Die Jungen und das Lesen – eine schwierige Konstellation?

Ein Sammelband informiert über Konzeption und Angebote des Leseförderprojektes „boys & books“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jungen schneiden nach den Ergebnissen diverser Bildungsstudien in der Regel im Bereich der Lesekompetenz schlechter ab als Mädchen. Besonders Grundschulstudien haben gezeigt, dass am Ende der vierten Klassenstufe gravierende Unterschiede bei den Leseleistungen von Mädchen und Jungen zu konstatieren sind. Seit den PISA-Studien hat dies wiederholt zur Sorge um die männlichen „Lese-Muffel“, die Wenig- oder Nicht-Leser in der Freizeit, geführt. Es wurden verschiedene Lösungswege diskutiert, um durch geeignete Angebote an Stoffen, Themen, Formaten und medialen Settings die Lesemotivation zu steigern.

Ein spannendes und forschungsbegleitetes Kölner Projekt stellt nun der Sammelband Attraktive Lesestoffe (nicht nur) für Jungen vor. Ins Leben gerufen wurde das darin beschriebene Projekt „boys & books“ im Jahr 2012 von der Kölner Literaturdidaktikerin Christine Garbe in Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendbuchautor Frank Maria Reifenberg. Anlass und Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es nun, ein vorläufiges Zwischenfazit zu ziehen, da nach der Emeritierung Garbes im Sommer 2018 die Projektkoordination an die Universität Eichstätt-Ingolstadt gewechselt ist. Damit einher geht die Intention, die online verfügbaren Materialien des Projekts mit Fokus auf die konzeptionellen Grundlagen vorzustellen und theoretisch einzuordnen. Insofern versteht sich der Sammelband als erste Begleitpublikation zu einem digitalen Projekt, das als Internet-Plattform organisiert ist und sich der Problematik widmet, welche Bücher für eine gender-sensible Förderung der Lesekompetenz beziehungsweise Lesefreude von vorrangig lesefernen Kindern und Jugendlichen geeignet sind.

Der Band gliedert sich in sechs Teile, wobei die ersten beiden Beiträge einführenden Charakter haben. Christine Garbe stellt in einem Aufsatz den Konnex von Gender und Genre dar. Sie plädiert darin in Abgrenzung zu sowohl älteren als auch konkurrierenden Konzepten der Leseförderung dafür, Geschlecht „als reflektierte Kategorie für eine gender-sensible Leseförderung beizubehalten“. Mit dem Begriff „sensibel“ verbindet sie die Intention, Geschlechterunterschiede nicht zu ignorieren, sondern als menschliches Entwicklungsphänomen zu berücksichtigen. Der Schwerpunkt dieses einführenden Beitrags liegt in der Revision eines Modells der „fünf Achsen der Differenz“, demzufolge fünf stabile und langfristig wirksame Geschlechterunterschiede beim Lesen konstatiert und empirisch nachgewiesen werden können: Es sind dies die Lesequantität, Lektürepräferenzen, Lesemodalitäten, Lesefreude und Lesekompetenz. Besonders für die letztgenannte Kategorie relativiert und präzisiert die Wissenschaftlerin: Männliches Geschlecht „in Kombination mit anderen Faktoren (vor allem sozio-ökonomischer Benachteiligung, Bildungsferne der Herkunftsfamilie und Migrationshintergrund)“ könne sich „ungünstig auf die Entwicklung von Lesekompetenz auswirken“. Entsprechend skizziert sie Elemente einer gendersensiblen Leseförderung und favorisiert abschließend eine gender-übergreifende Leseförderung, die „allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Schicht oder Glauben einen Zugang zur Welt des Lesens und der (Kinder- und Jugend-)Literatur“ eröffnet.

Einen zentralen Baustein des Projekts stellt Julia Hoydis in ihrem Beitrag vor, indem sie attraktive Lesestoffe für die Zielgruppe mit literarischen Genres und Erzählmustern in Verbindung bringt. Unter Nutzung von positiven Effekten wie populären Erzählmustern oder Serialität geht es nach Hoydis um die Weckung von Lesemotivation bei Jugendlichen im Alter von acht bis sechzehn Jahren.

Der dritte und vierte Teil des Sammelbandes präsentieren den Kern des Projekts: Darin werden zunächst acht Erzählmuster (Abenteuer, Antiheldengeschichte, Fantasy, Horror- und Gruselliteratur, Science-Fiction, Krimis, Zeitgeschichte, Adoleszenz/Coming-of-Age) von neun Autorinnen und Autoren mit jeweils einem oder zwei prototypischen KJL-Werken vorgestellt. Ferner werden vier Sachtextformate beziehungsweise Themen näher beleuchtet: Comics, Sachbücher, Sport, Humor/Komik mit jeweils zwei Textbeispielen für die Zielgruppe. Die insgesamt 21 Textvorschläge bilden ein weites Textkorpus ab, das vielfältige Zugangsweisen und Förderstrategien ermöglicht.

Im fünften Teil des Sammelbandes erläutert Frank Münschke das konkrete Setting des Leseförderprojekts. Neben der Entstehung beleuchtet er intensiv die Grundausrichtung, welche Buchempfehlungen von ehrenamtlichen Mitwirkenden wie Literaturwissenschaftlern, Studierenden und Lehrkräften, Methodenangebote zur Leseförderung sowie wissenschaftliche Leseforschungsprojekte umfasst. Eine bemerkenswerte Beobachtung arbeitet Münschke heraus: „Es sind also gerade Spannungsgenres, die von Jungen präferiert werden: Jungs benötigen Helden, die in fiktionalen Welten Probleme lösen und über sich hinauswachsen. Sie mögen Action, Abenteuer und äußere Handlungen, also Welten, die sie auch aus anderen Medien kennen“.

Der sechste Teil skizziert mögliche Handlungsfelder, die zu einer „Habitualisierung eigenständiger Leseprozesse junger Menschen beitragen“. Christina Gürth stellt in diesem Kontext sachkundig zunächst konzeptionelle Grundlagen des Lesekompetenzbegriffs vor und beleuchtet speziell die Potenziale des eigenständigen Lesens als Basis für eine positive Beeinflussung der Lesesozialisation. Die Autorin betont, es sei zentral in diesem Kontext, „den Kindern adäquates Lesematerial anzubieten. Dafür sollten sie [die Multiplikatoren] zum einen die Lesevorlieben der Kinder- und Jugendlichen kennen und zum anderen eine fundierte Kenntnis des Kinder- und Jugendbuchmarkts haben.“ Insoweit verstehe sich das Projekt „boys & books“ als Unterstützungssystem, da es aus der Fülle der aktuellen KJL-Publikationen gezielt und zielgruppenspezifisch Bücher empfiehlt, die ein hohes Maß an Text-Leser-Passung für sich beanspruchen.

Insgesamt zeigt der Sammelband die Fülle an Möglichkeiten, um leseferne Jugendliche im Allgemeinen und leseabstinente Jungen im Besonderen zum Lesen zu motivieren. Die vorgestellten Primärtexte bieten multiple Zugangsweisen, die wissenschaftliche Expertise der Beitragenden steht außer Zweifel. Jedoch können die sehr lesbar gestalteten Beiträge den Eindruck nicht gänzlich ausräumen, dass die Fixierung auf die Kategorie Geschlecht bei der Leseförderung nicht unproblematisch ist: Die Attribuierung von Geschlechtszuschreibungen mit Themen und Genres suggeriert einen Schematismus von Männlichkeit und Weiblichkeit, der in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Perspektiven heraus kritisiert worden ist. Die Vermeidung der Schwierigkeit, Zielgruppenspezifik simplifizierend als Stereotypisierung zu lesen, prägt den Band wie ein roter Faden. Als praxisorientiertes Projekt hat „boys & books“ in den letzten Jahren verdienstvollerweise die Chance genutzt, für verschiedene Multiplikatoren wie Lehrkräfte, Bibliotheken und Einrichtungen der Jugendarbeit zu illustrieren, wie statistisch signifikante Geschlechterunterschiede im Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen für Maßnahmen und Aktionen zur Leseförderung genutzt werden können.

Titelbild

Christine Garbe / Christina Gürth / Julia Hoydis / Frank Münschke / Uta Woiwod / Andreas Seidler (Hg.): Attraktive Lesestoffe (nicht nur) für Jungen. Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur.
Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2018.
319 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783834018861

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