Ein Tag im Juli

Norbert Zähringers fünfter Roman „Wo wir waren“ erzählt von Ausbrüchen und Neuanfängen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Tage bleiben ein Leben lang im Gedächtnis. Weil welthistorisch Bedeutsames an ihnen geschehen ist – der 9. November 1989 in positiver, der 11. September 2001 in negativer Hinsicht –, dunkle Zeiten endeten wie am 8. Mai 1945 oder Menschen Außerordentliches vollbrachten. So geschehen auch an jenem Tag im Jahre 1969, dem 21. Juli, als der amerikanische Astronaut Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat. Viele wissen noch Jahrzehnte später, wo sie sich gerade aufhielten, als auch im deutschen Fernsehen die Live-Übertragung jenes historischen Ereignisses lief. Für Hardy Rohn, den Helden von Norbert Zähringers fünftem Roman, der mit seinem Titel auch auf dieses Sich-Einbrennen eines geschichtlichen Ereignis in die Erinnerung anspielt, beginnt in jener Nacht gar ein Leben, in dem sich fast alle seine hochfliegenden Träume erfüllen.

Wo wir waren erzählt die Geschichte dieses sich aus der niederrheinischen Tiefebene in die Welt und den Weltraum hinaussehnenden Menschen vor dem Panorama eines Jahrhunderts, das von zwei Weltkriegen und mehreren, jeder für sich zig Millionen von Opfern fordernden Versuchen, einem Großteil der Menschheit ein einheitliches und vermeintlich glücklich machendes Lebenskonzept überzustülpen, geprägt war. Viel Stoff, vor dem sich einer wie Zähringer, das haben seine vorhergehenden Bücher bewiesen, aber nicht fürchtet. Und so nimmt er den Leser mit zurück in die Zeit, als sich Hardys Großvater Adam genauso an den Grenzen seiner kleinen Welt stieß, wie das später sein Enkel tun sollte. „Er wollte auf seiner persönlichen Landkarte die weißen Flecken tilgen“, heißt es über den Mann, den es, nachdem er den Ersten Weltkrieg heil überstanden hat, als Seefunker auf die Weltmeere und schließlich – nach dem 1929er Börsenkrach und der Weltwirtschaftskrise – ins litauische Memel verschlägt, wo er auf einer Küstenfunkstelle seinen Dienst versieht, heiratet und Vater einer kleinen Tochter namens Martha wird.

Sie, die später Hardy Rohn auf die Welt bringt, ist die zweite zentrale Figur in Zähringers klug komponiertem Buch. Mit ihr nimmt der Roman eine Richtung, die der ihres Vaters diametral entgegengesetzt ist. Zog es Adam Rohn einst in die Welt hinaus, kehrt Martha gegen Kriegsende, vor der heranrückenden Roten Armee flüchtend, zu der ihr unbekannten Familie des Vaters in den kleinen Flecken Neuorth zurück. Doch es wird der jungen Frau im Rheingau kein großes Willkommen bereitet. Schon das Schild, mit dem man hier die Fremden begrüßt – „IN UNSEREM DORF SIND UNERWÜNSCHT: WILDSCHWEINE – KARTOFFELKÄFER – FLÜCHTLINGE“ – lässt ahnen, wie Marthas weiteres Schicksal verlaufen wird. Auf sich allein gestellt – der Vater, der sich mit ihr nach dem Krieg in seinem Geburtsort treffen wollte, kehrt nie nach Hause zurück –, geht Martha schließlich eine verhängnisvolle Ehe ein und wird, um sich aus der Abhängigkeit von einem brutalen, vor nichts zurückschreckenden Mann, in der sie sich plötzlich findet, zu befreien, zur doppelten Giftmörderin. Inzwischen schwanger von einem amerikanischen Soldaten, gibt sie den Sohn, den sie im Gefängnis zur Welt bringt, zur Adoption frei.

Rund um diese beiden zentralen Figuren, Mutter und Sohn, baut Zähringer die auf mehreren Zeitebenen spielende Handlung seines Romans auf. Hardy Rohn, der als „Nummer 13“ in einem Waisenheim aufwächst, ahnt nicht, dass seine leibliche Mutter nach mehreren Selbstmordversuchen im Gefängnis genau am Tag der Mondlandung, den er und ein anderer Waisenjunge zur Flucht aus dem Heim nutzen, in eine nahe gelegene psychiatrische Klinik verbracht wird. Während Martha dort dem Psychiater Dr. Junge in mehreren Sitzungen ihre Lebensgeschichte erzählt – es sind die einzigen Partien, in denen sich der ansonsten aus der auktorialen Distanz geschriebene Roman einer Ich-Erzählerin bedient – wird der 5-jährige Hardy schnell wieder eingefangen. Allerdings hat er das Glück, dass der Zufall ihn auf seiner Flucht zu einer Familie geführt hat, die ihn schließlich sogar adoptiert.

Bei den Kunzes und ihren Nachbarn, dem eine Gärtnerei betreibenden Ehepaar Völkle, mit deren Tochter Bettina sich Hardy anfreundet, sowie immer häufiger bei dem bei den Völkles wohnenden und in der Siedlung als Sonderling geltenden Walther Bischoff,  Verfasser der Captain Ronin-Science-Fiction-Heftserie, verbringt Hardy die prägenden Jahre seines Lebens. Und als sich die Kunzes trennen und Hardys Adoptivmutter mit Walther Bischoff ein neues Leben in Amerika beginnt, ist Hardy dabei und startet auf dem fernen Kontinent eine Karriere, die ihn unter dem Namen Ron A. Hardy bald unendlich reich werden lässt, ohne dass er aber das Ziel erreicht, welches ihm in der Mondlandungsnacht schon vor Augen stand, nämlich selbst eines Tages in den Weltraum aufzubrechen.

In Norbert Zähringers Erzählwelt, die sich nicht nur über einen Zeitraum von rund einhundert Jahren erstreckt, sondern auch den ganzen Globus (und selbst der ist für Zähringers Helden noch zu klein und einengend) zum Schauplatz hat, sind die Fäden so fein gesponnen, dass alles mit allem zu tun zu haben scheint. Wollte man deshalb auf sämtliche Geschichten eingehen, die dieser weit ausgreifende Roman vor seinen Lesern ausbreitet, käme man nur schwer zu einem Ende. Immerhin hingewiesen sei noch auf ein paar Nebenfiguren, die in den – mal kürzeren, mal längeren – Episoden, in denen sie ihren Auftritt haben, eine Präsenz gewinnen, die sie zu Helden eines nur auf ihr Schicksal zugeschnittenen, eigenen Romans machen könnte. Dem Autor vorzuwerfen, er verschleudere hier Ideen für ein Dutzend weiterer Erzählwerke – auch wenn die eine oder andere Episode für den Fortgang des Ganzen nicht unbedingt notwendig scheint –, führte allerdings zu weit.

Erwähnt sei aber wenigstens noch Hardy Rohns leiblicher Vater, der Airforce-Pilot Jim, der sein Leben im Vietnamkrieg verliert, nachdem ihm gemeinsam mit seinem Kameraden Jack die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen ist. Dass dieses tragische Ereignis genau an jenem Tag stattfindet, der die verschiedenen Erzählstoffe und ihre Repräsentanten in Wo wir waren kompositorisch zusammenhält, dem Tag der Mondlandung im Juli 1969 also, sollte einen bei einem Meister der Verknüpfung von Biografien, Erzählsträngen und Ereignissen, wie Zähringer es ist, nicht mehr wundern. Der Hölle des Dschungels entkommen, heiratet Jack später Jims Frau und wird zum Adoptivvater von dessen Tochter Jennifer, für die der Autor natürlich ebenfalls einen Platz in dem großen Beziehungsnetz, in dem sich alle Figuren seines Romans aufgehoben finden, reserviert hat.

Auch Hardy Rohns amerikanische Karriere vom Spiele-Erfinder zum Internet-Millionär, dem es nichts ausmacht, für das betrügerische Versprechen eines Aufenthalts auf der Weltraumstation MIR mal eben 25 Millionen Dollar in den Sand zu setzen, bringt ihn mit Figuren in Verbindung, die im Gedächtnis bleiben. Dazu zählt nicht nur Betti, das Mädchen, dem er als erstem Menschen nach seiner Flucht aus dem Waisenhaus begegnete und das er nun als 30-jährige Frau wiedertrifft und nach einer kurzen Liaison ein zweites Mal verliert, sondern auch die geheimnisvolle indische Milliardärin Tara Kapoor, mit der Hardy um einen Platz in der Sojus-Kapsel konkurriert und mit der ihn ebenfalls eine frühere Episode seines und ihres Lebens eng verbindet.

Wo wir waren beginnt in einem Waisenhaus, das mehr Gefängnis ist als Heimstatt für elternlose Kinder, und endet in Hardy Rohns Villa in Los Angeles, der eine ihn an seine Kindheit in Neuorth erinnernde Hecke die Grenze setzt. Jene „hohe Hecke, das undurchdringliche Dickicht jenseits der Felder, der Rübenäcker, der Apfelbäume, tief im Wald“ hatte bereits Hardys Großvater Adam veranlasst, nachzuforschen, was wohl dahinter sei. Dessen Ausbruch aus der Enge der Verhältnisse, in die er hineingeboren wurde, wiederholt Jahrzehnte später der Enkel. Und das Schlussbild, mit dem nach gut 500 Seiten dieser wunderbar zu lesende, sich von Geschichte zu Geschichte, von Figur zu Figur hangelnde Roman endet, zeigt, dass er noch lange nicht dort angekommen ist, wohin es ihn von Anfang an entgegen allen Widerständen zog. Denn: „Vieles ist unwahrscheinlich, aber wenn wir nur an das Wahrscheinliche glauben, dann kommen wir nicht weit.“

Titelbild

Norbert Zähringer: Wo wir waren.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
511 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498076696

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