Macht bleibt, hat er nicht zuletzt dem „Bible-Belt“ in den Südstaaten zu verdanken, all jenen Menschen, die in Dalchers Fiktion nicht von ungefähr die regierenden „Reinen“ supporten. Dalchers Idee ist gut, die Parallelen offensichtlich. Schwierigkeiten treten dann auf, wenn der an sich guten Idee Komplexität verliehen werden muss, wenn es gilt, das Konzept so auszuarbeiten, dass eine spannungsreiche Handlung kohärent wirkt und keine losen Enden überstehen. In dieser Hinsicht offenbart sich eine Reihe von Schwächen.

Zunächst droht Dalchers Text die Gefahr, unter seinen unzähligen Handlungselementen zusammenzubrechen. Dieses Zuviel bedingt Ungereimtheiten und einen Mangel an Ausarbeitung. So wird zum Beispiel Jean als „Göttin, die verlorene Stimmen zurückbringen konnte“ apostrophiert, die sich – so heißt es wenig später – zur „Frau weniger Worte“ wandeln musste. Die unmittelbar einsichtige bittere Ironie verdünnt sich leider zum schalen Gimmick, denn sie wird anfänglich gesetzt, ohne nachhaltig zu wirken oder weiter elaboriert zu werden. Vor allem jedoch ist es grundlos, hyperbolisch zu schreiben, dass Jean Stimmen zurückgeben kann, denn Menschen, die an Wernicke-Aphasie leiden, haben ihre Stimme nicht verloren. Ist das „Zurückbringen der Stimmen“ metaphorisch zu deuten? Vielleicht. Wernicke-Aphasie bezieht sich weder auf das Verstummen noch auf Störungen in der Sprachproduktion, ist also nicht zu verwechseln mit der Broca-Aphasie. Bei Wernicke dominieren unkontrollierte, nicht verständliche Äußerungen, sie zeigen ein Defizit in der semantischen Codierung an, bei dem die Entwicklung der Waffe ansetzt. Ihr Einsatz soll eine babylonische Sprachverwirrung unter den Völkern hervorrufen. LeserInnen werden anfänglich in eine falsche Richtung gelenkt und, mehr noch, wenn endlich Klarheit über die Symptome herrscht, verliert Jean kein Wort darüber, wie die Medikamente respektive die Waffen funktionieren sollen. Nicht nur darüber hätte man gerne ein bisschen mehr erfahren. Die Lakonie, mit der die Aufklärung medizinischer Fragestellungen umgeben wird, zieht sich durch den ganzen Roman, was insofern nicht verwunderlich ist, als die abrupt aufeinanderfolgenden Action-Sequenzen gerade noch das „Was“, aber nicht mehr das „Wie“ unterstützen. Zwischen beidem eine gute Balance zu finden ist nicht einfach. Als gute Inspirationsquelle für diesen Spagat hätte Dalcher beispielsweise Aldous Huxleys Klassiker Schöne neue Welt dienen können.

Eine Art Gegenstück zur Atemlosigkeit der Action-Elemente bietet Jeans Liebe zu Lorenzo. Doch auf diese Kontrapunktierung und auf die sich daraus ergebende verkitschte Schmonzette zu verzichten, hätte dem Roman wiederum gutgetan. In diesem Fall wäre die schnelle und unglaubwürdige Lösung am Ende – Ehemann kommt bei Putschversuch ums Leben, damit seine Frau mit ihrem Geliebten und den Kindern nach Italien auswandern kann – ebenfalls nicht notwendig geworden.

Bei aller Kritik ist dem Roman zugutezuhalten, dass einige Szenen sehr intensiv und packend zu lesen sind. Da ist etwa die Verhaftung von Julia, später der Selbstmordversuch ihrer Mutter Olivia und der Erfolg, den Jean und ihre Forschungsgruppe feiern, als die Wernicke-Patientin Mrs. Del (Mutter des Postboten/Ingenieurs und Oppositionellen) nach dem Injizieren des Anti-Wernicke-Medikaments einen grammatikalisch korrekten Satz zu den Versuchskaninchen, von denen sie umgeben ist, äußern kann. Hinsichtlich dieser Tiere hätte man sich jedoch zumindest den Anflug einer Problematisierung wünschen dürfen. Ähnliches gilt für die Phobie, die Jean vor dem Setzen von Spritzen in Mäuse hat sowie für die aggressiven Primaten, die im letzten Stadium der Medikamententestung ins Spiel kommen.

Der stark additiven Handlung ohne Tiefgang entsprechen stark typisierte Charaktere. Jean, die kämpferische Wissenschaftlerin, Jackie Juarez, die sozial engagierte Rebellin und Feministin sowie Lorenzo, der Liebhaber mit Macho-Allüren, bleiben in diesen Stereotypen befangen. Patrick und der Postbote wahren den Schein des Mitläufertums, gehen aber in Wahrheit klandestinen Aktivitäten nach. Die Darstellung dieser Dopplung bleibt genauso holzschnittartig wie das Porträt von Jeans Sohn Steven, der als Einziger eine echte moralische Kehrtwendung vollzieht.

„Ein provozierendes Überraschungsdebüt aus den USA“ – so wirbt der Verlag. Feministisch sei der Roman, zudem eine Warnung, eine Geschichte von Unterdrückung – so sagt Christina Dalcher selbst. Zwei Gedanken sollen die LeserInnen aus Vox mitnehmen, so führt sie aus: Zum einen die Einsicht, dass sich die Welt sehr schnell verändern könne, wenn man nicht aufpasse, zum anderen die Dankbarkeit für „das Geschenk der Sprache“ und seine essenzielle Bedeutung „für unsere Existenz“. Dalchers Dystopie ist indessen so schlecht konstruiert, dass sich diese Botschaften nur bedingt vermitteln beziehungsweise andere Schlussfolgerungen sie überlagern. Vox kann beispielsweise auch gelesen werden als Persiflage auf Donna Haraways berühmtes Cyborg Manifesto, des Weiteren nahezu als Variation zu Margaret Atwoods Report der Magd. Auch lässt sich weder die Inspirationsquelle 1984 von George Orwell („Big Brother“ ist entpersonalisiert, bleibt als Kameraüberwachung bestehen) noch der Einfluss von Ray Bradburys Fahrenheit 451 (Bücherverbot; Widerstand, der sich auf dem Land formiert) verleugnen.

Mit ihrem ersten Roman hat sich Christina Dalcher übernommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich nicht an ihren bereits vorliegenden Flash Fiction-Texten orientiert, sondern den Roman a priori als eigenständige Ganzheit konzipiert hätte. Es ist nicht einfach, eine qualitativ hochwertige Dystopie zu verfassen. Herausgekommen ist bei Dalcher ein Hybrid zwischen Spannung und Langeweile sowie zwischen Literarizität und Trivialität mit starkem Hang zu letzterem.

Titelbild

Christina Dalcher: Vox. Roman.
Aus dem Amerikanischen Englisch von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhof.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
397 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974072

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