Reizmaterial in der Literatur, populäre Musik zum Beispiel

Über Carsten Gansels und Burkhard Meyer-Sickendieks Sammelband „Stile der Popliteratur“

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Sammelband als Resultat eines Workshops einer Universität erscheint. Ungewöhnlich ist aber, dass Workshop und Sammelband auf ein Dissertationsprojekt, hier von Markus Tillmann, Bochum, zurückgehen, dies umso mehr, als dieser Workshop am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen für Karl W. Bauer zu seinem Eintritt in den Ruhestand veranstaltet wurde und der Band sich somit nicht nur der Anregung eines Nachwuchswissenschaftlers verdankt, sondern zugleich ein generationenübergreifendes Interesse dokumentiert.

Während im Titel von Markus Tillmanns Publikation Populäre Musik und Pop-Literatur. Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2013) das Phänomen Pop in seinem Bezugsfeld Literatur und Musik benannt ist, lässt der Titel Stile der Popliteratur des von Carsten Gansel und Burkhard Meyer-Sickendiek in der edition text + kritik herausgegebenen Sammelbandes zunächst nicht auf eine intermediale Ausrichtung schließen. Zwar bringt die Coverabbildung die Musik ins Spiel, jedoch nicht mit Bezug zur Literatur. Der Bezug ist vielmehr die bildende Kunst. Sie ist ausdrucksstark, die Umschlaggestaltung von Victor Gegiu unter Verwendung einer Abbildung von der Fotoplattform juvex / Pixabay: In Überlagerung eines ikonischen Fotos von Michael Jackson mit Andy Warhols ebenso ikonischem Porträt von Marilyn Monroe wird die Bildsprache der Pop Art und des Nouveau Realisme in den Plakatabrissen etwa eines Jacques de la Villeglé zitiert: Das Foto ist grob gerastert, die Farbigkeit bunt. Auffällige Attribute Jacksons sind der rote Lippenstift der Warholschen Monroe, der über die Augenbraue reichende Lidschatten und die charakteristische Frisur. Der Lippenstift aber ist verschmiert, die Haut fleckig und fahl, der Hintergrund vergilbt. Die Textur suggeriert einen Plakatdruck. Das Papier wellt sich und löst sich wie bei einer lange dem Wetter ausgesetzten Außenwerbung; partiell ist es abgerissen und die darunterliegenden Plakat-Schichten werden sichtbar: Geht es um das Ende des Mythos eines Popstars? Geht es um eine medientechnische Reflexion der über digitale Tools verfügbaren Bildgestaltungsmittel, die eine Imitation von Kunststilen ohne aufwändige Herstellungstechniken erlauben? Mit Blick auf die Coverabbildung stellt sich die Frage, was der Bezug zum Gegenstand eines mit Stile der Popliteratur betitelten Bandes sein könnte.

Wie die Herausgeber in der Einführung schreiben, geht es um die Entwicklung einer Intermedialitätstheorie, die musikalische Form und literarische Form theoretisch und analytisch verbindet. Dass die vorliegenden Studien nur erste Bausteine zu liefern vermögen, ist schon mit der bislang fehlenden Differenzierung des Gegenstands selbst zu begründen, der Popliteratur. In der begrifflichen Verständigung über diesen Gegenstand konstatieren die Herausgeber die auffallende Diskrepanz zwischen der Unterscheidung verschiedener Genres in der Pop-Musik, „Rock, Punk, Soul, Elektro-Dance, Hardrock/Metal, Jazz, Hip-Hop, Trip Hop oder Disco“ und dem eher vagen Oberbegriff „Popliteratur“, der „von der Beat-Literatur über Rolf Dieter Brinkmann bis zu Rainald Goetz und Thomas Meinecke und von Nick Hornby über Benjamin Stuckrad-Barre und Christian Kracht bis hin zu etwa Judith Hermann, Thomas Brussig oder Sibylle Berg“ reiche. Mit diesen Namen sind wesentliche Referenzen für die Frage nach der Auswirkung bestimmter musikalischer Stilrichtungen auf literarische Schreibverfahren genannt. Die Überschrift der Einleitung, „Stile der Popliteratur: Versuch einer intermedialen Differenzierung“, umreißt das Programm, spart aber auch hier den Bezug zur Musik aus.

Wer erwartet hat, dass die Popliteratur nun parallel zur Popmusik unter dem Label der Jazz-, Rock- oder Punkliteratur verhandelt würde, sieht sich auf den ersten Blick hin enttäuscht. Der Band ist nach den traditionellen Gattungen in lyrische, narrative, theatrale und filmische Stile der Popliteratur gegliedert; das heißt die in der Lyrik schon vielfach beschriebenen Schnittmengen zwischen Musik- und Literaturstilen werden hier auf alle Gattungen der Literatur ausgeweitet. In den Beiträgen selbst erfolgt unter dieser Kategorisierung nach Gattungen der Versuch einer Zuordnung popliterarischer Werke zu bestimmten Musikstilen, zum Beispiel das Jazz-Arrangement als Strukturelement in der Literatur Rolf Dieter Brinkmanns und der Beatgeneration (Burkhard Meyer-Sickendiek) oder – bezogen auf Brinkmann – die „Improvisation“ (Jan Röhnert), die Rezeption von Punk und New Wave auf semantischer und struktureller Ebene in der Gegenwartsliteratur (Markus Tillmann), die Techno-Ästhetik in Rainald Goetz’ Theaterstücken der 1990er Jahre (Johannes Windrich) oder die Bedeutung von Synth-Pop und New Wave für die „polygone Narrativität“ in dem exemplarisch herangezogenen Film Donnie Darko von Richard Kelly, USA 2001 (Anke Steinbach). Wie fundamental die Überlagerungen von Musikstil und Literaturstil greifen, macht die Referenz auf Jack Kerouaks „Bop-Prosodie“ im Beitrag von Meyer-Sickendiek deutlich: Modell seines Schreibens ist „ein Mann am Tenorsax, der Atem holt und dann auf dem Saxophon eine Phrase bläst, bis ihm die Luft ausgeht, und wenn er soweit ist, dann ist sein Satz, seine Aussage gemacht“ (aus: Jack Kerouak, Belief & Technique for Modern Prose, 1959).  Die von der Forschung weitgehend aufgearbeitete Verwandtschaft von Jazz und Literatur auf der „atemtechnischen Ebene“ (Hans Christian Kirsch) wendet Meyer-Sickendiek vor allem auf Brinkmanns frühe Erzählungen und seinen Debutroman Keiner weiß mehr von 1968 an.

Es gibt eine Reihe spannender weitergehender Fragen, die in den Texten aufgeworfen werden und denen nachzugehen wäre. Etwa wenn Anke Steinbach erläutert, wie sich die temporalen Schichten des Films Donnie Darko weniger durch filmische Bilder als durch den Soundtrack erschließen, beispielsweise durch New Wave-Songs von Tears for Fears, Duran Duran oder The Church im Zusammenspiel mit den atmosphärischen Kompositionen Michael Andrews oder durch The Killing Moon von Echo & the Bunnymen in der Eingangssequenz, und wenn sie dann in einer Fußnote auf einen veränderten Soundtrack im Director’s Cut verweist. Zentral bleibt die Referenz auf Brinkmanns poetologische Überlegungen, wie Markus Tillmann darlegt, seine auf den amerikanischen Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler zurückgehende und schon in den 1980er Jahren formulierte Forderung einer „Ausweitung der vorhandenen starren Formen der literarischen Rede auf die populäre Kultur“. Alles „Reizmaterial“ müsse in die Literatur eindringen, Fotos, Zeitungen, Film, Fernsehen, Werbung, Musik etc. Nichts Anderes besagt die Covergestaltung: Musik ist nur ein Aspekt innerhalb der komplexen intermedialen Montage- und Bricolage-Prozesse popliterarischer Erzeugnisse.

Titelbild

Carsten Gansel / Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Stile der Popliteratur.
edition text & kritik, München 2018.
268 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869166735

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