Literaten, wie sie leben

Volker Hage setzt mit seinen „Schriftstellerporträts“ Maßstäbe für gelungene Charakterstudien

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Volker Hages Metier sind Bücher und ihre Verfasser. Als Literaturredakteur hat er viele Autoren persönlich getroffen oder mit ihnen per Telefon, Brief und Fax kommuniziert, und er hat seine Gesprächspartner wie auch andere Schriftsteller in kompakten Texten porträtiert. 21 solcher Porträts – das kürzeste sechs, das längste 27, durchschnittlich zehn Seiten lang – versammelt der vorliegende Band Schriftstellerporträts, die meisten als Wiederabdruck, allerdings erweitert und aktualisiert. Einige Beiträge sind extra für den Band geschrieben. Wer regelmäßig in die Literaturteile von Zeit und Spiegel schaut und wer Hages Bücher mit biografischen Erkundungen kennt, dem wird die eine oder andere Darstellung bekannt vorkommen. Es lohnt sich dennoch, die Begegnungen auch ein zweites Mal zu lesen. Natürlich geht es darum, wie die Befragten leben und ticken, welche autobiografischen Hintergründe also für das literarische Schaffen mitzudenken sind. Es stehen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aber bekanntlich nicht nur wegen ihrer Bücher, sondern auch wegen ihrer Meinungen und Marotten im Rampenlicht. Kennt man die genauer, versteht man den Literaturbetrieb besser. Zudem wird ihnen zugetraut, das Leben intensiver als Normalsterbliche zu kennen, weshalb sie auch über das Große und Ganze außerhalb der Literatur orakeln dürfen und sollen. Schließlich kann man sich bei Hage abgucken, wie spannende Menschenbilder mit poetischem Anspruch gezeichnet werden.

Die Reihenfolge der Porträtierten richtet sich nach den Geburtsdaten. Es beginnt mit den Schwergewichten der klassischen – Moderne Marcel Proust, Thomas Mann und Franz Kafka, denen sich Samuel Beckett zugesellt. Während Hage (Jahrgang 1949) letzteren noch selbst getroffen haben könnte, werden alle vier im Spiegel ihrer Lebensläufe profiliert, wobei Details aus zusätzlichen Quellen, Tagebucheinträge, Fremdauskünfte von Verwandten und Zeitgenossen sowie Zitate aus den literarischen Werken das Ganze garnieren. Jeder Text steht unter einem treffenden Titel, die Porträts sind Erzählung, Bericht und Beschreibung in einem, nie matt oder betulich, immer findet Hage einen Zugang, der einen Wesenskern der Befragten erfasst und den Leser gut mitnimmt. Zu den weiteren Schriftstellern, von denen Albert Camus ebenfalls in die Gruppe der nicht persönlich Kennengelernten rutscht, gehören Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Gert Ledig, James Salter, Martin Walser, Günter Grass, Walter Kempowski, Imre Kertész, John Updike, Philip Roth, Dieter Forte, Peter Handke, Botho Strauß und Christoph Ransmayr. Und Autorinnen? Christa Wolf und Joyce Carol Oates haben ebenfalls Auftritte und kommen zu Wort.

An Gert Ledig und Christa Wolf sei verdeutlicht, wie sich die Profile der Porträtierten aus einer Zusammenschau von Privatem, Öffentlichkeitsbezügen und der Korrelation von Autor/in und literarischem Schreiben ergeben. Was Ledig anbetrifft (Porträttitel: Die Angst muss im Genick sitzen), machte Hage wahrscheinlich als erster Ende der 1990er Jahre im Feuilleton auf dessen ursprünglich bei Kritik und Publikum durchgefallenen Roman Vergeltung (1956) aufmerksam. Überzeugend interpretierte er den narrativen Aufbau und ästhetischen Anspruch des Buches: die erzählte Geschichte werde „in verschiedene Höhenlage zerlegt“ (Bomberflotte, Luftraum, Hausdächer, Straße, Keller), Autor und Buch erfüllten eine „schonungslose Chronistenpflicht“. Ihm ist es wesentlich zu verdanken, dass dem Buch als zentrales Werk der literarischen Bewältigung des Luftkriegs über Deutschland nach 1945 die späte Anerkennung zuteilwurde. Hinter diesem Schleier aus biografischen Details, historischem Kontext der für die Person vielleicht wichtigsten Schreibanstrengung und der verwickelten Rezeptionsgeschichte des Produkts dieser Unternehmung erlangt das Porträt Ledigs große Spannkraft.

Von Christa Wolf, die viele Male Bitten Hages um ein Gespräch ablehnte, kann nur vor dem Hintergrund der DDR als dem Land und dem Staat, in dem sie am längsten lebte, mit dem ihre literarische Karriere auf das engste verknüpft war und dem sie sich verbunden fühlte, ein Porträt gezeichnet werden. Hage tut das (Titel: Störfälle und Sommerstücke), er möchte, dass sich die Grande Dame der ostdeutschen Literaturszene und Kulturpolitik nach der hitzigen Debatte um ihre kurzfristige Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdient der DDR erklären kann. Aber ein Interview will sich partout  nicht ergeben, weder 1993 noch 1995, auch nicht 1999. Schon in den 1980er Jahre hatte sich Hage vergeblich um einen Termin bemüht. 2003 ist es dann aber doch so weit, Wolf willigt ein. In die Rekonstruktion der langwierigen Korrespondenz und des erfolglosen Verhandelns webt Hage geschickt die tagespolitischen Turbulenzen, Publikationsereignisse, stimmungsschwankenden Absagen Wolfs, ihre Selbstzweifel sowie erhellende Kurzbeschreibungen ihrer Bücher und andere Verlautbarungen der Autorin, die dem Porträt lebendige Authentizität verleihen. Zugleich wird Christa Wolf damit ein Denkmal gesetzt.

Dieter Forte hat das Können des „Schriftstellerbefragers“ Hage vielleicht am besten formuliert. Er habe zu danken, so Forte, und zwar für „die behutsame Genauigkeit, mit der Sie einen Autor und sein Thema beschreiben. Für die Empfindsamkeit, mit der Sie Literatur der Öffentlichkeit vorstellen. Es ist in all Ihren Autorenporträts zu spüren. Ihre leiseren Töne sind für mich die genauesten Töne. Und nun gehöre ich dazu.“ In der Tat nähert sich Hage seinen Interviewpartnern immer takt- und respektvoll, man kann nicht anders als seinen Ton und sein Wesen als sanft zu bezeichnen. Die Anstrengung, den Gegenüber zum Antworten zu bewegen, gerät nie indiskret. Sie lässt sich selbst durch wiederholte Ablehnungen eines Interviews nicht beirren. Andere wie Martin Walser, den Marcel Reich-Ranicki einst als „Deutschlands gescheiteste Plaudertasche“ apostrophierte, oder der stets gesprächsbereite Günter Grass reden beinahe ungefragt und wie von selbst.

Hage macht nachvollziehbar, ab wann sich Autor und Autorin entschließen, ihm Rede und Antwort zu stehen. Grundsätzlich dürfte ihm seine Menschenfreundlichkeit, sicher auch seine Kennerschaft der Literatur das Zutrauen der Befragten gewonnen haben. Hage will niemanden erobern, er bedrängt nicht, er hat es weder auf Glamour noch auf schrille Anekdoten abgesehen, er ist nie gehässig. Weil er das einsame, oft mühsame Geschäft des Bücherschreibens aus eigener Erfahrung kennt (Hage ist selbst auch Romancier), ferner die Krisenzustände und natürlich die exaltierten Auswüchse der Literaturkritik, hat er auch Verständnis für die Freuden und Leiden der Autoren, selbst wenn die manchmal groteske Form annehmen. Genau das wird ihm gedankt. Mit seinem eigenen kritischen Urteil hält er sich deswegen übrigens nicht zurück. So ist die schreibende Porträtkunst Hages die Gratwanderung, Autoren auch in intimen Momenten zu zeigen, ihnen nicht zu nahe zu treten und deshalb Auskünfte zu erhalten, die aufschlussreich sind für die Bewertung kreativen Schaffens und anderes mehr.

Titelbild

Volker Hage: Schriftstellerporträts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
323 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335578

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