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Peter Ackroyd begibt sich in „Queer London“ auf einen Parforceritt durch die queere Geschichte der Stadt von der Antike bis in die Gegenwart

Von Johannes StierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Stier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Großstädte, gerade Metropolen wie Berlin, Paris und London sind Zentren queeren Lebens. Das dies nicht erst seit einigen Jahren der Fall ist, belegt nicht zuletzt die Literatur des 20. Jahrhunderts von Christopher Isherwood bis Jean Genet. Queeres, nicht der heteronormativen und geschlechtlichen Norm entsprechendes Leben ist sowohl diskursiv als auch tatsächlich durch die Geschichte hindurch häufig ein Stadtleben. Marginalisierten Gruppen versprach die Stadt nicht nur Arbeit, sondern auch zumindest einen gewissen Schutz durch Anonymität und nicht zuletzt die Aussicht auf ein Leben unter Gleichen. Peter Ackroyd veröffentlicht mit Queer London einen Band, in dem er die Geschichte des homosexuellen London näher beleuchtet. Der Untertitel verspricht dabei mit Von der Antike bis heute einen weitreichenden Überblick auf nicht einmal 300 Seiten.

Ärgerlich ist in diesem Fall allerdings der Klappentext. Laut Verlag feiert der Autor die Vielfalt der queeren Community mit „unfehlbarem Blick für das Kuriose“, ohne auszublenden, mit welchen „Schwierigkeiten“ Homosexuelle und Transpersonen in allen Zeiten zu kämpfen hatten. Was Ackroyd vielfach beschreibt, sind allerdings keine interessanten Kuriositäten, sondern Menschen mit konkreten, oft grausamen Schicksalen. Kurios sind queere Menschen bestenfalls in den Augen von Teilen einer heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft. Um den Leser*innen den Band näherzubringen, verspricht der Einband mehr einen Blick in ein Kuriositätenkabinett als eine historische Einordnung und reproduziert so einen unangenehmen Blick auf das zugrundeliegende Thema.

Statt einer Einleitung stellt Ackroyd seinem Blick in die Geschichte ein Kapitel mit Begriffserklärungen voran. Auch wenn das Konzept einer homosexuellen Identität sich erst ab der Moderne entwickelt, wird hier deutlich, dass auch schon in früheren Jahrhunderten, lange vor der Etablierung der Begriffe „Homosexuell“, „schwul“ oder „lesbisch“, immer Vokabeln für Homosexualität existierten. Obwohl sie einst als Sünde galt, die am besten gar nicht erst beim Namen genannt werden sollte, war sie historisch immer bekannt und wurde diskutiert. Das englische „gay“ und das deutsche „schwul“ sind nur die letzten Begriffe in einer langen Reihe. Schon dieses Kapitel zeigt auf, mit welchen Schwierigkeiten man sich konfrontiert sieht, wenn man auf der Grundlage historischer Quellen etwas über Homosexualität in vergangenen Epochen aussagen will. Die Verwendung der seit dem 11. Jahrhundert im Deutschen wie im Englischen häufig gebrauchten Bezeichnung „Sodomie“ beziehungsweise „Sodomit“ deckt bis ins 19. Jahrhundert so viele Bedeutungen ab, dass es selbst im Kontext der Quellen schwierig sein kann, festzustellen, was genau gemeint ist. So stellt auch Ackroyd fest, dass Sodomie „alles und jedes“ bedeuten kann. Der Begriff umfasst, je nach Situation, Ehebruch, Ketzerei, Ausschweifung, heterosexuellen Analverkehr, und im Zweifelsfall alles, was in irgendeiner Form von der sexuellen Ordnung abwich. Zudem wurde der Vorwurf gerne anderen Beschuldigungen hinzugefügt, ohne ihn näher zu spezifizieren. Gemein ist allen im Verlauf der Geschichte geprägten Begriffen, dass sie ausschließlich negativ konnotiert sind. Auch die anderen in Queer London angeführten Begriffe, die seit dem 16. Jahrhundert in England zirkulierten, sind in erster Linie abwertend gemeint. Die vom Schriftsteller Karl Maria Kertenby 1863 eingeführte Bezeichnung „homosexuell“ ist demgegenüber im 19.Jahrhundert der Versuch, keine abwertende, sondern eine klassifizierende Bezeichnung zu finden, um darüber in einer gewissen Neutralität reden zu können. 23 Jahre später wurde der Begriff ins Englische übertragen, fand allerdings erst 1976 seinen Eingang ins Oxford English Dictionary. Die 1862 von Karl Heinrich Ulrich vorgeschlagenen Bezeichnungen „Uranier“ und „Urning“ konnten sich hingegen nicht durchsetzen.

Doch neben den ersten vorsichtigen Diskussionen über Dekriminalisierung und gesellschaftlicher Anerkennung queeren Lebens florierten die Beleidigungen gleichzeitig weiter. Die vom Autor zusammengetragene lange Liste und ihre deutschen Entsprechungen präsentiert den Leser*innen ein Best-of homophober Beleidigungen, an denen in beiden Sprachen kein Mangel herrscht. Dass es sich bei diesen Begriffen ausschließlich um Schimpfwörter und Beleidigungen handelt, ist wenig verwunderlich. Ackroyd unterstreicht so, was nicht zuletzt auch Didier Eribon festgestellt hat: Queere Menschen finden sich in einer Welt wieder, in der ihnen die Beleidigung dank der Diskurse schon immer vorgängig ist.

Den mehreren Seiten Begriffserklärung zur Bezeichnung schwuler Männer steht nur ein Absatz über die Bezeichnung lesbischer Frauen gegenüber. Auch nachdem sich in den 1730er Jahren der Begriff „lesbisch“ entwickelte, blieb auch die Bezeichnung „sapphisch“, nach der griechischen Dichterin Sappho, lange Zeit gebräuchlich.

Demgegenüber bevorzugt Ackroyd den Begriff „queer“, da er für ihn zum einen eine Absage an „den nüchternen Neologismus“ Homosexualität ausdrückt und sich zum anderen „jenseits der Geschlechter“ bewegt. Das erlaubt ihm, verschiedene Phänomene und Schicksale in den Blick zu nehmen, die zwar eine Abweichung der historisch herrschenden Geschlechterordnung darstellen, allerdings nicht klar mit modernen Identitätskategorien zu beschreiben sind. Queer London soll so auch ein queeres Narrativ sein.

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich jeweils mit bestimmten Zeitabschnitten, nicht so sehr mit der Geschichte Londons, sondern häufig ganz Großbritanniens. Vom zweiten Kapitel an zeigt sich ein deutliches Muster: Je mehr Quellen zur Verfügung stehen, desto spezifischer geht es um die Geschichte Londons und desto genauer geht es in den Kapiteln um spezifische Themen und kürzere Zeiträume pro Kapitel. Von den 2.000 Jahren, die der Band abdecken will, werden die ersten 1.000, das römische London, die Einführung des Christentums und die Ankunft der Normannen im zweiten der insgesamt 18 Kapitel abgehandelt. Ackroyd gelingt es zwar, unterhaltsam und nachvollziehbar zu schreiben, allerdings erweist er sich schnell mehr als Erzähler denn als Historiker. Queer London verfügt zwar über ein Literaturverzeichnis, allerdings nicht über Verweise oder Fußnoten. Sätze wie etwa „schöne Knaben waren in stark militärisch ausgerichteten Gemeinschaften keine Seltenheit“ vermischen die historische Darstellung immer wieder mit Aussagen, die mehr nach Wunschvorstellung klingen. Aufgrund der geringen Quellenlage schildert Ackroyd die Sexualmoral und Ökonomie innerhalb des römischen Reiches, um von dieser sicherlich nicht zu Unrecht auf die Situation im antiken London zu schließen. So wird es auch in London schon damals offen arbeitende männliche Prostituierte gegeben haben, während so etwas wie gleichberechtigte homosexuelle Beziehungen weitgehend unbekannt waren. Zudem herrschte ein klares Machtgefälle zwischen dem aktiven und dem passiven Partner, da für letztere Rolle nur Sklaven, Prostituierte und Knaben in Frage kamen. Frauen kommen auch an dieser Stelle vergleichsweise kurz vor. Als Beispiel wird zwar auf die Existenz von Gladiatorinnen verwiesen, doch muss zugleich eingeräumt werden, dass über die Sexualität dieser Frauen nichts ausgesagt werden kann. Der konservative Satiriker Juvenal scheint mit seinen abfälligen Bemerkungen über „Frauen im Helm“ in diesem Zusammenhang als eine wenig hilfreiche Quelle.

Während angelsächsische Gesetztestexte zwar Strafen für Ehebruch, Vergewaltigung und Inzest vorsahen, wird homosexuelles Verhalten gar nicht erwähnt. Das Christentum, das sich ab 597 auf der Insel verbreitete, war allerdings von Anfang an homophob. Die Bußordnung und Bußbücher benennen die Sünde nicht nur, sondern legen auch klare Strafen für abweichendes sexuelles Verhalten fest. Deutlich arbeitet Ackroyd heraus, dass der Vorwurf der „Sodomie“ häufig einfach pauschal erhoben wurde, um den Gegner oder bestimmte Gruppen zu diskreditieren. Stand für die Mönche zu Beginn noch die heidnische Bevölkerung unter dem Verdacht der sexuellen Verirrung, waren es in einem an dieser Stelle für den Band typischen Zeitsprung im 12. Jahrhundert die normannischen Herrscher. Immer wieder kommt es bei den Schilderungen im Text zu einer paradoxen Situation: Ackroyd benötigt die zeitgenössische Propaganda, um etwa Wilhelm II. als homosexuell zu identifizieren, weist aber ein paar Sätze später selber darauf hin, dass es sich bei den Quellen auch nur um Propaganda handeln könnte.

In den folgenden Kapiteln steht London ebenfalls nicht immer zwingend im Zentrum. Allerdings wird die Quellenlage besser, da mehr und mehr vor allem juristische Quellen zur Verfügung stehen. Da es sich dabei in erster Linie um Gesetztestexte und Gerichtsakten handelt, ist es, wie bei queerer Historiographie häufig der Fall, in erster Linie die Stimme der Gegner und Verfolger, auf deren Grundlage man ex negativo etwas über die Situation queerer Menschen erfahren kann. Auch die wenigen literarischen Quellen sind in erster Linie Texte von Klerikern und Chronisten, die sich abfällig über die wahrgenommenen Sünden äußern. Und doch wird deutlich, wie zum einen schon in diesen Quellen die Stadt mit Homosexualität in Verbindung gebracht wird und wie eben auch damals das rasante Wachstum Londons dazu führte, dass Orte entstanden, an denen diese Sexualität zumindest flüchtig vollzogen werden konnte. Eine Gerichtsakte von 1394 schildert die Verhaftung eines Londoner Prostituierten, der seiner Arbeit in Frauenkleidern nachging und von zahlreichen Kunden berichtet, mit denen er geschlafen haben soll. Homosexuelles Verhalten war allerdings zu diesem Zeitpunkt ein Tatbestand für kirchliche und nicht für weltliche Gerichte. Für diese ist im gesamten 15. Jahrhundert in London nur ein Fall bekannt. In diesem wie auch im vorangegangenen Fall wird allerdings kein Urteil beschrieben, sodass nicht klar ersichtlich ist, ob das Gericht überhaupt eine Strafe verhängte.

Ackroyd arbeitet in Queer London heraus, wie sehr der Vorwurf der Homosexualität schlicht und ergreifend ein politisches Instrument war, um ein bestimmtes Vorgehen zu legitimieren. Heinrich VIII. überführte die Bestrafung von Homosexualität in die Hände der weltlichen Gerichtsbarkeit, um nach dem Bruch mit Rom mit diesen Gesetzen gegen die Katholiken im Land vorgehen zu können. Mit dem Buggery Act wird Homosexualität zum Kapitalverbrechen, dass mit dem Tod zu bestrafen ist. Gleichzeitig sorgt die antikatholische Propaganda dafür, dass der Katholizismus in England noch bis ins 20. Jahrhundert mit Homosexualität in Verbindung gebracht wurde.

Je mehr sich zumindest ein Teil der Bevölkerung über die Jahrhunderte hinweg alphabetisiert, desto mehr kann sich auch Queer London auf verschiedene Quellen stützen. Mit der Entwicklung des elisabethanischen Theaters in London gerät etwa auch dieses in den Ruf, ein Hort der Homosexualität und Sünde zu sein. Zu den Gerichtsakten treten immer mehr literarische Quellen, zeitgenössische Berichte und Flugschriften. Gerade wenn es um den englischen Hof geht, neigt Ackroyd bei aller Unterhaltsamkeit seiner Schilderungen dazu, zeitgenössische Aussagen immer wieder eher unkritisch zu übernehmen. Auch andere Quellen verführen ihn gerne dazu, aus einer Aussage eine allgemeine Situation abzuleiten.

Queere Weiblichkeit und homosexuelle Frauen werden im achten Kapitel zum Thema, wenn ab dem 17. Jahrhundert dazu vermehrt Aussagen zu finden sind. Wie Ackroyd nachvollziehbar zeigen kann, blieb lesbische Liebe in der Geschichte nicht etwa vollständig unsichtbar, sondern ist „schon genauso lange im historischen Bewusstsein verankert, wie die Liebe zwischen Männern“. Trotzdem bleibt die Quellenlage auf diesem Gebiet dünner, als es bei den Männern der Fall ist. Diese Tatsache beschränkt sich dabei nicht nur auf queere Historiographie, sondern ist ein allgemeines Problem der Geschichtsschreibung.  Zu der Ablehnung queeren Verhaltens kommt in diesem Fall noch die Position des weiblichen Geschlechts innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, die dazu führte, dass dem Leben und dem Alltag von Frauen in Quellen wenig Bedeutung beigemessen wurde. Zudem sind die Aussagen über Frauen meist Aussagen von Männern. Daher konzentriert sich der Band an dieser Stelle nicht nur auf vermutlich lesbische Frauen, sondern im größeren Rahmen auf Frauen, die dem gängigen Geschlechterbild zuwiderliefen. So waren Frauen, die sich nicht weiblich genug verhielten oder kleideten, den zeitgenössischen Kommentatoren in London immer wieder ein Dorn im Auge. Die Beispiele und Quellen in Queer London zeigen immer wieder deutlich auf, dass die Geschlechter zu keiner noch so weit vergangenen Zeit jemals nur aus zwei Polen bestanden. Viel mehr existierten zu jeder Zeit Menschen, die von den herrschenden Geschlechternormen abwichen und diese unterliefen. Dialektisch ist dies geradezu notwendig, damit sich die Mehrheitsgesellschaft ihrer eigenen „Normalität“ versichern konnte. Die zahlreichen Beispiele für männliches wie weibliches Crossdressing und die immer wiederkehrenden Diskussionen über zu männliche Frauen und zu weibliche Männer zeigen deutlich, „wie leicht die herkömmlichen Geschlechterrollen ins Wanken geraten konnten und wie verunsichert die Gesellschaft darauf reagierte“.

Die zunehmende Verfolgung sorgt auch für eine Zunahme der Quellen, auf die sich Ackroyd stützen kann. So gelingt es ihm, nachzuzeichnen, welche Orte in London schon im 17. Jahrhundert beliebt waren, um sich dort für gleichgeschlechtlichen Sex zu treffen. Queer London wird so zu einem Sittengemälde der Stadt. Auch wenn nicht alle geschilderten Anklagen nach Razzien und Denunziationen zu Verurteilungen führten und Freisprüche möglich waren, ist die queere Geschichte Londons vor allem eine Geschichte der Verfolgung. Trotzdem wird ersichtlich, dass queeres Leben trotz dieser Gefahr immer ein Teil der Großstadt gewesen ist. Die Kernfrage des Buches, worin genau der Zusammenhang zwischen queerem Leben und der Stadt besteht, wird allerdings eher emphatisch-literarisch denn wissenschaftlich beantwortet. London ist für Ackroyd „von Grund auf subversiv“, ein „Urwald“ und „Irrgarten“, in dem queeres Leben trotz permanenter Bedrohung sprießen und gedeihen konnte. Auf kurz oder lang „sexualisiert [sie] alles und jeden“. Dass dieses sexuelle Biotop sich je nach Klasse für seine Bewohner höchst unterschiedlich darstellte und dass die Konsequenzen einer Entdeckung durchaus auch vom gesellschaftlichen und finanziellen Status abhingen, ist zwar keine absolut neue Erkenntnis, wird in Queer London aber einmal mehr nachdrücklich deutlich.

Das der Verlauf queerer Geschichte nach der Aufklärung in Europa nicht einheitlich verlief, wird in Queer London in den Schilderungen ab dem späten 18. Jahrhundert ersichtlich. Während ab 1791 auf dem Kontinent niemand mehr aufgrund homosexueller Handlungen hingerichtet wurde, erreichten die Exekutionen in England und gerade in London neue Ausmaße. Zwischen 1806 und 1835 wurden mehr als 80 Männer wegen „wiedernatürlicher Unzucht“ zum Tode verurteilt und gehängt. Zwar fanden 1835 die letzten Hinrichtungen statt, doch erst 1861 wurde die Todesstrafe für diese Vergehen durch lebenslange Haft ersetzt.

Auch weitere Gesetzesreformen im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbesserten nichts an der rechtlichen Situation queerer Menschen. Zugleich erlebt London ein rasantes Wachstum. „Die große Metropole, mit der das queere Leben untrennbar zusammenhing, war auf dem Vormarsch“.  So entwickeln sich auch unter der Verfolgung stetig neue Formen queeren Lebens und queerer Kultur. Polizeiberichte von Razzien lassen auf die Existenz von Drag-Veranstaltungen schließen, bevor das Wort schließlich in den 1860er Jahren Einzug in die englische Sprache hielt. Männer in Frauenkleidern finden sich nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern auch vor aller Augen in der Öffentlichkeit. Auch bei Ackroyd findet sich der vergleichsweise bekannte Fall von Ernest Boulton und Frederick Park beziehungsweise Stella und Fanny. Beide wurden 1870 in einem Theater in Frauenkleidern verhaftet und „der Verschwörung und Anstiftung zu einem widernatürlichen Verbrechen“ bezichtigt. Das Besondere an diesem Fall ist die folgende Entwicklung. Nicht nur stellte sich heraus, dass die beiden im Londoner West End durchaus öffentlich bekannt waren und sich regelmäßig öffentlich als Frauen zeigten, bei der Gerichtsverhandlung hatten die beiden auch durchaus die Sympathie der Bevölkerung auf ihrer Seite und wurden am Ende von den Geschworenen freigesprochen. Trotzdem zeigt nicht zuletzt auch der Fall Oscar Wilde, dass queere Menschen weiterhin Verfolgung und, bei Verurteilung, die Vernichtung ihrer Existenz zu fürchten hatten.

Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Razzien und Verhaftungen in London alltäglich. Ebenso in den Kneipen und Clubs, in denen sich queere Menschen verstohlen treffen konnten, waren sie nie vor staatlichem Zugriff sicher. 1957 legte eine Kommission zwar Reformvorschläge vor, nach denen einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen im privaten Raum künftig straffrei bleiben sollten. Bevor diese Gesetzesänderungen allerdings zehn Jahre später in Kraft traten, nahmen die Verfolgungen vorher sogar einige Jahre noch zu.

Wie in anderen westlichen Ländern entwickelte sich allerdings nach 1968 auch in London und ganz Großbritannien eine queere Emanzipationsbewegung, die erfolgreich für mehr Anerkennung und Rechte kämpfte. 1972 fand im Hyde Parke der erste Gay-Pride-Umzug Englands statt. HIV bedeutete ab den 80ern zwar einen fürchterlichen Einschnitt mit zahllosen Toten, doch konnte weder das noch die homophoben Gesetze der Thatcher-Regierung die Entwicklung hin zu einer größeren Freiheit und Sichtbarkeit queere Menschen aufhalten.

Liest man Ackroyds letztes Kapitel, so wird deutlich, dass er die Entwicklung der letzten Jahrzehnte trotz aller Verbesserungen nicht grundsätzlich zu begrüßen scheint. Das Queer London „allmählich und unweigerlich ein Teil der normalen Welt und eine Nische in auf dem westlichen Spielplatz Europa“ geworden ist, hat bei ihm einen negativen Beigeschmack. Hier offenbart sich eine unangenehm nostalgische, wenn nicht dekadente Verklärung der vermeintlich aufregenden und widerständigen 60er bis 90er Jahre. Anderen queeren Menschen zu bescheinigen, sie wären „weit entfernt vom Aktivismus von Stonewall“ und hätten kein Interesse mehr an einer „Neuerfindung der eigenen kulturellen und sexuellen Identität“, nur weil Umfragen ergeben haben, dass sie heiraten wollen, um wie ihre Eltern Liebe und Bindung zu erfahren, zeugt von einer Romantisierung der eigenen Unterdrückung.  Folgerichtig ist das letzte Jahrzehnt für Ackroyd auch ein „leises“, in dem die Konturen verschwimmen und „die Farben verblassen“. Seine Diagnose, dass die „einstmals wilde und ausgelassene Homosexualität elegant den Rückzug anstrebt“, ignoriert gekonnt jeglichen queeren Aktivismus der letzten Jahre sowie die Kreativität, die bei allem Kommerz beispielsweise auch jedes Jahr auf der Londoner Pride Parade zu finden ist. Die Behauptung, schwule Saunen in London würden deshalb immer sauberer, um den hohen Ansprüchen „der Besucher vom Festland“ zu genügen, ist zwar offensichtlich absurd, aber zumindest einer der kreativeren englischen Vorwürfe gegenüber Europa. Zwar konstatiert Ackroyd, die queere Welt befinde sich nicht im Aussterben, sondern in einer Phase der Neuerfindung und Transformation, aber dennoch durchzieht das letzte Kapitel der Ton eines Abgesangs.

Trotz dieses verklärenden Blicks auf die Vergangenheit im letzten Kapitel gelingt es Ackroyd in Queer London auf gut lesbare Weise nicht nur über die Existenz queerer Menschen über die Jahrhunderte hinweg, sondern auch über deren Verfolgung zu schreiben. Entgegen des Klappentextes ist das Buch kein literarisches Kuriositätenkabinett, sondern es liefert den nachvollziehbaren Beleg, dass Heterosexualität in der Geschichte der Menschheit noch nie ausschließliche Exklusivität für sich beanspruchen konnte. Zwar zieht Ackroyd gerne weitreichende und etwas zu sichere Schlüsse aus meist wenigen Quellen, doch liefert Queer London nichtsdestotrotz einen guten Überblick über die Entwicklung von Sexualmoral und Sexualpolitik in der englischen Geschichte und ist ein Beispiel für die ständige Existenz und Widerständigkeit queerer Sexualität.

Titelbild

Peter Ackroyd: Queer London. Von der Antike bis heute.
Übersetzt aus dem Englischen von Sophia Lindsey.
Penguin Verlag, München 2018.
272 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600657

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