Die Werkstatt des „Moby-Dick“

Wie Herman Melvilles Meisterwerk entstand – und mit welchen Folgen

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine detaillierte Rekonstruktion der Entstehung von Herman Melvilles Großroman Moby-Dick ist und bleibt unmöglich, da das Manuskript nicht erhalten ist und es auch keine direkt zum Buch gehörenden Skizzen oder Notizen gibt. Rekonstruieren lässt sich lediglich der biografische Kontext, aus dem heraus und vor dessen Hintergrund der Moby-Dick entsteht.

Grundlegend sind die Erlebnisse des jungen Melville zur See. Er wurde zwar 1819 in eine großspurige Familie hineingeboren, die jedoch nach Bankrott und Tod des Vaters in anhaltende Bedrängnis geriet, weswegen Herman (der seinem Vater zufolge ohnehin „sprachlich zurückgeblieben“ war und über „eine etwas schwerfällige Auffassungsgabe verfügte“) nur eine dürftige Schulausbildung erhielt und sich früh nach eigenen Einkünften umsehen musste. Auf der Suche nach einer Erwerbstätigkeit, aber wohl auch im Streben nach Abwechslung von seinem wenig aufregenden Leben als Hilfsschulmeister und Landvermessungslehrling verbringt Melville ab 1839 fünf Jahre auf See und in fernen Ländern.

Mit gerade einmal 20 Jahren geht er auf seine erste Fahrt als Seemann, mit 22 auf die erste Walfangfahrt, die damit endet, dass er in der Südsee vor der Gewalt an Bord desertiert. Einige Wochen lebt er unter Eingeborenen (vielleicht auch „unter Kannibalen“) von Luft und Liebe, lässt sich dann erneut auf einem Walfänger anheuern, desertiert ein zweites Mal, kehrt schließlich auf einem Schiff der Kriegsmarine nach Amerika zurück und heiratet in eine betuchte Familie ein. Melville ist 25 und hat in diesen fünf Jahren praktisch den gesamten Erfahrungsschatz angesammelt, den er fortan zu Literatur macht.

Die Erlebnisse in der Südsee finden ihren Niederschlag in den Romanen Typee (1845) und Omoo (1847), die seine leider allzu kurze Karriere als Erfolgsschriftsteller begründen. Seine maritimen Erfahrungen speisen auf unterschiedliche Weise auch die Nachfolgeromane Mardi (1849), Redburn (1849) und White-Jacket (1850); während Mardi auf phantastisch-allegorische Weise noch einmal jene Südseeabenteuer nutzt, die bereits das Fundament für Typee und Omoo gebildet haben, beruht Redburn auf Melvilles allerersten Seemannserfahrungen als Schiffsjunge im Handelsverkehr zwischen den USA und England, White-Jacket auf den Erlebnissen an Bord des Kriegsschiffes, das ihn 1843/44 aus der Südsee zurückgebracht hat. Ausgespart bleibt in all diesen Büchern allerdings das Walfangthema, und so konnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann und wie Melville sich literarisch damit auseinandersetzen würde.

Bereits während seiner Zeit an Bord des Walfängers Acushnet, von dem Melville in der Südsee desertiert ist, hat er die wahre Geschichte des Walfangschiffs Essex aufgeschnappt, das im November 1820 im Pazifik von einem Wal attackiert und versenkt wurde. Andere drama­tische Berichte aus diesem blutrünstigen und gefährlichen Gewerbe kommen hinzu; aber auch jene Zustände an Bord solcher Schiffe, die Melville zur Desertion getrieben haben, gehen ihm noch so nahe, dass er sich die wenigen einschlägigen Publikationen besorgt und 1847 eine Rezen­sion über die Etchings of a Whaling Cruise von J. Ross Browne verfasst. Ob er um diese Zeit schon mit dem Gedanken an ein eigenes Buch über das Walfanggewerbe spielt, ist unbekannt, Indizien dafür gibt es nicht.

In Briefen Melvilles an Richard Henry Dana (Verfasser des Buches Two Years Before the Mast, das Melville in White-Jacket lobt) vom 1. Mai 1850 und an Richard Bentley (Melvilles Londoner Verleger) vom 27. Juni 1850 ist erstmals die Rede von einem Roman über eine „Walfangreise“. Melville schreibt hier von einer „Abenteuerromanze“, die er bis zum Herbst fertig zu haben gedenkt. Vom Manuskript dieses offensichtlich schon gut vorangekommenen Schreibprojekts ist leider nichts erhalten, sodass wir nicht wissen, wie Melville das Buch in dieser Phase hatte anlegen wollen. Es lässt sich lediglich fruchtlos darüber spekulieren, ob sich in dem Projekt schon der Einfluss der Lektüre William Shakespeares und John Miltons niederschlägt – beide Autoren hat Melville vermutlich Anfang 1849 für sich entdeckt, schafft sich daraufhin die Ausgaben The Dramatic Works of William Shakspeare [sic!] in sieben Bänden und The Poetical Works of John Milton in zwei Bänden an und beginnt, sich planmäßig in die Weltliteratur einzuarbeiten, deren Kenntnis ihm aufgrund seiner mangelhaften Schulausbildung zuvor versagt geblieben ist.

Zu einer literarischen Bildungsreise wird ihm deshalb auch ein mehrmonatiger Europa-Aufenthalt, zu dem er am 11. Oktober 1849 aufbricht. Vordergründig gilt die Reise dem Zweck, in London seinen Verleger Bentley zu treffen und mit ihm über die nächsten Publikationen zu verhandeln. Als Melville am 1. Februar 1850 nach New York zurückkehrt, führt er im Gepäck als Früchte der Reise aber vor allem seine persönliche Bibliothek der Weltliteratur mit: Werke von Francis Beaumont und John Fletcher, James Boswell, Sir Thomas Browne, Thomas De Quincey, Johann Wolfgang Goethe, Thomas Hope, Charles Lamb, Johann Casper Lavater, Christopher Marlowe, Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Schiller, Mary Wollstonecraft Shelley und anderen, die sämtlich ihre Spuren in Moby-Dick hinterlassen werden.

Trotz dieser Vertiefung Melvilles in die Weltliteratur wäre der Moby-Dick vielleicht doch nur ein weiteres Abenteuerbuch geworden, jene „Abenteuerromanze“, von der Melville Ende Juni 1850 spricht, wäre ihm nicht die literarisch folgenreichste Begegnung seines Lebens da­zwischengekommen. Vom 4. bis zum 12. August jenes Jahres hält sich Melville mit literarischen Freunden in Pittsfield (Massachusetts) auf; man trifft sich zu gemeinsamen Festivitäten, Picknicks und Festschmäusen. Bei einem dieser Picknicks lernt Melville am 5. August den seit einigen Monaten im nahegelegenen Lenox wohnenden Nathaniel Hawthorne kennen, der sich sogleich bestens mit Melville versteht, lange Gespräche mit ihm führt und ihn zu sich nach Haus einlädt. Hawthorne ist 15 Jahre älter als Melville und eine anerkannte literarische Persönlichkeit, an deren öffentliches Format Melville selbst trotz seines Sensationsruhms nicht ansatzweise heranreicht – vielmehr ist Hawthorne für Melville zwangsläufig eher eine Vater- und Vorbildfigur, an der er sich orientieren kann, als ein gleichwertiger Freund.

Schon in den Tagen nach der ersten Begegnung verfaßt Melville eine ausführliche Würdigung von Hawthornes bereits 1846 erschienener Kurzgeschichtensammlung Mosses from an Old Manse. Der Aufsatz erscheint noch vor dem Monatsende in zwei Teilen anonym in der Zeit­schrift The Literary World. Als Lobhudelei grenzt Hawthorne und seine Moose passagenweise ans Peinliche, zumal der Text eben zu jenem Zeitpunkt entsteht, da Melville sich persönlich bei Hawthorne auf keineswegs unaufdringliche Weise einzuschmeicheln beginnt. Wichtiger aber ist, dass Melville den verehrten Kollegen beherzt auf eine Stufe mit Shakespeare stellt und sogleich anfängt, sich weniger über Hawthorne als vielmehr über die Qualitäten Shakespeares und überhaupt über literarische Größe und Tiefe auszulassen. Indem Melville das tut, formuliert er theoretisierend, was er schon bald darauf mit seinem Romanmonstrum Moby-Dick praktisch umzusetzen versucht. „Doch ist es besser, auf eigenstän­dige Weise zu scheitern, als erfolgreich nachzuahmen“, verkündet er: „Wer nie irgendwo gescheitert ist, der Mann kann kein Großer sein. Scheitern ist die wahre Probe auf Größe.“ Melville selbst macht sich in diesem Moment daran, ein „Großer“ zu werden, und verabschiedet sich damit sehenden Auges von Erfolg und Anerkennung. Im „Applaus der Öffentlichkeit“ erkennt er ein „starkes präsumptives Indiz für das Mittelmaß“, und aller Mittelmäßigkeit entsagt er von nun an standhaft und konsequent. Die literarische Rücksichtslosigkeit, die Melville sich hier auf seine Fahnen schreibt und deren Verwirklichung in Moby-Dick aus dem früheren Erfolgsautor einen verhöhnten und verspot­teten Misserfolgler machen wird, verbietet offenbar auch alle weiteren literaturbetrieblichen Kleinaktivitäten, und so bleibt Hawthorne und seine Moose Melvilles letzte öffentliche Wortmeldung in literarästhetischen Fragen – ein einzigartiger Text, der einer einzigartigen Situation entspringt, nämlich der Situation eines nach Höherem strebenden Nachwuchsschriftstellers, der unverhofft auf einen anerkannten literarischen Meister trifft, der ihm sehr gewogen ist und sein Streben auf vielfache Weise unterstützt.

Von dieser Unterstützung legen die erhaltenen Briefe Melvilles an Hawthorne und dessen Frau Sophia beredt Zeugnis ab – wenn auch leider nur indirekt. Zum Vollbild des Dialogs der beiden Schriftsteller fehlt die andere Seite. Hawthornes Briefe, die das Bild komplettieren würden, sind nicht erhalten und lediglich zum Teil in ihrem Sinngehalt aus Melvilles Schreiben zu erschließen. Ebenfalls leider nicht dokumentiert sind die persönlichen Begegnungen der beiden, die schon bald nach dem Kennenlernen Nachbarn werden. Am 14. November 1850 erwirbt Hawthorne mit Geld, das er sich von seinem Schwiegervater geliehen hat, eine Farm in der Nähe von Pittsfield, die er Arrowhead nennt. Sowohl in seinen Briefen als auch bei Besuchen schildert Melville dem Älteren den Fortgang der Arbeit an seinem Walfangroman, der sich allerdings unter den neuen Einflüssen, denen Melville nun ausgesetzt ist, in eine neue Richtung zu entwickeln scheint. Als Moby-Dick schließlich im Herbst 1851 als Buch herauskommt, handelt es sich keineswegs um eine „Abenteuerromanze“. Gewidmet hat Melville den Roman Hawthorne: „Zum Zeichen meiner Bewunderung für sein Genie“.

Melville belässt es aber in seinen Briefen keineswegs dabei, nur über seinen Walroman zu schreiben; auch andere literarische Projekte werden thematisiert. Am 13. August 1852 schickt er dem Freund den Stoff zu etwas, das er sich als ideales Hawthorne-Werk vorstellen kann, ein Drama um Liebe, Verlust und ewige Zeiten des Wartens. Hawthorne scheint darauf nicht so recht angesprungen zu sein, und so kündigt Melville im Dezember 1852 (in seinem allerletzten erhaltenen Brief an Hawthorne) an, er werde die Erzählung nun doch selbst schreiben. Ob er das getan hat oder nicht, gilt als ungeklärt. Es gibt Indizien dafür, dass er im ersten Halbjahr 1853 eine Erzählung oder womöglich sogar einen Roman geschrieben hat, der Isle of the Cross überschrieben war. Einiges scheint darauf hinzudeuten, dass er die Arbeit Ende Mai abschloss und im Juni 1853 seinem New Yorker Verleger vorlegte, der sie aber ablehnte, wohl aufgrund der Tatsache, dass die beiden vorherigen Bücher Melvilles (1851 Moby-Dick und 1852 Pierre) bei Publikum und Kritik krasse Misserfolge wurden. Wenn es das Manuskript Isle of the Cross jemals gegeben haben sollte, so hat es sich jedenfalls nicht erhalten. Eine andere Theorie besagt allerdings, dass es sich bei dem Manuskript, das Melville im Juni 1853 erfolglos seinem Verleger vorgelegt hat, um eine sehr viel kürzere Arbeit gehandelt habe, nämlich um die Erzählung Die Norfolk-Insel und die Chola-Witwe, die 1854 als Teil des Erzählzyklus Encantadas in Putnam’s Monthly Magazine erschien. In dieser Erzählung lassen sich bei genauer Betrachtung etliche Elemente wiederfinden, die seinem am 13. August 1852 Hawthorne gegenüber skizzierten Entwurf und den diesem Schreiben beigelegten Materialien entnommen sein könnten. In jedem Fall lässt sich beobachten, dass sich Melvilles Stil um diese Zeit – also nach Abschluss von Pierre – merklich verändert und dem schwermütigen und dunklen Symbolismus Hawthornes annähert, ob nun bewusst oder nicht.

Auf persönlicher Ebene geht in dieser Zeit allerdings die vorherige Nähe zu Hawthorne verloren. Dieser ist schon im November 1851 aus Lenox weggezogen, da er die Winter auf dem Lande zu schlecht vertrug, und damit ist die Möglichkeit des persönlichen Umgangs dahin (Melville selbst wird seiner finanziellen Schwierigkeiten wegen 1863 Arrowhead verkaufen und nach New York ziehen). Nach dem Dezember 1852 ist keine Korrespondenz zwischen Melville und Hawthorne mehr nachweisbar. Ein letztes Mal begegnet sind sich die beiden Schriftsteller im November 1857 in England, wo Hawthorne inzwischen einen Posten bei der US-Botschaft bekleidet. Melville besucht ihn im Rahmen seiner halbjährigen Europa-Reise 1856/57 für drei Tage. Nach einer längeren Unterhaltung am Strand von Southport notiert Hawthorne sich in seinem Tagebuch einige dürre Zeilen, die andeuten, wie sehr ihn der rastlos um Fragen von Vorsehung und Vergeblichkeit kreisende grüblerische Geist Melvilles beunruhigt – das frühere wechselseitige Verständnis der beiden lässt sich nicht wiederbeleben. Einen weiteren Kontakt scheint es nicht gegeben zu haben. Hawthorne stirbt am 19. Mai 1864 – es bleibt offen, ob Melvilles Gedicht Monodie womöglich auf Hawthorne bezogen und von dessen frühem Tod veranlasst ist.

Als Melville 1891 stirbt, ist er so vergessen, dass die New York Times ihm nur einen vierzeiligen Nachruf widmet, der seine literarische Karriere in dem Satz zusammenfasst: „Er war der Autor von TaipiOmuMobie Dick und anderen Seefahrergeschichten, verfaßt in jüngeren Jahren.“ Tatsächlich hatte Melville in seinen „jüngeren Jahren“ einigen Erfolg gehabt mit den Büchern über seine Abenteuer in der Südsee, doch dann kamen dieser erfolgreichen Karriere seine weitergehenden literarischen Ambitionen ins Gehege – er wollte keine reinen „Seefahrergeschichten“ mehr schreiben. Mittlerweile hatte er sich quer durch die Literaturgeschichte gelesen und wollte die Tragödienkunst Shakespeares und Goethes auf die Lebenswelt seiner Zeit übertragen. Diesen Anspruch löste er mit Moby-Dick; oder: der Wal ein, dem ersten genuin amerikanischen Meisterwerk der Literatur. Als solches war es seiner Zeit allerdings so sehr voraus, dass die Publikation seinem Autor einen Karriereknick bescherte, von dem er sich nie erholte. Die zweite Hälfte seines Lebens verdämmerte er als Gescheiterter, musste sich zum bescheidenen Lebensunterhalt einen Beamtenposten suchen und schrieb nur noch sporadisch Gedichte, die er auf eigene Kosten in Kleinst­auflagen drucken ließ.

Erst lange nach seinem Tod, in den 1920er Jahren, wurde Melville wiederentdeckt und Moby-Dick als Vorreiter der literarischen Moderne erkannt. Eben hatte James Joyce mit Ulysses gezeigt, wozu der Roman fähig war, wenn man ihm erlaubte, sprachlich und formal alle Scheuklappen abzulegen und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Tatsächlich sind Ulysses und Moby-Dick in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Beide Romane bedienen sich auf vielfache Weise in der Literaturgeschichte; beide versuchen mit gewaltigem sprachlichen Aufwand, aber unter Beschränkung auf einen kleinen und scheinbar abseitigen Raum (bei Joyce ist es ein einziger Tag im Leben einer überschaubaren Stadt, bei Melville die noch kleinere Welt eines einsamen Walfangschiffes) eine Gesamtschau menschlichen Getriebes, die notwendigerweise zersplittern muss, weil die Lebenswirklichkeit der Moderne sich nicht mehr als widerspruchsfreier und harmonischer Kosmos gestalten lässt. Aber all das wagte und schaffte Melville bereits 70 Jahre vor Joyce – er hätte Leser gebraucht, wie es sie vor Joyce nicht gab. Und auch heutigen Lesern verlangt Melville (wie Joyce) allerhand ab, manchen wohl zu viel.

Als Norbert Wehr, der Herausgeber der Literaturzeitschrift Schreibheft, 1991 zu Melvilles 100. Todestag eine Spezialnummer plante, wollte er darin zwei Moby-Dick-Kapitel in Neuübersetzungen abdrucken, die die gebrochene Modernität des Romans voll zur Geltung kommen lassen sollten. So kam ich ins Spiel. Als Übersetzer stand ich noch am Anfang meiner Karriere, hatte allerdings schon deutsche Fassungen später Joyce-Texte publiziert, die Wehr gefielen, drum bat er mich, es nun mit Moby-Dick zu versuchen. Dazu musste er mich allerdings erst einmal überreden, denn ich hatte den Roman nie gelesen, kannte lediglich die klassische Verfilmung mit Gregory Peck und hielt Moby-Dick irrigerweise für ein Aben­teuer­buch. Die Lektüre korrigierte rasch mein Fehlurteil: Ich geriet sofort in den Bann der schroffen, kompromisslosen und immer exzessiven Kunst Melvilles – im Original. In vorlie­genden deutschen Übersetzungen fand ich davon kaum etwas wieder: Die Exzes­se waren gezähmt worden, die brachialen Satzkonstrukti­o­nen in Schönschreiberei überführt, die Risse und Sprünge übertüncht. Hier hatte ich also eine Aufgabe; übersetze­risch war aus Moby-Dick viel mehr und anderes herauszuholen, als vorherige Übersetzer es getan hatten, und so ging ich ans Werk, zunächst nur für ein Kapitel.

Das Ergebnis meiner Bemühungen fand Zuspruch, und so folgte die Frage, ob ich nicht den ganzen Roman über­setzen wolle, nämlich für eine geplante neue Melville-Werkausgabe. Was hätte ich mir anderes wünschen können? Ich war ungefähr in dem Alter, in dem Melville selbst seinen Roman geschrieben hatte, wie Melville selbst konnte ich hoffen, mit dieser Gewaltarbeit zu Ruhm und Ansehen zu kommen. Moby-Dick fas­zi­nierte mich immer mehr, je weiter ich in das Buch ein­drang, und so machte ich mich also an meine Übersetzer­fron – auf vage verlegerische Zusagen hin, ohne Vertrag, in aller Anfängernaivität, ohne die bisweilen die besten Dinge nicht passieren würden. Irgendwann war ich tat­säch­lich fertig; irgendwann wurde mir die Übersetzung abgekauft, auch bezahlt und belobigt – publiziert wurde sie aber erst einmal nicht. Es begann eine jahrelange Hänge­partie, in deren Verlauf die ursprünglichen Heraus­geber der geplanten Melville-Ausgabe entnervt das Handtuch warfen. Schließlich wurde ein neuer Heraus­geber gefunden, ein profunder Melville-Kenner, dem ich allerdings Melvilles Schroff­heiten zu schroff, die Ungelenkheiten zu ungelenk, die betonte Uneleganz zu unelegant übersetzt hatte. Es wurde entschieden, meine Fassung von einem Übersetzerkollegen behutsam über­arbeiten zu lassen, um die Exzesse zu kappen und Mel­ville ein klein wenig mehr den Gepflogenheiten guten deutschen Stils anzupassen. Der mit der Überarbeitung beauftragte Kollege hatte allerdings wie alle Übersetzer seinen eigenen Kopf, und so kam bei der ‚behutsa­men Anpassung‘ etwas heraus, was nicht mehr meine Überset­zung war – für ein solches Ergebnis war ich nicht ange­treten. Folglich wurde ein Scheidungsvertrag aufgesetzt, die Überarbeitung kam als Neuübersetzung unter dem Namen des Bearbeiters auf den Markt und fand Anklang, ich selbst geriet in Gefahr, einen ebensolchen Karriere­knick zu erleiden wie Melville 150 Jahre zuvor – bekla­gen hätte ich mich nicht können, hatte ich mich doch selbst durch mein Festhalten an sämtlichen Exzessen Mel­villes in die Rolle dessen manövriert, der in den Feuil­letons als „Deutschlands sturster Über­setzer“ geadelt wurde.

Aber ich hatte mehr Glück als Melville: Auch meine schroffe Fassung wurde (zunächst auszugsweise im ausnahmsweise weißen Schreibheft, dann in Buchform) publiziert, auch sie fand Anklang (nicht überall, aber das will sie auch nicht – eine exzessive Über­set­zung braucht exzes­sive Leser, die anderen lesen andere Übersetzun­gen). Der böseste aller Vorwürfe, nämlich der, meine Fassung sei „komplett unlesbar“, ist in dem Moment verstummt, in dem Christian Brück­ner seine epochale Komplettlesung vorlegte. Voller Achtung für Melvilles Text aus diesem herauszuholen, was irgend möglich ist – das war Leitgedanke sowohl bei der Übersetzung als auch bei der Lesung.

Der vorliegende Text ist eine leicht veränderte Version eines Kapitels aus Friedhelm Rathjens Buch „Nennt mich Ishmael. Sieben Aufsätze und Miszellen zu Leben und Werk von Herman Melville“. Wir danken dem Autor für die Bereitstellung.

Titelbild

Friedhelm Rathjen: Nennt mich Ishmael. Sieben Aufsätze und Miszellen zu Leben und Werk von Herman Melville.
Edition ReJOYCE, Südwesthörn 2019.
124 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783947261109

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