Unheimliche Innenwelten

In sieben Erzählungen lädt Joyce Carol Oates ihre Leser zu einer Reise in menschliche Abgründe ein

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joyce Carol Oates ist eine Alleskönnerin. Vielhundertseitige Familienromane scheinen ihr genauso leicht von der Hand zu gehen wie Jugendbücher, Historisches, Biografisches, Kriminelles und Fantastisches. Zu ihrem inzwischen kaum mehr zu überschauenden, im Laufe von fünfeinhalb Jahrzehnten entstandenen Werk gehören fast vier Dutzend Romane sowie zahlreiche Theaterstücke, Essays, Novellen, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Die mehrfache Pulitzer-Preisträgerin publiziert nicht nur unter ihrem eigenen Namen, sondern benutzt ihrer überbordenden Kreativität wegen gelegentlich auch Pseudonyme. Obwohl nicht jedes erscheinende Buch der seit Jahren regelmäßig zu den potenziellen Nobelpreis-Kandidaten zählenden Amerikanerin auf gleich hohem literarischen Level geschrieben ist – vor Konkurrenz musste sich die im Juni 2019 81 Jahre alt werdende Schriftstellerin noch nie fürchten.  

Mit Sieben Reisen in den Abgrund liegt nun eine im Original 2011 erschienene Sammlung von Erzählungen vor, in denen Oates ihr Talent für psychologische Spannung, raffiniert ausgearbeitete Plots und die unheimlichen Abgründe, die sich im menschlichen Miteinander auftun können, erneut eindrucksvoll beweist. Ob sie über ein von so eifersüchtigen wie grausamen Schulkameradinnen entführtes  und tagelang gequältes elfjähriges Mädchen schreibt oder über die in ein Racheszenario ausufernde Wiederbegegnung eines älteren Mannes mit der vor anderthalb Jahrzehnten aus seinem Leben verschwundenen Stieftochter aus erster Ehe – Oates versteht es jedes Mal, ihren Leser augenblicklich in die Welt ihrer Figuren hineinzuziehen und bis zu einem Punkt mitzunehmen, an dem man manchmal nur zu gerne wieder aussteigen möchte, das aber beim besten Willen der Spannung und eines von Anfang an zu erahnenden Unheils wegen nicht kann.

So ist ab dem ersten Satz der kürzesten Erzählung des Bandes, Niemand weiß, wie ich heiß, eigentlich klar, dass die neunjährige Jessica, aus deren kindlich-unschuldigen Augen man auf die Welt ihrer Familie sieht, nicht mit der Tatsache klarkommt, dass sie nach der Geburt ihrer kleinen Schwester nicht mehr im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit steht. Dass der Name des Babys dem Leser von der tief gekränkten Erzählerin konsequent verschwiegen wird und sie sich über Monate weigert, das Kleine in den Arm zu nehmen, ist dabei nur der Auftakt zu einem unheimlichen Bündnis, welches das Kind mit einer „pusteblumengrauen“ Wildkatze eingeht, die um das Sommerhaus der Familie in den Adirondacks Unheil verkündend herumschleicht. Als es schließlich heißt „Und als es geschah, geschah es so.“ passiert genau das, worauf man längst innerlich vorbereitet war. Und Oates an der Stelle eigentlich auch hätte schreiben können: „Und es geschah, was von Beginn an nicht zu verhindern gewesen war.“

Sich in die Helden einzufühlen, kann bei Oates schnell gefährlich werden. Denn natürlich weiß man ganz genau, mit welchem der beiden Protagonisten in den Zwillings-Erzählungen Fossile Figuren und Totenmahl man gerne tauschen würde und mit welchem nicht. Dafür sorgt bereits der Blick auf die Ungeborenen im Bauch der Mutter, mit dem Fossile Figuren beginnt: „Wo eines sein sollte, waren zwei: der Dämonenbruder, der größere, gefräßige, und der andere, der kleinere Bruder […]“. Und so setzt es sich fort bis zum Lebensende der beiden, die hier Edgar und Edward Waldman heißen und in der zweiten Zwillings-Erzählung des Bandes, Totemmahl, Lyle und Alastor King.

In beiden Fällen ist der eine der Rücksichtslose, sich die Welt und seine Mitmenschen ohne Skrupel Unterwerfende, der andere der Kümmerer, ein von Krankheiten verfolgter Pechvogel. Lebt der eine als zurückgezogener Künstler (Edward ) oder feinsinniger Buchgestalter und privater Musiklehrer (Lyle), macht der jeweils andere als Politiker (Edgar) oder gewissenloser Hochstapler (Alastor) von sich reden. Voneinander los kommen sie bei aller Unterschiedlichkeit dennoch nicht. Nicht einmal mit einer Suppe, die Lyle aus Grünen Knollenblätterpilzen für seinen verhassten Bruder gekocht hat, lässt sich der lebenslange gehegte Wunsch, seine andere Seite für immer zum Verschwinden zu bringen, realisieren. Und als Alastor schließlich betrunken droht, in einem Swimming Pool zu ertrinken, kann Lyle gar nicht anders, als ihn zu retten.

Zugestanden: Nicht jeder der sieben Texte lässt, wie es ein amerikanischer Kritiker formuliert hat, den Leser beim kleinsten Geräusch aufspringen und sich vor der einbrechenden Dunkelheit fürchten. Gewarnt sei zum Schluss allerdings vor der den Band beschließenden Erzählung mit dem Titel Loch im Kopf. Deren Held, der in der amerikanischen Kleinstadt Hazelton-on-Hudson praktizierende Schönheitschirurg Lucas Brede, gestresst von Scheidung, Finanzkrise und der Tatsache, dass er sich einst zu Höherem berufen fühlte als zu Faceliftings, chemischem Peeling und Rhinoplastik, geht darin auf den wahnwitzigen Wunsch einer Patientin ein, sich durch Trepanation, also das Aufbohren des Schädels, aus einer „spirituellen Sackgasse“ zu befreien, in die sie in den letzten Monaten der „Regierung Bush“ geraten sei und die in ihr „ernsthafte Zweifel an der Existenz des christlichen Gottes“ geweckt habe.

Es soll hier nicht enthüllt werden, wie die makabre Begegnung eines Arztes, der dabei ist, die hehren Vorsätze seines Berufsstandes zu verraten, und einer Patientin, die ihren gesunden Menschenverstand in einer Welt des schönen Scheins, der Internet-Fakenews und der falschen Versprechungen eingebüßt zu haben scheint, ausgeht. Aber wie in ihr Zeit- und Kulturgeschichte, Modetrends und Politik, Wissenschaft und Scharlatanerie, ohne dass direkt mit dem Finger auf sie gezeigt werden würde, die fesselnde Geschichte eines Menschen unserer Tage tragen, zeigt einmal mehr die hohe Erzählkunst von Joyce Carol Oates. 

Titelbild

Joyce Carol Oates: Sieben Reisen in den Abgrund. Stories.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Visintini.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2019.
381 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783426281987

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