Von der „Moskauer Novelle“ bis „Stadt der Engel“

Zum Handbuch über Leben, Werk und Wirkung der gesamtdeutschen Autorin Christa Wolf

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2010, knapp ein Jahr vor ihrem Tod, endete der Eintrag über den 27. September mit einem kurzen Eingeständnis: „Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde.“ Mehr als 50 Jahre einer außergewöhnlichen Schriftstellerinnenexistenz lagen hinter Christa Wolf. Wie kaum eine andere Schriftstellerin oder ein anderer Schriftsteller hatte sie in der Nachkriegszeit Literaturdebatten angestoßen, stand sie als Autorin und Person in der Kritik – erst in der DDR, dann im wiedervereinten Deutschland. Mal wurde ihr Werk wie im deutsch-deutschen Literaturstreit als Gesinnungsästhetik abgewertet, mal wurde sie als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt. Die Bedeutung ihres Werkes wurde dabei selten bezweifelt. Mit dem Christa Wolf-Handbuch haben die Herausgeberinnen Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt nun ein Standardwerk vorgelegt, das Leben, Werk und Wirkung der gesamtdeutschen Autorin, die in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden wäre, darstellt und würdigt.

Die Germanistik-Professorinnen Ilse Nagelschmidt und Carola Hilmes haben namhafte Wolf-Spezialisten wie auch Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ins Autorenteam des Handbuchs geholt, um das Gesamtwerk Wolfs „vor dem Hintergrund ihres Lebens sowie im politischen, sozialen und kulturellen Kontext von den 1950er Jahren bis zum neuen Jahrhundert“ zu erschließen. Im Ergebnis wurde dabei ein umfassendes Nachschlagewerk für die Christa-Wolf-Forschung vorgelegt, das Werke und Kontexte vom Erstling Moskauer Novelle bis zum letzten großen Werk Stadt der Engel präzise aufarbeitet.

Die Moskauer Novelle hat Wolf selbst später eher peinlich berührt. So schrieb sie 1973 nach einer erneuten Lektüre: „Wie kann man mit fast dreißig Jahren, neun Jahre nach der Mitte dieses Jahrhunderts und alles andere als unberührt und ungerührt von dessen bewegten und bewegenden Ereignissen, etwas derart Traktathaftes schreiben?“ Keine Frage: Wolf war stets selbst ihre härteste Kritikerin, ihr Weg von der parteitreuen Literaturkritikerin der 1950er Jahre zur Autorin von Kassandra, der Geschichte vom Untergang Troias, die oft als Parabel auf die erstarrte DDR-Realität der 1980er Jahre gelesen wurde, war weit.

Verfolgen lässt sich dieser Weg auch besonders gut in ihrem außergewöhnlichsten und persönlichsten Werk: dem Tagebuchprojekt Ein Tag im Jahr, in dem Wolf von 1950 bis 2011 jedes Jahr den 27. September protokollierte – veröffentlicht in zwei Bänden; der zweite Band Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert über die Jahre 2001 bis 2011 wurde von ihrem Mann Gerd postum herausgegeben.

Nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit diesen Tagebüchern, den Essays, Interviews sowie auch den zahlreichen Briefwechseln Wolfs – unter anderem mit Anna Seghers, Brigitte Reimann, Günter Grass und Max Frisch – macht das Christa Wolf-Handbuch, das im Kapitel zur Rezeptionsgeschichte auch die Nachrufe und Gedenkreden aufarbeitet, zu einer Fundgrube für jeden interessierten Wolf-Leser. Unentbehrlich dürfte es mit den ausführlichen Literaturverzeichnissen zu den einzelnen thematischen Schwerpunkten sowie den Seitenblicken auch auf bislang eher wenig beachtete Aspekte wie zum Beispiel Bühnenadaptionen oder die Künstler- und Graphikbücher für die wissenschaftliche Auseinandersetzung sein.

Titelbild

Carola Hilmes / Ilse Nagelschmidt (Hg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
406 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783476025180

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