Scharnow ist überall…

…und Bela B.s Debütroman ist ein großes Vergnügen

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Können Popmusiker schreiben? Also längere Texte produzieren, ohne dafür GhostwriterInnen einzustellen wie weiland Dieter Bohlen, der die BILD-Autorin Katja Kessler für seine Autobiografie Nichts als die Wahrheit (2002) anheuerte? Und dabei vielleicht literarische Qualität fabrizieren und Erfolg haben? Nicht zwangsläufig, aber: Ja, das geht. Patti Smith, schon vor ihrem Durchbruch als Sängerin in den 70ern eine formidable Lyrikerin, legte mit Just Kids (2010) und M Train (2015) ebenso traumhafte wie poetische Erinnerungsbücher vor; Heinz Strunk und Sven Regener sind als Autoren längst erfolgreicher, als sie es je mit ihrer Musik waren – im Gegenteil, eine Band wie Element of Crime profitiert mittlerweile stärker von der Popularität ihres Sängers als umgekehrt. Aber der Schlagzeuger der Ärzte? Versprühten Smith und Regener auch abseits der Bühne seit jeher eine gewisse intellektuelle Aura, ist man von Bela B. Felsenheimer, 1962 in Berlin geboren und dort aufgewachsen, dagegen ganz anderes gewohnt – nämlich eine Vorliebe für Genres wie Western und Horror. Gern mit einer trashigen Note, wie bei Sartana – noch warm und schon Sand drauf, der Adaption eines Italo-Westerns zum parodistischen Hörspiel. Dazu kommt ein großes Maß an Selbstironie – unvergessen sein Song Goldenes Handwerk, in dem er sich über Schlagzeuger-Klischees lustig macht, um am Ende freudig „Das Lied hab ich ganz allein geschrieben“ ins Mikrofon zu rufen.

Nun also der Roman Scharnow, der gleich die Bestsellerlisten stürmte und mit einer ausverkauften Lesetournee beworben wurde. Wer bei „der besten Band der Welt“ spielt (Selbstbeschreibung seit 1988), muss sich zunächst keine Sorgen machen, ob er oder sie einen Verlag findet, oder ob dieser Verlag auf den gedruckten Exemplaren sitzen bleibt. Doch kommt dabei auch ein gutes Buch heraus?

Aber ja. Scharnow spielt in einem fiktiven brandenburgischen Dorf, wer sich jedoch feinsinnige Analysen deutscher Zustände erhofft, wird enttäuscht – ebenso wie Erwartungen an ländliche Prosaidyllen à la Kurt Tucholsky oder Wiglaf Droste. Scharnow ist sogar das exakte Gegenteil von einem Bestseller wie Unterleuten (2016), in dem Juli Zeh eine ganze Phalanx von Ost-West- und Ost-Ost-Konflikten auf den Maßstab eines brandenburgischen Dorfes herunterbricht, so dass es wiederum als Modell für eine Gesellschaft als Ganzes dienen kann.

Bela B. dagegen zeichnet ein ganz anderes Brandenburg. Auch in seiner Stadt gibt es, wie bei Zeh, keinen einzelnen Protagonisten, sondern ein ganzes Ensemble von Charakteren. Seine Figuren stehen aber nicht exemplarisch für jemand anderen, sondern sind eine Ansammlung von Skurrilitäten – Pornodarsteller und -konsumenten (natürlich auf VHS) sind ebenso vertreten wie Verschwörungstheoretiker oder der Pakt der Glücklichen, der sich von Knabberzeug und einer Mixtur aus Fanta und Korn namens „Mische“ ernährend mehr vegetiert als lebt, oder ein Mann, der fliegen kann und deshalb auf dem Buchcover zu sehen ist. In diesem Chaos bewegt sich eine kleinere Gruppe eher „normaler“ Bewohner wie die 17-jährige Nami und der junge Syrer Hamid, die in diesem Tohuwabohu eine Liebesgeschichte leben dürfen. Diese Figuren lässt der Autor aufeinander los und verstrickt sie in ein Knäul verschlungener Handlungsfäden, die ihren gemeinsamen Höhepunkt in einem bizarren Supermarktüberfall finden. Auch wenn diese Zusammenfassung seltsam klingt, ergeben die Handlungsfäden einen stimmigen Text. Bela B. kann erzählen, und man merkt dem Buch an, dass es mit großer Freude über jeden neuen Einfall geschrieben wurde. Dabei arbeitet der Autor mit zahlreichen Versatzstücken aus dem, was Dietmar Dath als die „unwirklichen Künste“ analysiert, vor allem aus dem Horror. Das war von Bela B. nicht anders zu erwarten. Aber es ist ein reflexiver Horror, den dieser einsetzt – hier tauchen nicht nur Elemente auf, wie man sie aus solchen Filmen oder Texten kennt, sondern es werden gleichzeitig Horrorfilme konsumiert oder Versatzstücke als Versatzstücke gekennzeichnet. Dazu kommen skurrile Gewaltszenen – beispielsweise als zwei verfeindete Brüder als Hilfspolizisten die Wohnung vermeintlicher Terroristen stürmen sollen und sich dann lieber gegenseitig erschießen. Bela B. hat von Tarantino gelernt, und er selbst wäre über eine solche Assoziation wohl nicht unglücklich.

Also keine Beziehung zu den gerade wieder neu aufbrechenden innerdeutschen Konflikten, kein Roman über das reale Brandenburg? Kommt darauf an. Literaturen haben oft die Angewohnheit, das Schreckliche, das Abseitige oder auch nur Skurrile möglichst weit weg von den eigenen Metropolen zu projizieren. In seinem formidablen Atlas des europäischen Romans (2000) hat Franco Moretti schon vor Jahrzehnten gezeigt, wie das geht – am Beispiel der britischen Literatur zur Zeit Jane Austens, die südenglisch dominiert war. Damals war das Genre des Schauerromans, der so genannten Gothic Novel, äußerst populär. Die Texte spielten meist an exotischen, unheimlichen Orten wie – Deutschland. Bekanntlich muss der Genfer Victor Frankenstein sein Geschöpf in den verwinkelten Gassen von Ingolstadt zusammenschrauben. Selbst Edgar Allan Poe, Großmeister des Horrors, debütierte in Goethes Todesjahr mit der pseudo-mitteleuropäischen Erzählung Metzengerstein und musste später seine Leser erst daran erinnern, „that terror is not of Germany but of the soul.“ Später projizierte man solche Geschichten vorzugsweise an die innere Peripherie, namentlich in die schottischen Moore und Berge. Das Prinzip aber blieb: Die Metropole definiert die Ränder als Orte des Unheimlichen.

Natürlich, nichts liegt Bela B. ferner als eine Diffamierung des Ostens. Sein Scharnow ist trotz seiner seltsamen Seiten ein durch und durch liebenswerter Ort, und viele seiner Handlungsfäden entwirren sich zu guter Letzt und führen zu einem harmonischen Ende. Doch auch wenn er das Buch seiner Spandauer Jugend widmet und einfach einen Schauplatz wollte, an dessen Horizont Berlin gerade noch sichtbar ist, folgt es doch dem Schema einer von Berlin aus definierten Literatur, wie sie den heutigen Betrieb dominiert. Und weite Teile von Brandenburg sind trotz räumlicher Nähe in einem mehrheitlich von Westdeutschen bewohnten Land immer noch mehr Peripherie als der Hunsrück oder das Emsland (schreibt ein Rezensent, der teils in der Grafschaft Bentheim lebt). Das muss man dem Buch nicht vorwerfen, aber man sollte es sich bewusst machen. Gerade die Fantastik sagt manchmal mehr über die Gesellschaft aus, in der sie entstanden ist, als mancher realistisch erzählte Text oder Film. Denn gerade sie kann Ängste und Sehnsüchte verfremdet, aber präzise widerspiegeln – wie in H.G. Wellsʼ originalem War of the Worlds, das die dunklen Seiten des Kolonialismus ebenso verarbeitet wie Ängste vor einer deutschen Invasion auf den britischen Inseln. Oder wie in James Camerons Avatar, das mit ungeheurem digitalen Aufwand die Sehnsucht des modernen Menschen nach dem „einfachen Leben“ vor und jenseits des Digitalen auf den Flüssigkristallbildschirm bringt. Aber wofür steht dann Scharnow? Vielleicht tatsächlich für eine Welt, in der, linksliberal gesprochen, eine Vielzahl von Lebensweisen Platz hat und die Anhänger einer Ideologie mit seltsam geformten Kreuzen auf die Fresse kriegen wie einst in Blues Brothers. Aber auch wenn man Scharnow gar nicht auf solche Dimensionen hin lesen will: Bela B.s Debütroman ist ein großes Vergnügen – kein Buch, das man sich mit „Mische“ schöntrinken muss.

Titelbild

Bela B: Scharnow. Roman.
Heyne Verlag, München 2019.
414 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783453271364

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