Ein schwäbischer Bauernhof und die Suche nach der verlorenen Zeit

Volker Demuth schreibt über den Großvaterbauernhof und seine eigene Geschichte

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tatsächlich begann ich im Bauernhaus der Großeltern ein Gespür für einen Ort zu entwickeln, an dem vieles verschwunden und unsichtbar geworden war, das dabei jedoch nicht aufgehört hatte, Teil und Wirkkraft der Gegenwart zu sein, selbst wenn ich mich nicht in der Lage sah, mir irgendetwas davon erklären zu können.“ Kindheitserinnerungen an einen schwäbischen Bauernhof, in der Nähe von Ulm, den der Urgroßvater nicht geerbt, sondern 1890 gekauft hat und damit vom Tagelöhner zum Grundbesitzer wurde. Volker Demuth erzählt von seinen Kinderspielen und Entdeckungsreise im Haus und auf der Bühne (schwäbisch für Dachboden) und geht dabei bis zurück zum Bauernkrieg im 16. Jahrhundert, denn offensichtlich hat dieser Bauernhof in jener Zeit eine große Rolle gespielt: Auf diesem Hof haben sich die aufständischen Bauern getroffen und zogen dann durch das Land, bis sie blutig besiegt wurden. Ihre berühmten „Zwölf Artikel“ nahmen hier ihre Gestalt an.

Immer wieder kommt Demuth auf diese Zeit zurück, die sich für ihn derart in die Landschaft und den Hof eingedrückt hat, dass sie noch heute spürbar sei: „Ich muss noch ein wenig bei der Vorgeschichte bleiben, nicht aus bloß historischem Interesse, sondern weil ich mir nicht sicher bin, was daran vergangen ist oder was tatsächlich gerade dabei ist, zu vergehen, womöglich ein weiteres Mal zu vergehen.“ Martin Luther wirft er vor, dass er mit seinen Schriften

die Hoffnung (zerstörte), am Schreibtisch und auf dem Acker wären Gleichgesinnte am humanen Werk. Die Landschaft – im sechzehnten Jahrhundert zieht das Wort ,landtschaft’ die Gegend und die darin Lebenden ineins zusammen – hat das nie ganz zu vergessen vermocht. Und ich kann sagen, noch heute ist ein Schriftsteller und Intellektueller hier einer, der Misstrauen hervorruft, und die Gegend in diesem Sinne trostlos.

Mit viel Sympathie erzählt Demuth von seinem Großvater, der aus dem 1. Weltkrieg verletzt zurückkam und das Bewusstsein „des industriell-technischen Massenmenschen und seiner politisch organisierten Vernichtung“ mitbrachte – bei Demuth heißt es „vorsätzlich betriebene Zerfleischung von Männerkörpern“. Ein Onkel von ihm ist allerdings Faschist geworden: „Paul begann sich zu begeistern fürs Völkische, die Zucht und den uniformierten Drill. Es lag in der Luft, man atmete das ein wie im Winter den Holzrauch.“ Und vom Bahnhof Laupheim wurden natürlich auch die Juden in die Lager Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Demuth selbst gehört aber einer Generation hat, die „kein Gramm Bereitschaft in unserem Körperfleisch aufbewahrten, uns in eine deutsche Herkunft hineinstecken zu lassen, aus deren Winkeln uns die Fratzen des Schweigens und aus deren Rissen uns die Dämonen zahlloser Verbrechen ansprangen.“

Der zweite Teil seiner langen Erzählung, in der Demuth vom „Gedächtnisstaub“ erzählt, heißt „Randlage Kleinstadt“: Da ist der Vater in die Kleinstadt gezogen, wo er als Arbeiter lebt, wo er seinen Sohn oft und hart schlägt: „Doch war ich, der wieder und wieder Geschlagene, in meinen Augen nicht bloß ein Bestrafter. Ich war einer, der offenbar Strafe auf sich zog, einer, der zum Geschlagenwerden da war und der daher irgendeine tiefe, untilgbare Schuld mit sich herumtragen musste.“ Auch dagegen schreibt er an: „Über diesen Jungen schreiben heißt aber nicht nur, den Geschlagenen in meinem Körper anzuschauen. Es ist auch der Versuch, sich nicht geschlagen zu geben.“

Offen spricht er von den demütigenden Erfahrungen und von seiner Flucht in die Literatur, wie es vielen geht, die an der Realität sonst verzweifeln müssen. Zunächst das Lesen: „Ich umgab mich fortan mit Büchern. Und nicht nur das, es konnte geradezu den Anschein erwecken, dass ich mich mit ihnen umstellte, dass ich aus ihnen Wände baute, eine Art Gehäuse aus Papier und Buchstaben.“ Am Anfang stehen Georg Büchner und Jakob Michael Reinhold Lenz (über den er 1993 promovieren wird). Sie formen „das erste Menschenbild, das ich für mich besitzen sollte.“ Dann das Schreiben, als „Überlebenstrick“: „Wie also bin ich zum Schreiben gekommen? Möglicherweise, weil ich nie vergessen konnte, wo ich herkam.“

Im dritten Teil der opulenten und immer wieder abschweifenden Erinnerungen geht es um „Das Haus am Fluss“, wie das Kapitel heißt, um die mäandernden Donau, das alte Bauernhaus, um das Leben am Fluss, die Veränderungen, die sich in der Natur wie in der Politik ergeben: „Plötzlich erschienen mir Musik, Gedichtzeilen, das Teetrinken oder ein Film und auch Berührungen zwischen Menschen, ihre Zuwendungen und Abwendungen, als Mäander.“ Jetzt wird Demuths Sprache, die vorher oft spröde, trocken und sogar manchmal umständlich war, poetisch und lyrisch, sie passt sich der Landschaft an, die ihm irgendwann „tatsächlich wie eine Art Text“ vorkommt, und er schreibt Sätze wie: „Mit seinen Algorithmen fischt der ausgezeichnete Sommer die Spuren der Schwalben aus der Luft.“

Nicht immer einfach zu lesen ist sein langer und über Strecken auch langatmiger Bericht mit seinen Exkursen zum Bauernkrieg und seinen theoretischen Höhenflügen, zumal er gegen Ende viele Themen streift, die er nicht ausführt und die dem Leser manchmal etwas zu viel werden. Spannend dagegen ist sein Nachforschen über seine Vergangenheit, die Vorfahren, und was von ihnen ihn so geprägt haben mag, dass er es, auf seine Art, immer noch nicht richtig fassen kann.

Heute weiß ich, wir leben in Strömungen – der Zeit, des Lebens, der Texte, der Dinge. Im Innersten glaube ich, trotz meiner bleibenden Skepsis, dass die Natur ein sehr viel tieferes Verständnis von sich besitzt, als Menschen zu denken jemals in der Lage sein werden. Allerdings zeigt sich die heutige Menschheit willens, dieses Verständnis für immer zu erschüttern. Das verwandelt den Garten, es macht ihn zu einem Ort, an dem die mythische Vertreibung von Menschen, die das Paradies erlebten, nicht vergessen werden kann. Und manchmal, in eigenartigen Momenten, berührt mich im Garten die Ahnung jener anderen, überzeitlichen Zeit von Wachsen und Vergehen, taumelnden Sommern und totenstarren Wintern, von sonderbaren Tagen, tief in Nebel versunken oder von Insekten und Schwerelosigkeit surrend. Eine Zeit, die etwas aufhebt, wie ein überaltertes Gesetz, wie etwas Vergessenes. Ohne viel Aufhebens. Ohne etwas zur Schau zu stellen.

Titelbild

Volker Demuth: Niederungen und Erhebungen.
Besichtigung einer Lebenslandschaft.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577269

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