Wenn Liebe einseitig bleibt

Davon erzählt Charles Ferdinand Ramuz einzigartig einfach und großartig bildlich in „Aline“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Leben gibt es nur zwei Dinge, über die es sich zu sprechen lohnt: Liebe und Tod. Nur Gemeinplätze sind gute Themen. ‚Ausgefallene‘ Themen sind uninteressant. Es gibt nichts Banales […], das nicht auf eklatante Weise neu sein könnte“ – so schreibt Charles Ferdinand Ramuz (1878–1943) im April 1904 an seinen Freund Alexandre Cingria. Ramuz, der bis heute zu den bekanntesten Schriftstellern des Waadtlands im Besonderen und der französischsprachigen Schweiz im Allgemeinen zählt, arbeitete im Jahre 1904 an seinem kurzen Roman Aline. Diesen sieht er als „kleine“ und „ungekünstelte“ Geschichte, die er gar nicht wage, einen Roman zu nennen. Eines seiner Abfassungsprinzipien sei ganz bewusst Schlichtheit gewesen. Auf „sämtliche Kniffe“, die einen Roman ausmachen, habe er verzichtet.

Wenn man unterstellt, dass Ramuz unter „sämtlichen Kniffen“ eine Handlung subsumieren könnte, die sich durch einen hohen Komplexitätsgrad auszeichnet, dann ist ihm vollumfänglich zuzustimmen. Mit Aline verfasst er eher eine Novelle, die sich um die „Gemeinplätze“ Liebe und Tod rankt. Aline ist 17 Jahre alt. Sie geht nicht mehr zur Schule, sondern hilft ihrer verwitweten Mutter bei der Hausarbeit, dem Versorgen der Ziege, dem Bestellen eines Stück Lands, von dessen Ertrag sie leben, und vor allem bei der Pflege des üppigen Gartens. Als Aline eines Sommertages zur Mittagszeit unterwegs ist, trifft sie Julien. Sie verliebt sich sofort in ihn und auch er ist ihr zugetan. Als Alines Mutter von den Treffen der beiden erfährt, verbietet sie ihrer Tochter, Julien weiterhin zu sehen. Aline vermisst ihn schmerzlich, schreibt ihm Briefe und vereinbart heimliche Rendezvous mit ihm. Schnell zeigt sich, dass er für sie die große Liebe ist, er jedoch Aline als eine unter vielen Frauen ansieht, die er, der Sohn des Bürgermeisters, haben könnte. Aus Angst, dass ihre Intimitäten entdeckt werden, bleibt Julien weiteren Zusammenkünften fern. Dann bemerkt Aline, dass sie schwanger ist. Sie erzählt Julien davon, doch er schickt sie fort. Sogar die Liebe der Mutter „kehrt sich um“ – gegenüber ihrer einzigen Tochter zeigt sie fortan nur Strenge und Härte. An einem heißen Apriltag kommt das Kind, ein kleiner Junge, auf die Welt. Nach der sehr schweren Geburt ist Aline zwei Wochen krank, das Gerede der Leute im Dorf eskaliert. Julien indessen verlobt sich mit einer reichen jungen Frau aus gutem Hause, die seine Eltern für ihn ausgesucht haben. Aline, deren Sohn nicht gedeiht, sondern immer schwächer wird und schließlich grünliche Galle erbricht, empfindet unbändigen Zorn und Rachegelüste. Sie erstickt das Kind, bevor sie sich selbst an einem Apfelbaum erhängt. Am Ende der Geschichte steht Juliens Hochzeit.

Von Anfang an zeichnet sich die Tragik der Handlung ab: nahezu automatisch, mit atemberaubender Geschwindigkeit, bricht das Schicksal über Aline und ihre Mutter Henriette herein. Die 17 kurzen Kapitel, dem Alter Alines entsprechend, folgen insofern nicht ganz dem Aufbau einer Tragödie, als diese mit Alines Suizid enden müsste. Eine Exposition ist jedoch genauso gut auszumachen wie eine Peripetie, die genau mittig angesiedelt ist. Sie geht einher mit der Erkenntnis der Schwangerschaft, in diesem Fall nicht mit einer guten, sondern einer schlechten Hoffnung. Die enge Kohäsion der einzelnen Kapitel und Episoden, die Einheit der Handlung, wird von der Einheit des Ortes und ebenso der Zeit ergänzt. Alines Schicksal vollzieht sich ausnahmslos in ihrem Heimatdorf in den Lausanner Alpen. Die unheilvolle Entwicklung beginnt im Sommer und endet im Sommer darauf. Juliens Hochzeit im Herbst bildet den Epilog.

Kommt man auf Ramuzʼ Behauptung zurück, dass seine Geschichte schlicht sei und ohne „Kniffe“ auskomme, dann trifft dies auch auf die tragödiengleiche Makrostruktur zu. Wenn man hingegen Themen, Motive, die sprachliche Gestaltung und den sich damit eröffnenden Möglichkeitsraum der Deutungen in den Blick nimmt, dann gerät die Etikettierung „schlicht“ ins Wanken. Mit der Präsentation eines hierarchisch strukturierten dörflichen Sozialraums führt Ramuz den französischen Naturalismus fort. Die für Zolas Werk prägende Trias „race, milieu, moment“ konkretisiert sich in abgeschwächter Form in den Determinanten „milieu“, dem Dorf, und „moment“, dem historischen Moment, besonders jenem, in dem Aline Julien begegnet. Als Tochter einer finanzschwachen Witwe hat sie keine Chance, den wohlhabenden jungen Mann zu heiraten, denn die Fronten sind nicht zu überbrücken.

Alines Liebe zu Julien ist eine im besten und im doppelten Sinne romantische – sie glaubt an die Zukunft dieser Verbindung, ihre Affektwelt ist von ihrem Geliebten besetzt, es geht ihr um den Menschen Julien, wohingegen dieser Aline als bloßes Objekt der Begierde degradiert. Damit greift Ramuz Stereotype der Romantik auf, insbesondere das Motiv der „femme victime“, die sich nach dem einen Mann verzehrt, wobei dieser Eine nur so lange darauf eingeht, wie er gefahrlos seine Triebe befriedigen kann. Wenn er droht, so wie hier, zum Mittelpunkt des Dorfgetratsches beziehungsweise der öffentlichen Meinung zu werden, macht er einen Rückzieher. Für Aline ist Julien Alter Ego, ihr liebstes Subjekt, sie bleibt für ihn auf dem Objektstatus. Ramuz erzählt die Geschichte vom Elend der materiell Minderbemittelten und emotional Involvierten, so wie sie tausendfach erzählt wurde und wird. Gerade am Genfer See befindet sich Ramuz damit in bester Gesellschaft, denn mit der Darstellung der intensiven Liebe von Aline erinnert seine Novelle unter anderem an Corinne von Madame de Staël und an Adolphe von Benjamin Constant.

Für Ramuz heiße ungekünsteltes Schreiben, sich von den „Schwerfälligkeiten des Naturalismus“ und den „Nörgeleien der psychologistischen Erzählungen“ (Daniel Maggetti) abzuwenden. Sein Roman solle demgegenüber mit Bildern angereichert werden. Neben der anrührenden und aufwühlenden Geschichte, der naturalistische Elemente genauso wenig fremd sind wie romantische, in der sich eine engagierte Schreibweise des Aufdeckens von Missständen mit der Würdigung echter, vom Herzen geleiteter Liebe paart, dominiert in Aline eine Bildlichkeit, die weder opake und hermetische Züge trägt noch als licht und transparent zu bezeichnen wäre. Sie bedient sich vielerlei Vergleiche, die kaum konventionell sind und vor Deutungspotenzial bersten. Die sehr ernsthafte Perspektive auf die Charaktere ist bar jedweder Ironie, doch voller Doppelbödigkeit. So sehen etwa „die Johannisbeersträucher im Garten […] böse aus, wie kauernde Tiere“ oder „die Liebe geht geradeaus wie die Steine, die von den Bergen rollen“, „das abgeerntete Feld am Hügelhang“ gleicht „einem gelben Leinentuch“, der Mond „ist wie ein Totenkopf“, der Himmel „schüttelt“ seine Wolken „wie ein Vogel seine Federn“, die „Nachtluft“ umgibt Aline „wie ein feuchtes Tuch“ und im Herbst ist das Gras „kurz und gelb wie das Fell des Viehs“. Als die Schwangerschaft voranschreitet, sind Alines Wangen „wie schmutziges Papier“ und an Silvester tut sich das Jahr „wie eine lange leere Straße“ vor ihr auf. Nach der Geburt ihres Kindes ist sie „weiß wie der Tod“ und „die Zungen“ gehen „geschwätzig hin und her wie die Kuhglocken, wenn der Hüterbub mit der Geißel knallt“. Henriette verbittert nach Alines Tod, sie erscheint „wie der Baumstamm oder die Grabsteine“, sie existiert, ohne zu leben, ihr Garten verwildert. Die proliferierenden Vergleiche speisen sich nicht selten aus einer Personifikation der Dinge sowie der Natur und aus der dazu parallel verlaufenden und nichtsdestoweniger damit kontrastierenden Vergegenständlichung der Personen. Letztendlich treffen sich Objektwelt, Natur und Menschen in einem alles durchdringenden Zwischenbereich und Einerlei der Trauer. Zu verantworten hat dies Julien Damon, gleichermaßen Individuum und Repräsentant einer privilegierten sozialen Schicht. Nomen est omen – Damon ist mit Dämon (Démon) gleichzusetzen. Dem leistet bereits das erste Auftreten Juliens Vorschub, als er in der großen Mittagshitze, in der Zeit, in der die sogenannten Mittagsdämonen unterwegs sein sollen, ausgestattet mit einer Sense, die „in der Sonne wie eine Flamme“ blinkt, auf Aline trifft. Sehr schnell schenkt er ihr Ohrringe mit Korallen, die sie mangels Ohrlöcher nicht tragen kann. Der Schmuck ist vordergründig ein Symbol dafür, dass die Liebe nicht passt, daneben deutet er auf die vertane Chance, den bösen Blick abzuwenden, gegen den, laut eines Volksglaubens, Korallenäste eingesetzt werden können. Julien zieht Aline in die Sünde hinein, sie erhängt sich nicht grundlos an einem Apfelbaum, dem Baum, der die Frucht des Sündenfalls und der Erkenntnis trägt. Einen in diese Bildlichkeit sehr passenden Schlussakkord setzt die Fahrt Juliens durch das Dorf am Tag seiner Hochzeit: die Kutsche mit dem Hochzeitspaar fährt so schnell vorüber, dass Henriette, die vor ihrem Haus sitzt, es kaum bemerkt – „man sah nur noch, wie ein graues Staubwölkchen sich langsam auf das niedrige Gras der Böschungen niederließ“. Am Ende wirbelt der vorbeizischende Teufel nur ein bisschen Staub auf.

Aline wurde nach der Erstausgabe 1905 im Jahre 1927 neu aufgelegt und gilt seither als Ramuzʼ Meisterwerk. Der hervorragenden Übersetzung von Herbert und Yvonne Meier aus dem Jahr 1983 folgt in der vorliegenden Ausgabe ein sehr informatives und kenntnisreiches Nachwort des Lausanner Schriftstellers und Ramuz-Spezialisten Daniel Maggetti. So ist ein gelungenes Gesamtpaket entstanden, das nicht nur dazu einlädt, Aline zu lesen, sondern sich intensiver mit Ramuzʼ Leben und Werk zu beschäftigen, zum Beispiel anhand der von Maggetti angebotenen Balade à Lausanne sur les pas de Ramuz.

Titelbild

C.F. Ramuz: Aline. Roman.
Mit einem Nachwort von Daniel Maggetti.
Übersetzt aus dem Französischen von Yvonne und Herbert Meier.
Limmat Verlag, Zürich 2019.
113 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783857918711

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