Balladeske Grenzüberschreitungen

Professor Ulrich Gaier sucht überall Ur-Eier

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon Johann Joachim Eschenburg schreibt in seinem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste (31805): „Zwischen Romanzen und Balladen scheint durchaus kein wesentlicher Unterschied zu seyn“. Eine Unterscheidung sei daher „willkührlich“. Er selbst verwendet beide Bezeichnungen synonym. Darin sind ihm die meisten Dichter und Balladenforscher, von Ausnahmen abgesehen, bis heute gefolgt, auch Ulrich Gaier in seinem neuen Buch mit dem Titel Ballade und Romanze. Poetik und Geschichte.

Mit der Frage, was denn nun eine Ballade eigentlich ist, hält er sich nicht lange auf. „Mit Absicht sage ich nicht: ‚Die Ballade ist …‘, denn damit gerät man in die Festsetzung eines Begriffs, dem dann die Dichter unter Strafandrohung vernichtender Kritik oder Nichtachtung gehorchen müssen. Der Literaturwissenschaftler schwingt unbarmherzig die Keule, wenn ein Dichter wagt, den von Amtswegen festgesetzten Begriff zu überschreiten, denn bei der Beurteilung von Gattungen hat er die Macht und verteidigt seinen Begriff gegen unbotmäßige Dichter und Kollegen“. Wahrlich mannhafte Worte! Nur: Wo findet man heute noch unter uns solche herzlos keulenschwingende Kameraden?

Gaiers ausdrücklicher Verzicht auf Definitionen, auf das ‚Schubladisieren‘ nach Gattungsformen und auf das Kategorisieren nach Themen der Balladen hat zur Folge, dass die im Untertitel seines Buches versprochene Darstellung der Poetik und Geschichte der Ballade ganz auf die 27 Interpretationen verlagert wird, in denen die Machart (Poetik) und der jeweilige historische Kontext (Geschichte) des Gedichts regelmäßig behandelt werden.

Ganz aber mag Gaier auf eine eigene Bestimmung der Ballade, die keine Definition sein soll, denn doch nicht verzichten. „Eine Ballade“, sagt er, „bringt zum Bewusstsein, dass jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet. Oder umgekehrt: Ein Gedicht, das zeigt, wie jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet, nennt man Ballade“. Also doch eine Definition, eine Grenzziehung! Die Prüfung dieses Merkmals spielt sich auf der Handlungsebene des Textes und auf der Rezeptionsebene des Lesers ab. Doch Gaiers Beispielreihe für die balladesken Grenzüberschreitungen (zwischen Leben und Tod, vermeintlicher Freiheit und tatsächlicher Bindung, Mitleid und Zynismus usw.) zeigt, dass es sich gerade nicht um balladenspezifische Grenzüberschreitungen handelt. Sie kommen ebenso in der Form der sozialen Grenze in den Dramen von J.M.R. Lenz, Heinrich Leopold Wagner, in Schillers Kabale und Liebe und in Goethes Faust vor, sind also alles andere als ein balladeskes Alleinstellungsmerkmal. Gaiers Antwort auf diesen möglichen Einwand: „Im Bürgerlichen Trauerspiel kommt die balladeske Grenzüberschreitung sogar auf die Bühne“. Sie bleibt also auch im Drama, was sie von Haus aus ist: eine „anthropologische Grundform“. Was diese Texte miteinander verbindet und sie im Sinne Gaiers zu Balladen macht, ist die Beobachtung und These, dass „nicht erst das Überschreiten, sondern schon das Setzen und Verteidigen einer Grenze die konstitutive Handlung einer Ballade ausmacht“. Das ist nicht als Definition gemeint, vor der Gaier ebenso zurückschreckt wie vor jeglicher Kategorisierung der Balladen nach Themen oder Typen, sondern als „handlungstheoretische Anweisung“.

Vielleicht im Sinne von Ulrich Gaier könnte man, was die Grenzüberschreitungen angeht, noch einen Schritt weiter gehen und das wiederholte Ausgreifen der Ballade in andere Gattungsformen selbst als eine Folge von Grenzüberschreitungen deuten. Die Geschichte der Ballade würde sich dann als eine Geschichte ihrer Erneuerungen durch Grenzüberschreitungen hin zur Moritat und zum Bänkelsang, zum historischen Lied, zum Kabarett-Chanson, zum Schlager und zu Werbetexten lesen lassen.

Stattdessen bekennt sich Gaier uneingeschränkt zu den vielzitierten Bemerkungen Goethes über die Ballade, also zu dem „Ur-Ei“, das für jeden Balladenforscher unentbehrlich ist und in keiner Darstellung der Ballade fehlen darf: „Goethe hatte Recht, als er von Ballade als ‚Ur-Ei‘ sprach“, das Gaier, vielleicht ein wenig frömmelnd, nun selbst deutend ausgiebig bebrütet: „Das Ur-Ei ist Stimme“, und „,Stimme‘ liegt am nächsten bei Gott. […] Im Erzählen, Reden und Singen ist überall göttliche Stimme, unartikuliert, aber sich in den Dichtweisen artikulierend“.

Gaier sieht runde Ur-Eier, wohin immer er schaut: „ein rundes Balladen-Ur-Ei hat Mörike gelegt“, findet er anlässlich des Feuerreiters und bescheinigt Münchhausens Bauernaufstand: „Die Forderungen des balladischen Ur-Eis, lyrische Sangbarkeit, Erzählung, dramatische Handlung sind erfüllt“. Selbst zu Benns Gedicht Kleine Aster heißt es: „Dramatische Handlung, epische Erzählung, lyrisches Mitgefühl runden das Ur-Ei“. Und als „schön abgerundet“ empfindet er das Ur-Ei in Robert Gernhardts Das Scheitern einer Ballade. Eine Ballade, denn: „Hier wird Goethes Bestimmung der Ballade als Ur-Ei der drei Gattungen Lyrik, Erzählung, Drama rundum erfüllt“.

Gaier befragt die von ihm behandelten Balladen regelmäßig in allen Einzelinterpretationen seines Buches nach den beiden Gesichtspunkten: 1. Auf welche Weise erfüllen sie Goethes Bestimmung der Ballade als „Ur-Ei“? Und 2. In welchem Sinne finden in diesen Balladen Grenzziehungen statt?

Die meisten Interpretationen werden durch biographische Einleitungen zu den Autoren eröffnet, in der Regel zitiert nach Wikipedia. So heißt es bei Münchhausen, Benn, Wedekind, Bloomfeld, Morgenstern, Reinig, Sarah Kirsch, Robert Gernhardt, Biermann: „Informationen nach Wikipedia“. Nichts gegen Wikipedia, aber im Übermaß genutzt, erweckt es den Eindruck, als sei dieser Zugang zu Informationen über Autoren anderen, namentlich gezeichneten Artikeln grundsätzlich vorzuziehen. Äußerst sparsam berücksichtigt Gaier Sekundärliteratur zur Ballade und zu den einzelnen Gedichten. Hartmut Laufhütte wird lediglich als Urheber eines „ebenso schwergängigen wie mehrfach widerlegten Definitionsversuchs“ zitiert, ohne dass sein Buch Die deutsche Kunstballade auch nur genannt wird. Brigitte Kronauer kommt angeblich in ihrer Interpretation von Brechts Von der Kindesmörderin Marie Farrar „zu einer arg primitiven Darstellung“; inwiefern, bitte! „Zu dem Gedicht [Christa Reinigs Ballade vom blutigen Bomme] hat Christoph Meckel (geb. 1935) einiges beigesteuert“. Ja, was hat er denn beigesteuert? Selbst im Literaturverzeichnis wird Meckels großformatiger Holzschnittzyklus zu Reinigs Ballade nicht genannt.

Dieses Literaturverzeichnis, euphemistisch „Bibliographie“ genannt, weist erhebliche Mängel auf. Mehrfach wird ein und dieselbe Interpretation gleich drei oder sogar fünf Mal hintereinander angeführt, als handele sich um verschiedene Arbeiten. Die Auswahl der in der „Bibliographie“ verzeichneten Interpretationen ist völlig willkürlich. Oft fehlen wichtige Aufsätze. Eingestreut in die Liste der nachgewiesenen Sekundärliteratur finden sich unnötigerweise auch Anthologien, die das entsprechende Gedicht enthalten. Ob eine Sammlung von Interpretationen wirklich einen umfangreichen Index der „Sachen“, der Orte und der Personen benötigt, mag man bezweifeln. Immerhin erfährt man aber auf diese Weise, dass Ulrich Gaier, zusammen mit Goethe, in diesem Buch der meistzitierte Autor ist und dass es einen Dadaisten namens Tsar gibt, der im Haupttext, auch nicht viel besser, als Tsara erscheint.

Gaier ist ein sehr genauer Leser. Er hat, mit Goethe zu reden, den „realistischen Tick“ und prüft die Gedichte gern auf ihre Glaubwürdigkeit hin. „All das ist unglaubwürdig“, heißt es pauschal zur dritten Strophe von Mörikes Der Feuerreiter. „Ein wundes Reh macht keine großen Sprünge“, korrigiert Gaier Drostes Der Knabe im Moor, und: „Die Därme sind […] die anatomisch falsche Stelle für eine erfolgreiche Schlachtung“, moniert er den Vers „Ich stieß ihr den Dolch in die Därme“ aus Wedekinds Der Tantenmörder. Und in Heines Lorelei stimmt gar nichts mehr: Das „Märchen aus alten Zeiten“ stammt nicht aus alten Zeiten, der Lorelei-Felsen ist kein Berg mit Gipfel, der Sprecher der Ballade kann gar nicht sehen, ob die „schönste Jungfrau“ noch Jungfrau ist; dass sie „mit goldenem Kamme“ „ihr goldenes Haar“ kämmt, ist höchst unwahrscheinlich, denn: „Gold ist sicher schwer zu kämmen“. Das alles ist „glatt erfunden“, schreibt Gaier. Wie wahr! Allerdings: Auf diese wunderbare, realitätsferne, vergoldete Erfindung, denke ich, kommt es Heine doch wohl an, nicht darauf, dass der Sprecher „offensichtlich nur eine Schuldige für einen Verkehrsunfall auf dem Rhein“ braucht. – Gaiers Überprüfungen und Korrekturen wollen keine Besserwissereien sein, sondern sie sollen der Charakterisierung der jeweils Sprechenden dienen. Sie provozieren den Widerspruch und die Einsicht des Lesers in die Eigenart der Sprechweise der Balladen.

Häufig entdeckt Gaier in der einen Ballade, die er sich vorgenommen hat, gleich mehrere Balladen. So erkennt er in Goethes Ballade und in Drostes Die Vergeltung zwei Balladen. Bei Fontanes Die Brück am Tay „haben wir drei Balladen“. „Drei Balladen in einer einzigen Ballade“ bietet auch Clemens Brentanos Zu Bacharach am Rheine, zu denen am Ende noch eine vierte Ballade hinzutritt. Und in Christa Reinigs Ballade vom blutigen Bomme stecken gar fünf Balladen“, nämlich ein Bänkelsängerlied, eine historische Ballade über die Gladow-Bande, eine religiöse Ballade, eine juristische Ballade und eine politische Ballade. In allen fünf Fällen werden Grenzen unterschiedlicher Art überschritten, wie Gaier im Einzelnen darlegt, so dass ihnen der Ehrentitel einer separaten Ballade zukommt. Denn: „Eine Ballade bringt zum Bewusstsein, dass jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“. In diesem Sinne spricht Gaier gern und oft von Bewusstseinsballaden.Sie geben den Bewusststeinsstand der jeweilig sprechenden oder dargestellten Figuren wieder. Solche Bewusstseinsballaden sind u.a. Hebbels Der Haideknabe und C.F. Meyer Die Füße im Feuer; eine „richtige Bewusstseinsballade“ ist sogar Benns Kleine Aster und „auf jeden Fall“ auch Wedekinds Der Tantenmörder. Sind vielleicht bei genauem Hinsehen überhaupt alle Balladen Grenz-, Rollen-, Inszenierungs- und insofern Bewusstseinsballaden?

Gelegentlich müssen allerlei assoziative Spekulationen solide Recherchen ersetzen. So z.B. im Fall der dadaistischen Ballade Atze von Erwin Bloomfeld (Blumenfeld), mit der Gaier eine echte Entdeckung gelingt. „Interessant ist das kleine Hotel an der Wieden“, schreibt er, „da denkt man an Wiedenbrück, an Wieden bei Wien, Wieden im Schwarzwald oder an die holländische Moorlandschaft (heute Nationalpark Weerribben-Wieden). Blumenfeld war 1920 in Amsterdam und verliebt in Lena Citroen, also spricht viel für die Moorlandschaft in Holland“. Wirklich? Hätte Gaier den Erstdruck des Gedichts in der Zeitschrift Der Dada (Heft 3, April 1920, S. 10) aufgesucht, dann hätte er seine Holland-Vermutung sogar noch stützen können. Denn als Verfasser wird dort „Erwin Bloomfeld (Holland)“ genannt. Dennoch: Die Ballade – wenn es denn eine ist – spielt sich keineswegs in Holland ab und schon gar nicht in einer dortigen Moorlandschaft, sondern das „interessante“ Hotel liegt im innerstädtischen 4. Wiener Bezirk Wieden. Dort, „an der Wieden“, wie man in Wien sagt, befindet sich das kleine Hotel, in das die Sprecherin des Gedichts mit ihrem Atze so dringend und eilig gehen möchte, damit er sie („schnell, o schnell“) küssen kann. Im Erstdruck, in dadaistischer Manier nach Art eines Plakats, eines Steckbriefs oder einer Anzeige schwarz-rot farbig gedruckt, wird der Text von einem ornamentalen Rahmen umgeben, der aus lauter gleichartigen Mini-Illustrationen der Köpfe eines einander küssenden Paares besteht: eine Kuss-Orgie steht den beiden offenbar bevor. Das kleine Hotel ist der Frau allerdings nicht durch den Augenschein bekannt, sondern durch ein Wiener Walzerliedchen des Komponisten Ralph Benatzky aus dem Jahr 1915, das sich schnell und bis heute zu einem beliebten süßlichen Evergreen entwickelte: Nach der Zeile „Ich weiß an der Wieden ein kleines Hotel“, die in Bloomfelds Ballade gleich zwei Mal vorkommt, ist dieser Schlager benannt. Das Hotel ist also ein Zitat, ein Schnulzen-Zitat, ebenso wie das von Bloomfeld im gleichen Text verwendete Eichendorff-Zitat „Wer hat dich, du schöner Wald“, das eine falsche Waldseligkeit preist.

Und wer ist die Frau, die hier spricht? Sie spricht deutlich berlinerisch („Fresse“, „willste“, „hörste“), und auch hier bestätigt ein Blick in den Erstdruck des Gedichts den beabsichtigten Berlin-Bezug: Über und unter dem als „Lenzgedicht“ (man denkt an Kurt Schwitters Merz-Gedicht) bezeichneten Text kann man dort in verkehrt herum gesetzter Form lesen: „EinARPiger ARPostel gesucht!“ Und „Du mußt Dr. Otto Burchard werden.“ – Eine Hommage an Hans Arp, den man zu den Mitbegründern des Dadaismus zählt, und an den Galeristen Otto Burchard, der 1920 die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin veranstalte, an der auch Hans Arp teilnahm.

Und auch Atze ist ein Berliner. „Atze“, so schreibt Gaier, „könnte von Arthur kommen oder von atzen, nähren, was mit ,Fresse‘ (,ATZE, willste mir die Fresse küssen‘) zusammenstimmt“. Es sei, sagt er, „empörend, sich einem hinwerfen zu wollen, der so zuhälterhaft Atze heißt“. In Berlin versteht man aber unter einem Atze den eigenen großen Bruder, und das Gedicht erhält deshalb ein zusätzliches inzestuöses Skandalon, das dem „Weltgewissen“, von dem eingangs die Rede ist, schnurstracks zuwiderläuft und es jedenfalls verdunkelt.

Ulrich Gaiers Buch lädt in vieler Hinsicht zum Zweifel und zum Widerspruch geradezu ein. Es ist fragwürdig und enthält mancherlei Fehler und philologische Inkonsequenzen. Aber es ist eigenwillig im Stil und temperamentvoll in den Urteilen und Thesen, so dass man es trotz einiger Bedenken mit Vergnügen liest.

Titelbild

Ulrich Gaier: Ballade und Romanze. Poetik und Geschichte.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
244 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783826065972

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