Attraktive „gefühlte Wahrheiten“

Über William Daviesʼ „Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fakten sind nicht mehr Fakten. Eigentlich sollten sie der Ausgangspunkt sein, um nach den besten Lösungen für ein Problem zu suchen – quasi das von Experten gelieferte Fundament für rationale Diskussionen. Stattdessen sind sie inzwischen selbst zum Problem geworden. Jüngstes Beispiel: die Feinstaub-Debatte. Am Streit um Grenzwerte zeigt sich wieder einmal, wie heute jedes Thema in einem Hickhack zuerst zwischen, dann über Experten endet. Emotionen scheinen wichtiger als Argumente zu sein, und Wissenschaft, Medien und Politik gelten einmal mehr als unglaubwürdig und interessengesteuert. Am Ende triumphieren schließlich die Populisten, indem sie sich einfach auf das berufen, wofür eine Beraterin von Donald Trump den denkwürdigen Begriff „alternative facts“, alternative Fakten, geprägt hat.

Keine guten Zeiten für Experten also, aber umso bessere für Demagogen oder Verschwörungstheoretiker. Über die gefährliche Attraktivität der sogenannten „gefühlten Wahrheiten“ erscheinen gerade in diesem Frühjahr etliche neue Bücher, darunter auch William Daviesʼ Studie mit dem Titel Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen.

Darin beschreibt der englische Ideen- und Wirtschaftshistoriker zunächst, wie das moderne Expertentum im Zeitalter der Aufklärung entstand und Philosophen wie Thomas Hobbes Vorschläge für eine rationale Staatsführung entwickelten. Erstmals wurden Entscheidungen aufgrund von Daten und Statistiken getroffen; neue Institutionen wie die Royal Society schufen Standards für eine nachprüfbare Wissenschaft. Dass die neuen Werkzeuge umgehend skrupellos-kapitalistischen Zwecken dienten, scheint jedoch eher auf Kontinuitäten zwischen gestern und heute hinzuweisen. So waren im 17. Jahrhundert die wichtigsten Kunden der neuen Versicherungswirtschaft die Betreiber von Sklavenschiffen; heute stehen Big Data-Analysen und KI-Forschung im Dienst von Google und Co.

Aufschlussreicher wird Daviesʼ Buch, wenn es um die Frage geht, warum die Eliten und Experten in den letzten Jahren solch einen Vertrauensverlust erlitten haben. Fortschrittsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt oder Statistiken über Arbeitslosigkeit beispielsweise spiegelten immer weniger die Alltagsrealität breiter Bevölkerungskreise wider. Den Jubelarien über Digitalisierung und Globalisierung stehen gerade in den USA Massenarmut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und die um sich greifende Opiatkrise gegenüber. Dass sich Betroffene allzu leicht mit Populismus und wilden Versprechungen ködern lassen, ist wenig überraschend. Gerade jene Menschen, die sich marginalisiert fühlten, hätte das Bedürfnis nach Selbstachtung und Rückgewinnung von Kontrolle zur Wahl Donald Trumps oder in England zum Brexit geführt, glaubt William Davies.

Diese Thesen des Wirtschaftshistorikers sind zwar nicht neu, aber doch von erheblicher Erklärungskraft. Mehr noch als seine Ausführungen zum Einfluss der sozialen Medien oder zu den Folgen der Finanzkrise betrifft das Daviesʼ Exkurse über die Bedeutung eines funktionierenden Gesundheitswesens für eine Gesellschaft. So erschrecken etwa seine Zahlen zur sinkenden Lebenserwartung in den USA – während zeitgleich Internet-Mogule wie Peter Thiel durch Verjüngungskuren den Tod auszutricksen versuchen.

Allerdings hätte Daviesʼ Darstellung selbst ein Schuss mehr Emotion gutgetan, so trocken und umständlich arbeitet sich der Autor durch seine Themen. Und einen Königsweg aus der Vertrauenskrise vermag auch er nicht zu finden. Dass man die Gefühle von Betroffenen endlich ernstnehmen müsse, wie der Autor betont, gehört längst zu den Standardfloskeln der Politiker. Richtig ist aber Daviesʼ Hinweis, dass sich die Menschen ja nicht nur von Rattenfängern mobilisieren lassen. Der Autor verweist dabei unter anderem auf den „March for Science“ in den USA als Reaktion auf Trumps Klimapolitik. Hiesige Leser könnten an jene Schüler denken, die für einen Wandel in der Klimapolitik – und damit für ihre Zukunft – auf die Straße gehen.

Titelbild

William Davies: Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen.
Piper Verlag, München 2019.
384 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058940

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