Verlierer der Geschichte

War er der eigentliche „Vater“ der Evolutionstheorie? Der Naturfoscher Alfred Russell Wallace steht im Mittelpunkt von Anselm Oelzes Roman „Wallace“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Stoff des Debütromans von Anselm Oelze ist recht vielversprechend, schließlich sind Verlierer und Zuspätkommende in der Weltgeschichte geradezu prädestiniert, um als tragische Figuren literarisch mit Leben erfüllt zu werden. Bei dem britischen Naturforscher Alfred Russell Wallace, der heutzutage nur noch wenigen bekannt ist, während Charles Darwin weltweit als Begründer der Evolutionstheorie gilt, könnte es sich durchaus um einen solchen Fall handeln.

Der Waliser war begeisterter Insektensammler und vielseitig interessierter Naturforscher und arbeitete ebenso wie sein Zeitgenosse Charles Darwin intensiv an der Erforschung der Arten. Einige Jahre nach der Reise Darwins auf der Beagle begab sich Wallace mit dem Naturkundler Henry Walter Bates, zunächst gemeinsam, dann getrennt, zu einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt an den Amazonas. Später führten ihn eigene Wege auf den malaiischen Archipel. Dort verfasste Wallace – unabhängig von Darwin – ein Manuskript zum Prinzip der Entwicklung der Arten durch natürliche Selektion. Diesen Text sandte er zur Begutachtung an Darwin, den er bereits aus London kannte. Kurze Zeit später veröffentlichte Charles Darwin seinerseits seine Erkenntnisse zur Evolutionstheorie.

Soweit die Fakten. Doch was kann oder muss man daraus schließen? War die kurze zeitliche Abfolge ein Zufall, weil die Evolutionstheorie bei den Wissenschaftlern der Zeit ohnehin sozusagen „in der Luft lag“? Hat sich Darwin womöglich durch Wallace bestätigt gefühlt und daher gewagt, die Theorie zu veröffentlichen? Oder bediente er sich an dessen Arbeit, wohlwissend, dass dieser aus der Ferne wohl kaum etwas dagegen unternehmen konnte? Das alles ist bis heute nicht klar und bleibt Interpretationssache. Fest steht, dass Wallace immerhin von Darwin in dessen Werk Über die Entstehung der Arten erwähnt wurde und beide gemeinsam zu ihren Lebzeiten als Begründer der Evolutionstheorie galten, während dann allein Darwins Ruhm die Zeiten überdauerte.

Die Frage, ob Darwin also womöglich die Lorbeeren einheimste, die eigentlich Wallace – oder zumindest beiden gemeinsam – zugestanden hätten, lässt den Nachtwächter Albrecht Bromberg nicht mehr los, der bei einem seiner nächtlichen Kontrollgänge durch das Museum für Natur- und Menschheitsgeschichte buchstäblich über ein Foto des Forschers stolpert. Neugierig geworden, beginnt er mit Nachforschungen zu Wallace – und ist sich bald sicher, dass er hier den eigentlichen Urheber der Evolutionstheorie gefunden hat. Ihm will er nun posthum zum verdienten Ruhm verhelfen.

Neben diesem in der heutigen Zeit spielenden Erzählstrang führt uns Oelze auf einer zweiten Erzählebene zurück ins 19. Jahrhundert, wo wir Wallace selbst kennenlernen und ihn bei seinen Reisen und seiner Forschungsarbeit begleiten. So weit, so gut. Doch das Spiel mit den beiden Zeitebenen gerät nicht so spannend und fesselnd wie man vermutet. Das liegt zum einen an der merkwürdigen Distanz, die der Autor zur Figur Wallace aufbaut. Diese zeigt sich beispielweise bereits darin, dass er ihn (außer im Titel) nicht ein einziges Mal beim Namen nennt, stets ist vom „jungen Bärtigen“, später nur noch vom „Bärtigen“ die Rede. Auch sonst bleibt das Verhältnis zum aus der Vergangenheit stammenden Protagonisten seltsam unterkühlt, was sicherlich auch dem sprachlichen Gestus geschuldet ist. Eine Überfülle an Adjektiven sorgt für einen leicht betulichen Stil. Ob dieser gewollt ist und ebenso historisierend wirken soll wie die Kapitelüberschriften mag dahingestellt sein. Jedenfalls haben es der durchaus vorhandene Humor und die leisen ironischen Randbemerkungen schwer, in dem Getümmel von Adjektiven ihre Wirkung voll zu entfalten.

Sprachlich lebendiger geht es da auf der anderen Zeitebene zu, wenn man miterlebt wie der Routinen liebende Nachtwächter sich mehr und mehr für die Lebensgeschichte von Wallace interessiert, bis es geradezu zu einer fixen Idee bei ihm wird, den Wissenschaftler um jeden Preis den verdienten Ruhm zuteilwerden zu lassen, der ihm nach Brombergs Nachforschungen zusteht. Doch genau hier wird es inhaltlich ein wenig problematisch: Man kann zwar Brombergs Empörung über die Missachtung des Forschers nachvollziehen, schließlich ist auch er selbst eher jemand, der im Schatten steht. Aber die Wege, die er und seine Freunde, inklusive einer Bibliothekarin und eines Antiquars, zur Korrektur der Geschichte einschlagen, wirken etwas befremdlich, ebenso wie die Bereitschaft, dafür den eigenen Job aufs Spiel zu setzen. Insofern bleibt, insgesamt betrachtet, eher eine leichte Enttäuschung über den Roman und das Gefühl, dass hier mehr drin gewesen wäre.

Titelbild

Anselm Oelze: Wallace. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
262 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895611322

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