Eine zentrale Gestalt der literarischen Moderne

Björn Weyand und Bernd Zegowitz versuchen die Rolle Otto Julius Bierbaums in der Literatur der Jahrhundertwende wieder ins heutige Bewusstsein zu holen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist vergessen – denn wer kennt Otto Julius Bierbaum heute noch? Dabei war er nicht nur einer der ersten Repräsentanten des deutschen Kabaretts, besonders des literarischen deutschen Chansons, sondern hat auch eine Reihe epochemachender literarischer Unternehmungen  redaktionell betreut, so die Freie Bühne, die Insel, den Pan, ohne sie allerdings zu einem Abschluss zu führen. Er war ein obsessiver Schreiber und ein perfekter Imitator, was die Adaption tradierter Formen und fremder Stoffe anbelangt, der es dennoch verstand, ironische Distanz seinen Geschöpfen gegenüber walten zu lassen.

Seine Welt war durch das Bürgertum wie das Künstlertum geprägt – und oft standen beide Daseinsformen einander im Wege: der Bürger als Student, der sich zwar gegen das Philistertum wehrt, sich ihm aber dann um so hoffnungsloser ausliefert (Studenten-Beichten, 1892 und 1897); der Künstler als Bohemien, der als solcher genau dem Zerrbild entsprechend lebt, das sich der Bürger von ihm macht (Kaktus und andere Künstlergeschichten, 1898). Schließlich führt Bierbaums großangelegter Zeitroman Stilpe (1897) – er trägt den Untertitel ein Roman aus der Froschperspektive – in das Treiben der Boheme der 1890er Jahre und gibt eine kritische Bestandsaufnahme der sich antibürgerlich gebärdenden jungen Generation, in der sich privater Anarchismus mit stockkonservativer Gesinnung paart. Die tragikomischen Verstrickungen des Titelhelden, der als versoffenes Genie seine Lebensballade vorträgt, enden damit, dass er sich auf der offenen Bühne eines Tingeltangels an einem Laternenpfahl erhängt.

Schon allein diese wenigen Werke Bierbaums werfen eine Fülle von Fragen und Problemen auf, die sich lohnen, erörtert zu werden.Ein von Björn Weyand und Bernd Zegowitz herausgegebener Sammelband erinnert jetzt an das vielfältige Schaffen Bierbaums als Lyriker, Theater- und Prosaautor, Essayist, Förderer junger Autoren, Kunstvermittler, Herausgeber von Zeitschriften und Übersetzer des Pinocchio. Der Autor war schon zu Lebzeiten umstritten. 1910, mit gerade einmal 45 Jahren, ist er verstorben. Sein Zeitroman Prinz Kuckuck (1906–08), in dem ein umfassendes Panorama des wilhelminischen Zeitalters entworfen wird, wurde 1919 verfilmt, das Drehbuch verfasste kein Geringerer als Georg Kaiser. Diesem Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne, als den ihn der Untertitel des Bandes ausweist, wird in sechs Sektionen nachgespürt: Bierbaums Erneuerung der Lyrik kommt ebenso zur Sprache wie die Schreibweisen der Moderne. Das Varieté als neue Kunstform wird gleichermaßen behandelt wie Bierbaums Reisen oder das von ihm betreute Zeitschriftenprojekt Die Insel. Schließlich wird sein Werk im Kontext der Künste untersucht.

Warum hat Bierbaum ausgerechnet das scheinbar veraltete Medium des Musenalmanachs wiederzubeleben und zu einem „Forum der Modernen“ umzugestalten versucht, fragt Wolfgang Bunzel. Mit der Neukonzeption einer Hauptverbreitungsform poetischer Texte gab Bierbaum der mit dem Naturalismus einsetzenden Regeneration der Lyrik einen entsprechenden medialen Rahmen. Der Musenalmanach öffnete sich nicht bloß für die Berliner Naturalisten, sondern auch für Vertreter nach- beziehungsweise gegennaturalistischer Dichtungskonzepte.

An Detlev von Liliencron als exemplarischen Dichter der Moderne hat sich – so Dirk Rose – auch Bierbaums eigene lyrische Textproduktion orientiert. Letzterer forderte eine „angewandte Lyrik“, die die konsequente Fortsetzung seines ersten Gedichtbandes Erlebte Gedichte (1892) als produktionsästhetisches Programm darstellt. Es bedurfte für die Erschließung der Lyrik der Frühen Moderne einer eigenständigen Poetik. Bierbaums Erzählsammlung Studenten-Beichten, konstatiert Sebastian Schmitt, machen sich ihre drucktechnischen Möglichkeiten zunutze und übertragen das Spiel der Semantisierung auf den eigenen Datenträger Buch. Diese Sammlung wird zu einem Experimentierfeld avantgardistischen Schreibens  über die ungenutzten ästhetischen Potenziale des Buches in Zeiten uniformierter Reproduktion. Auch der bildnerische Schmuck muss zur Sinndeutung herangezogen werden.

Robert Seidel stellt die unter dem Pseudonym Martin Möbius publizierten Steckbriefe (1900) vor, die Bierbaum den damals populären sogenannten Pathografien nachgestaltet hat, und vergleicht sie mit Hanns von Gumppenbergs Teutschem Dichterroß  (1901), das Parodien zeitgenössischer Lyrik enthält.

Birgit Ziemer untersucht Bierbaum als Zeitkritiker, Dokumentarist und literarischen Seismografen einer Umbruchsepoche. Am Beispiel von Pankrazius Graunzer und Stilpe tritt sie den Nachweis an, dass der Autor durch eine Ästhetik literarischer Selbstpopularisierung den Versuch unternommen hat, für die literarische Produktion im Fin de Siècle eine neue Leserschaft zu erschließen und der Literatur als Kunst wieder zu gesellschaftlicher Relevanz zu verhelfen. Doch seine Unternehmungen kehrten sich gegen seine literarischen Produktionen selbst, sodass sie als vermeintliche Trivial- oder Schundliteratur bis heute keinen Eingang in einen Literaturkanon deutscher moderner Literatur fanden, den Bierbaum doch mitbegründen wollte.

Zäpfel Kerns Abenteuer. Eine deutsche Kasperlgeschichte (1905) ist das wohl erfolgreichste Werk Bierbaums, jedoch hat eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Erzählung nur ansatzweise stattgefunden. Gabriele von Glasenapp fragt, ob sie als bloße Übersetzung oder Nachdichtung im Kontext von Carlo Collodis Pinocchio-Roman zu betrachten ist. Bierbaum hat seinem Werk neben dem kindlichen auch einen zweiten, einen erwachsenen Leser eingeschrieben. Zäpfel Kern wandelt sich von der „realen“ Kasperfigur zur idealen Kindheitsvorstellung, zu einer kindlichen Figur, die immer Kind bleiben darf.

Bierbaums Singspiele, so Walter Hettche, stehen zwischen Tradition und Moderne, es sind späte Nachblüten der Literatur des 18. Jahrhunderts. Dagegen sind dem Zeitroman Prinz Kuckuck aufgrund seiner satirischen Wirkung größere Wiederentdeckungschancen einzuräumen. Carola Hilmes schlägt vor, ihn zunächst als Entwicklungsroman zu lesen. Der Antiheld wird als „Stehaufnatur“ vorgestellt. Dann zeigt Bierbaum Prinz Kuckucks „Lebenskomödie“ als Varietéprogramm – es geht um die Rückübersetzung des modernen Unterhaltungsprogramms in die Lebensgeschichte einer literarischen Figur. So erweist sich der Roman als ein aufschlussreiches literarisches Dokument. Auch Bernd Zegowitz unternimmt einen Rettungsversuch des „chinesischen“ Romans Das schöne Mädchen von Pao (1899), indem er ihn als Varieté- oder Kabarett-Roman deutet. Denn die zahlreichen lyrischen Einlagen im Pao-Roman weisen die Kennzeichen eines Chansons auf. Bierbaum bündelt Themenkomplexe der Literatur der Jahrhundertwende wie Körper, Geschlecht, Sexualität, Ehe und Familie, ohne diese organisch in die Fabel des Schönen Mädchens von Pao integrieren zu wollen. Zegowitz sieht den Roman als eine Satire auf das Wilhelminische Deutschland an, die mit der Verfremdung von Zeit und Ort durch eine exotische Kulisse arbeitet.

Ein ganzer Komplex ist den „unzeitgemäßen und zeitgemäßen Reisen“ Bierbaums gewidmet. Sein 1903 erschienenes Reisebuch Eine empfindsame Reise im Automobil schildert eine Fahrt, die das Ehepaar Bierbaum 1902 mit einem Cabrio der Marke Adler von Deutschland über Prag und Wien und zurück über die Schweiz unternahm. Es gilt als erstes Autoreisebuch der deutschen Literatur. Anne-Rose Meyer sieht die Modernität dieses Reisetextes in der Darstellung einer „Schwellensituation“ begründet, die erst durch das Automobil als neuem Reisemittel für das beobachtende empfindende Erzählersubjekt entsteht und die Bierbaum durch intertextuelle Bezüge und kulturhistorische Reflexionen inszeniert. Es ging ihm dabei nicht um die Schnelligkeit des Reisens, sondern um die Freiheit der Bewegung, neue Eindrücke mit Genuss und Vergnügen aufnehmen zu können. Dass man sich auf Bierbaum als „traditionsstiftende Referenzfigur“ für einen vorgeblich „typisch deutschen“ Automobilismus berufen zu können glaubte, weist Michael Pilz als einen Fall „autochthon modernistischer Schreibweise“ und als offenkundigen Missbrauch des Werkes eines weltläufigen Kosmopoliten, der Bierbaum nun einmal war, aus. Bei den Nationalsozialisten wurde im Gegensatz zu dem empfindsamen „Laufwagen“-Fahrer Bierbaum der Triumph des Geschwindigkeitsrausches mit einem todesverachtenden Heldentum verbunden.

Mit seinem zweiten großen Reisebuch, der Yankeedoodlefahrt (1910), erprobte Bierbaum nicht ein unzeitgemäßes, wie es damals noch das Auto war, sondern das zeitgemäße Reisen: die Mittelmeer-Kreuzfahrt, wie sie die damaligen Reisebüros organisierten. Yankeedoodlen statt zu reisen (Bierbaum) betrachtet Björn Weyand als eine Auseinandersetzung mit den Veränderungen des Reisens um die Jahrhundertwende, der Verschiebung des Reisens von der Bildung zu Genuss und Komfort; der Tourismus wird Teil der Konsumkultur, eine Medialisierung des Reisens durch Reise-Kataloge und Reiseführer findet statt, und das Medium der Fotografie führt zu einer bildlichen Aneignung der Reisemotive. Das Reisen legt für Bierbaum den kritischen Blick auf die Oberflächenkultur der Jahrhundertwende frei, das Zerfallen des großen Ganzen in Details oder „Ausschnitte“, die nicht mehr seinem eigenen Bildungsbegriff entsprechen.

Bierbaum hat als erster den Blick auf Buntpapiere als Elemente des modernen Bucheinbandes gelenkt. Dabei hat die Verwendung der venezianischen Druckstöcke von Franz Naager eine wichtige Rolle gespielt, auch der Übergang zum lithografischen Reproduktionsverfahren dieser Münchner Firma. Der Zusammenarbeit Bierbaums mit Naager widmet sich Erich Unglaub. Die breite und nachhaltige Anwendung der Ergebnisse dieser neuen Umschlaggestaltung und Umschlagkultur sind erst ein Jahrzehnt später bei den Bändchen der Insel-Bücherei deutlich sichtbar geworden. Bierbaums frühes Konzept eines flexiblen, bunt bedruckten Einbands auf einem angeklebten Buchblock sollte sich erst mit dem Übergang zum modernen Taschenbuch bestätigt finden.

Die 1899 gemeinsam mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel gegründete Insel bildet die wichtigste und folgenreichste der Bierbaum‛schen Zeitschriftenprojekte. Wie ist es dazu gekommen, dass Bierbaum aus der Mitherausgeberschaft der von 1899 bis 1902 erscheinenden Zeitschrift Die Insel herausfiel, fragt Kurt Ifkovits. Die Zeitschrift galt als Keimzelle des gleichnamigen Verlages, wobei die Verdienste derselben primär Franz Blei und Rudolf Alexander Schröder zugeschrieben wurden, während Bierbaum, der ja bereits 1910 verstarb, für das literarisch Minderwertige verantwortlich gemacht wurde.

Für die Moderne war die Verbindung von bildender Kunst und Literatur ein wichtiger Programmpunkt. Bernhard Walcher wendet sich Bierbaums Kunstverständnis und Künstlerbild zu, wobei er besonders auf dessen Überlegungen und Gedichte zu Arnold Böcklin eingeht. Bierbaums Böcklin-Gedichte werden als erlebnishafte Momentaufnahmen ausgewiesen, während Bierbaum an einer Demonstration der überzeitlichen Bedeutung der Gemälde weniger gelegen war. Christian Schaper beschäftigt sich mit den beiden Bierbaum-Vertonungen von Richard Strauß. Durch freie Rekombination einzelner poetischer Motive ging Strauß über die Vorlage hinaus. Dass die Qualität von Strauß’ Liedern gerade nicht auf der Reproduktion vorgeformter Textstrukturen, sondern auf der Überformung der Vorlage beruht und hierin die eigentlich künstlerische Transformationsleistung besteht, dürfte Bierbaum kaum interessiert haben. Aber um Wortwörtlichkeit ging es Strauß eben nicht.

Sicher wird man nicht das heterogene Gesamtwerk Bierbaums „retten“ können. Aber einiges schon, so auf alle Fälle seine beiden großen Zeitromane, selbstverständlich Zäpfel Kerns Abenteuer, vieles aus seiner Kabarettlyrik, vor allem seine literarischen Chansons, und auch manches seiner Kleinprosa. Aber es geht wohl gar nicht so sehr um die „Rettung“ einzelner Werke, sondern darum, seine Persönlichkeit und sein Werk, das in vielerlei Hinsicht so typisch für die Tendenzen in der Literatur um die Jahrhundertwende war, wieder ins Bewusstsein zu heben. Was Bernd Zegowitz zu Bierbaums Das schöne Mädchen von Pao geschrieben hat, gilt eigentlich für dessen Gesamtwerk: „Was die Forschung diesem Roman zum Vorwurf macht, ist zum einen ein Zeichen der Literatur der Jahrhundertwende: die Ausschnitthaftigkeit, die Selbstständigkeit einzelner Textteile gegenüber dem Ganzen, die Experimentierfreudigkeit. Zum anderen scheint mir Bierbaums Vorbild das Kabarett bzw. das Varieté gewesen zu sein“, weshalb er den Pao-Roman auch als Varieté- beziehungsweise Kabarett-Roman gelesen hat. An dieser Stelle leistet der Studienband tatsächlich Pionierarbeit.

Titelbild

Björn Weyand / Bernd Zegowitz (Hg.): Otto Julius Bierbaum. Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne.
Quintus-Verlag, Berlin 2018.
320 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783947215072

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