Kurze Geschichten aus einem weiten Land

Jing Bartz stellt das literarische China vor – und wie es sich in zehn Jahren wandelt

Von Astrid LipinskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Lipinsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jing Bartz, in China geboren – sie hat auch lange dort gearbeitet – und in Deutschland studiert und verheiratet, hat es mit der Literatur: Von 2003 bis 2010 leitete sie das Büro der Frankfurter Buchmesse in Beijing. Zwischen 2010 und 2013 begründete sie dort das joint venture von Hachette und der chinesischen Verlags- und Mediengruppe Phoenix. Aber sie hat die Literatur nicht nur vermarktet, sondern sich auch um die Buchherausgabe von chinesischen Kurzgeschichten verdient gemacht verbunden mit der Vorstellung der wichtigsten Übersetzer aus dem Chinesischen. Damit bringt sie China dem deutschsprachigen Leser sicher in authentischerer Form näher als über die indirekte Übersetzung aus einer dem Deutschen näheren Sprache (zum Beispiel häufig aus dem amerikanischen Englisch). Jing Bartz suchte sich als chinesische Partner und Mitherausgeber für die Auswahl der zu übersetzenden Kurzgeschichten den jeweiligen Chefredakteur der chinesischen Zeitschrift Volksliteratur – natürlich Männer, denn Frauen schaffen es in China nach wie vor kaum auf Leitungsposten wie diese.

Zwischen den Erzählungssammlungen Unterwegs (2009) und Stadtleben (2018) liegen fast zehn Jahre, und keine der übersetzten Autorinnen tritt in beiden Bänden auf. Es gibt also keinen einzelnen Namen, der repräsentativ für China wäre – eine potentielle Nobelpreis-Anwärterin? Von den meisten Autorinnen ist bisher nichts in eine westliche Sprache übersetzt. Ins Deutsche übersetzt sind sie bisher überhaupt nicht (Unterwegs) oder wenig (ausnahmsweise Sheng Keyi in 8 Frauen 8 Geschichten, von der es Die Qualle (2014) gibt).

Spiegeln die ausgewählten Geschichten die vergangene Dekade oder bestimmte zeitgebundene Themen? Jing Bartz setzt den Unterschied schon bei der Auswahl – fünf Autoren und fünf Autorinnen in Unterwegs und ausschließlich weibliche und städtische Autorinnen zehn Jahre später. Wir stellen fest: Die Bände Unterwegs. Literatur-Gegenwart China (2009) und Stadtleben. 8 Frauen 8 Geschichten knapp zehn jahre später stellen post-maoistische AutorInnen vor, in deren Erzählungen die politischen Wirren bis zur Kulturrevolution (1966–76) und auch erste wirtschaftliche Öffnungsversuche unter Deng Xiaoping (ab 1979) – also die hauptsächlichen Inhalte westlicher sinologischer Forschung – keine Rolle (mehr) spielen. Die Autoren und Autorinnen sind jung – meist in den 1970ern und 1980ern geboren, oder sogar schon im neuen Jahrtausend. Wenn wir also die Erzählbände lesen: Was erfahren wir ganz aktuell über China? Und unterscheidet sich das von Männern beschriebene China von dem der Frauen? Gibt es einen Land-Stadt-Unterschied im sich aktuell rasant urbanisierenden China? Ist das städtische China überhaupt noch chinesisch, und was ist das Chinesische daran?

Mann hat das Wort

Die fünf Autoren von Unterwegs schreiben als Männer aus der Perspektive von Männern. Für die Autorinnen scheint die weibliche Sicht dagegen nicht unabdingbar zu sein: Pan Xiangli schreibt in Unterwegs ihre „Klare Gemüsesuppe“ aus der Sicht des treulosen, zu seiner viel jüngeren Freundin und Ex-Studentin gezogenen mittelalten Ehemannes. Autorin Fan Xiaoqing schreibt über Das Glück des Müllsammlers – einen städtischen Büchersammler und den Migranten vom Land, der in der Stadt als Müllsammler eins seiner ausgesonderten Bücher findet und behält. In Tod an der Kreuzung lässt Verfasserin Lu Min einen männlichen Radiomoderator von seiner Taxifahrerin erzählen (die am Ende beim Fahren tödlich verunglückt). Auch die Autorin Ye Mi erzählt von Männern. Jin Renshun ist die einzige Autorin, die ihre Geschichte aus Frauensicht schreibt, die aber dafür (wenigstens) den Mann im Titel trägt: Der koreanische Liebhaber. Wir können also feststellen, dass von fünf Autorinnen in Unterwegs vier aus der männlichen Perspektive erzählen.

Die städtische Umgebung von Stadtleben ändert nichts daran, dass Frauen als Männer schreiben: In Ai (Liebe) schildert Li Jingrui seinen Ehebruch mit einer jüngeren Frau aus der Sicht des Ehebrechers. Schuldgefühle hat er keine, und das einzige Mal aktiv wird er, als er vermutet, dass seine Frau ebenfalls einen außerehelichen Geliebten hat. Er findet keine Beweise, auch nicht dafür, dass seine Frau von seinem Ehebruch weiß, aber klar ist: Was er sich selbst genehmigt, kann er seiner Frau auf keinen Fall erlauben, und die Geschichte schildert ausschließlich seine Perspektive. Kleines Leben schildert die uneheliche Schwangerschaft der Schwester – und das damit verbundene Familienchaos – aus Sicht des Bruders. Ein Viertel der Autorinnen der 8 Geschichten wählt also einen männlichen Erzähler. Damit hat sich der Anteil weiblicher Erzählstimmen in Texten von Frauen zwar erhöht, aber es ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, dass Frauen als Frauen schreiben, und bei den Autorinnen besteht offensichtlich keine Selbstverpflichtung, als Autorin ausschließlich Frauen das Wort zu geben.

Unterwegs: Die weibliche Hälfte

Vier der fünf Autorinnen sind studiert, aber nur eine war in Japan und besitzt damit Auslandserfahrung. Von den zehn AutorInnen liegen bisher keine ins Deutsche übersetzte Werke vor, in China haben sie aber schon nationale und lokale Preise erhalten. Das zeigt, dass sie vorwiegend für das einheimische Publikum schreiben und nicht für eine internationale Karriere. Dennoch sind die Geschichten global: Beispielsweise wird die modernste Wohnungsausstattung mit skandinavischen Möbeln diskutiert, oder dass Kleidung mit ausländischem Namensschild als „Luxus“ empfunden wird (Klare Gemüsesuppe).

Frauen befinden sich den Männern gegenüber in sehr traditionellen Hausfrauenrollen; die einzige vorwiegend über ihren beruflichen Erfolg (als Taxifahrerin) definierte Frau ist tot (Tod an der Kreuzung), ihr Tagebuch wird zum Streitobjekt verschiedener kommerzieller Interessen, bis der männliche Erzähler, der Moderator der Mitternachts-Radiosendung Tian Wen, es ungelesen verbrennt. Zwar entzieht er damit die Aufzeichnungen der Vermarktung, aber schützt vor allem sich selbst vor einer potentiellen Bestätigung der Verliebtheit der Taxifahrerin in ihn in ihrem Tagebuch. Zwar konstatiert er das gute Aussehen der Taxifahrerin, stellt aber sogleich Distanz her, indem er sie einem Film folgend „Daisy“ (be-)nennt. Noch einmal setzt er ihre Be- beziehungsweise Entwertung fort, als er feststellt, dass ihre Tochter die Schönheit der Mutter nicht geerbt hat. Die Tochter hatte geplant, das Tagebuch und dessen Verlesung in seiner Sendung zu nutzen, um die eigene Popularität in der Schule zu steigern. Neben der Tochter hat die Erzählung noch eine Reihe anderer weiblicher Nebenfiguren, die allesamt negativ gezeichnet werden. Mit der Verbrennung des Tagebuches dokumentiert das sprechende männliche Ich sein Desinteresse an der (jeder) weiblichen Person, das die negativen Frauenfiguren rechtfertigen (der einzige positive Charakter stirbt).

8 Frauen 8 Geschichten

Die Zahl Acht (ba) ist im Chinesischen eine glückbringende Zahl, weil „acht“ so ähnlich klingt wie „vorankommen“ (fa) im Sinne von Glück haben oder reich werden. Deshalb begannen die Olympischen Spiele in Beijing, China, am 8.8.2008, abends um 8.08 Uhr Ortszeit. Wenn also acht Autorinnen acht Geschichten erzählen, dann soll die Wahl der Zahl sicherlich genauso glückbringend und Ausdruck der Vollständigkeit sein wie Autoschilder oder Hausnummern in China mit den richtigen Zahlen, für die jeweils viel Geld bezahlt wird.

Bevor wir aber zum sehr schön und aufwendig – inklusive chinesische Zeichen – gemachten, 174 Seiten langen Hardcover greifen, stellen sich doch zwei Fragen: Erstens, wie weit können Geschichten von Städten China beschreiben? Und zweitens: Was kann ausschließlich von Frauen über Frauen in China ausgesagt werden, und ist das Erzählte repräsentativ? Beide Fragen können positiv beantwortet werden: China ist inzwischen zu über seiner Hälfte urbanisiert, aber in vielen Geschichten spielt das städtische Umfeld weniger eine Rolle als das Innere einer Wohnung, die im Dorf genauso aussehen könnte. Bei den Frauen, um die es geht, wird ihre Herkunft (Stadt oder Dorf) gar nicht benannt oder sie repräsentieren die wachsende Gruppe der in der Stadt arbeitenden Migrantinnen vom Land. Frauen kommen nicht isoliert als solche vor, sondern in ihren Paar-, Liebes- oder Sexualbeziehungen. Beschrieben werden der Wandel hin zu binationalen Ehen (Chinesin und Japaner) oder der Umgang mit Schwangerschaft, wobei hier die Ein- oder Zweikindpolitik der Regierung keine Rolle spielt gegenüber der Einstellung der beteiligten Familien zu einer un- oder außerehelichen Schwangerschaft.

Die übersetzten Autorinnen wurden zwischen 1957 und 1989 geboren und vertreten deshalb das jüngere oder sogar sehr junge China, das wir als absolut unpolitisch kennenlernen, möglicherweise gleichzusetzen mit dem von den chinesischen zensierten Medien vermittelten Bild, in dem entscheidende Ereignisse aus westlicher Sicht wie die gewaltsame Niederschlagung der studentischen Proteste auf dem Tian’anmen-Platz am und um 4 Juni 1989 nicht vorkommen.

Wenn wir die fünf männlichen Autoren von Unterwegs mit den fünf Frauen vergleichen, stellen wir fest, dass allein die Männer über „große“ Themen schreiben, wie über eine  Wanderarbeiter-Baustelle, die wirtschaftliche Entwicklung einer Fabrik im Reformchina nach 1978, das Meer oder auch eine Minderheit (Tibeter). Die Geschichten der Frauen spielen sich dagegen in (städtischen) Wohnungen in unbestimmten Großstädten ab – oder auch, im Unterschied zu 8 Frauen 8 Geschichten im Dorf, aber immer privat und meist innerhalb einer Familie. Die Herkunft der Autorinnen prägt vermutlich auch ihre Geschichten – und kennzeichnet die Möglichkeit für Frauen in China gedruckt zu werden, nämlich als geborene oder jedenfalls dauerhaft migrierte Städterin. Während alle männliche Autoren von Unterwegs aus der nichtstädtischen Provinz, teilweise sogar aus Minderheiten-Dörfern, stammen, stammt die Mehrzahl der Frauen, soweit bekannt, aus Städten. Das lässt sich durchaus so interpretieren, dass für Frauen das Schreiben im Dorf schwerer möglich ist als für Männer, und für schreibende Frauen das städtische Umfeld die Voraussetzung ist.

In 8 Frauen 8 Geschichten gibt es neben dem städtischen Bias einen Beijinger Schwerpunkt. Soweit bekannt schreiben drei von acht Frauen in Beijing, und zwei sind auch dort geboren. Hier – bei den Kurzbiografien – ist kritisch anzumerken, dass sie zwar eine chinesische und eine deutsche Version plus Foto haben, aber die enthaltenen Informationen in beiden Bänden nicht vergleichbar sind. Eine Anbindung der Kurz-Lebensläufe an das jeweilige Werk findet nicht statt, sodass eine aufwendige Suche erforderlich ist, um eine Geschichte mit der Autorin zu verbinden. Es wäre praktischer gewesen und sicher nicht wesentlich aufwendiger, die biografischen Angaben direkt an die Erzählung zu koppeln. Dann wäre vielleicht auch aufgefallen, wie sehr die eigene Lebenserfahrung die Geschichte und den erzählten Inhalt prägt (oder nicht).

Aus den acht Geschichten lässt sich kein vollständiges Bild von China, von chinesischen Frauen oder der städtischen Gesellschaft zeichnen. Aber was deutlich wird, ist die Vielzahl, die Modernität (wie bei uns) und die Verschiedenartigkeit der – auch psychischen (Der Hund in Florenz; Das Unvermögen Gefühle zu zeigen), und längst nicht mehr politischen – Probleme. Gemeinsam ist allen Themen der Bezug auf  die Männer: Entweder versuchen die weiblichen Figuren (vergeblich) durch eine besonders weibliche Tätigkeit (das Kochen) einen zu bekommen (Die Küche), sie betrügen (Ai; Mahlzeit zu Dritt) oder verzichten auf das männliche Gegenüber (Kleines Leben). Die Frau kann aber auch die Erfolgreichere des Paares sein, und diejenige, die wirklich in der Stadt angekommen ist (Die Nacht im Frühlingslüftchen). Oder sie sucht die Zukunft im Ausland und beendet als Hausfrau und werdende Mutter die künstlerische Karriere (Der Regenmann). Emanzipiert? Nein, nicht wirklich. Typisch chinesisch ist vielleicht die Zusammenschau von unterschiedlichen Optionen, die die chinesische Städterin heute hat, und die sich von der globalen Großstädterin kaum unterscheiden.

Titelbild

Jing Bartz / Shi Zhanjun (Hg.): stadtleben. 8 Frauen 8 geschichten.
Übersetzt aus dem Chinesichen von Karin Betz, Nora Frisch, Michael Kahn-Ackermann und Ulrich Kautz.
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2018.
174 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783943314533

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jingze Li / Jing Bartz: Unterwegs. Literatur-Gegenwart China.
DIX Verlag & PR, Düren 2009.
375 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783941651005

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