Preußische Kolonial-‚Romantik‘

Johann Gustav Gottlieb Büschings Briefe berichten von staatlichem Kunstraub vor 200 Jahren

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Kirchen befindliche Gemälde werden zu Dutzenden abgehängt und verpackt, Kupferstiche aus ihren Rahmen herausgeschnitten. Ehemals reich geschmückte Kirchen sind nun kahl. Schäden und Unfälle sind an der Tagesordnung. Tausende von Büchern aus Klosterbibliotheken werden eilig zusammengerafft, Bücherschränke werden zerstört. Von den Besitzern noch rasch verborgene Objekte werden notfalls mit Gewalt eingesammelt. Per Schiff wird die Beute von Helfershelfern in die Provinzhauptstadt verbracht, dort wird sie gesichtet, katalogisiert und neu archiviert. Die nun plötzlich neu gewonnenen Bestände werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in der neu gegründeten Universitätsbibliothek und in einer Gemäldegalerie. Die Rede ist nicht von Beutekunst des 20. Jahrhunderts, sondern von staatlichem Kunstraub zu Beginn des 19. Die Stadt, in der das Raubgut versammelt wird, ist Breslau.

Zu den mittelbaren Folgen der Französischen Revolution gehörte eine umfassende Säkularisierung geistlicher Territorien und katholischer Besitztümer auf dem Boden des Deutschen Reiches. Staaten wie Preußen und Bayern waren die Nutznießer dieser Entwicklung. Im Rahmen der Preußischen Reformen sah ein königliches Edikt vom Oktober 1810 die Einziehung geistlicher Güter vor, also eine Erweiterung der schon 1803 vorgesehenen Aufhebung geistlicher Territorien im Deutschen Reich. Das katholische Schlesien, das wenige Jahrzehnte zuvor in blutigen Kriegen Preußen zugefallen war, glänzte durch seinen Reichtum an Kunstschätzen in Klöstern und Kirchen. Vor allem die Klöster hatten es den nicht mehr ganz so neuen Herren angetan: Hier lagerten neben Gemälden oft auch Handschriften und wertvolle alte Bücher.

Eine im Geist der Zeit liegende (vielleicht ‚romantisch‘ zu nennende) Sensibilisierung für die Geschichtlichkeit geistlicher und weltlicher Kunstwerke ging aber, wie der Fall Büsching zeigt, mit einem kolonialen Habitus des Kunsträubertums einher.

Mit der Edition von 46, teils sehr ausführlichen Briefen von Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783-1829) liegt nun ein einmaliges Dokument vor, das aus der Sicht des von der preußischen Regierung nach Schlesien entsandten Säkularisierungskommissars die Vorgänge der Sichtung, Prüfung und Entfernung Tausender von Gegenständen aus klösterlichem und kirchlichem Besitz in den Jahren 1810 und 1811 weitgehend tagebuchhaft schildert. Gerichtet sind die Briefe an die in Berlin weilende Braut Karoline Büsching, über die wir kaum mehr erfahren als dass sie die Stiefnichte des Briefschreibers war, der sie im Juli 1812 ehelichte.

War Büsching einerseits ein hochgebildeter Mann, der im Gefolge der Romantiker eine Literaturgeschichte schrieb sowie ‚altdeutsche‘ Texte edierte, so zeigte er doch zugleich Ambitionen, dem preußischen Staat in dessen kulturpolitischen Bemühungen Vorschub zu leisten und dabei sich selbst eine Beamtenstelle zu sichern. Büsching gehört einer noch dilettierenden Philologie des enthusiastischen Sammelns, Katalogisierens und Auswertens von ‚Altertümern‘ zu; dies verbindet ihn mit gelehrten Freunden wie Friedrich Heinrich von der Hagen oder Bernhard Joseph Docen. Die Anreger dieser ersten Generation von ‚Germanisten‘, die ihren Weg teils schon an die Universität fanden, waren die Brüder Schlegel und Ludwig Tieck.

Eine Reise nach Schlesien hatte Büsching 1809 mit den Klöstern, vor allem mit deren Bibliotheken, bekannt gemacht, deren Zustand aus seiner Sicht häufig katastrophal war. Schlussfolgernd legte er in einer Denkschrift Staatskanzler Hardenberg nahe, kostbare Bücher und Kunstgegenstände zu ‚übernehmen‘ und in Breslau zu zentralisieren. Tatsächlich wurde er bald mit einem entsprechenden Auftrag betraut.

Büsching schildert akribisch seine Reisen von Kloster zu Kloster, wie er rekognoszierte und katalogisierte. Wenig Mitleid hatte er mit den Nonnen, die nun vor die Tür ihres ehemaligen Klosters gesetzt und mit einer minimalen Staatspension ausgestattet wurden. Das Aufbegehren und teils auch die schweren Erkrankungen jener ihm roh, ungebildet und dumpf erscheinenden Frauen vermerkt er als Kuriosa; für klösterliches Leben brachte Büsching keinerlei Verständnis auf.

Beeindruckt ist er von der gewaltigen Architektur und der Pracht des Klosters Leubus (heute Lubiąż, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Breslau an der Oder gelegen), dessen Zerstörung ihn über Wochen beschäftigt und das bis heute ein Denkmal der damaligen Barbarei ist. Er zählt auf, dass an einem Tag 54 Gemälde abgenommen worden seien, 31 Kisten mit Büchern werden verpackt. Ohne dafür autorisiert zu sein, fordert er auch ein Gemälde aus der nahen Dorfkirche und kommentiert dies selbstbewusst: „Ein neuer Kirchenraub.“

Büschings Ehrgeiz, seine aus heutiger Sicht unfassbare Rücksichtslosigkeit gegen klerikalen Besitz wie gegen den schlesischen Klerus überhaupt, wurde vom preußischen Staat – der sich in jenen Jahren als ‚Kulturstaat‘ zu verstehen begann – belohnt. Er wurde bereits 1812 zum Archivar und zum Aufseher über die Breslauer Gemäldesammlungen ernannt, zusätzlich war er von 1817 bis zu seinem frühen Tod 1829 Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte und Historische Hilfswissenschaften. In der Geschichte der Germanistik spielt er eine kleine Rolle, heute ist er längst vergessen.

Auf 400 Druckseiten präsentieren diese Briefe alles, was zum oft deprimierenden Alltag eines in die – so suggeriert Büsching – hinterste Provinz abgeordneten Beamten gehört, einschließlich einer etwas nervtötenden Schwärmerei für die Braut, die zugleich für zu seltenes Schreiben gescholten wird. Inbegriffen ist ein aufklärerisches Bildungsprogramm für die Empfängerin, wie wir es aus Briefen Kleists oder Wilhelm von Humboldts kennen.

Textgrundlage der Edition ist ein Typoskript aus den 1930er-Jahren, dessen Urheber nicht mit Sicherheit auszumachen ist. Die Handschriften sind verschollen. Das ist nicht die beste Voraussetzung für eine zuverlässige Ausgabe, doch machten die Herausgeber*innen aus der Not eine Tugend. Das über 100-seitige Vorwort führt in die verzweigte Geschichte von Büschings ‚Mission‘ ein, die Briefe selbst sind eher sparsam kommentiert. Dass die Herausgeber*innen dem Schlesien-Hasser Büsching cum ira et studio begegnen, ist ihnen kaum zu verargen. Sie korrigieren Forschungsmeinungen, wonach Büsching allein aus wissenschaftlichem Interesse und aus Begeisterung an der Sache gehandelt habe. In seinen Briefen stellt sich uns ein wenig sympathischer preußischer Staatsbeamter vor: Wegen Schulden so gut wie auf der Flucht, egoistisch und erfolgssüchtig, wenig empathisch und vor allem herablassend gegenüber den Schlesiern, tritt ein Konquistador im Westentaschenformat auf den Plan, der zwar machtbewusst, aber auch misstrauisch und sich seiner Sache keineswegs immer sicher ist. Büsching dürfte in einem bald nach 1800 erneut expandierenden Preußen keine große Ausnahme darstellen als Beamter, der, gleichsam mit Buschzulage und Sonderrechten versehen, in eine neu eroberte und auszubeutende Provinz vordringt, wo er die Interessen des ‚Kulturstaates‘ Preußen auch gegen den Widerstand der einheimischen Bevölkerung rücksichtslos zu vertreten hat. Aus den katholischen Rheinlanden dürften sich für die Zeit nach 1815 zahlreiche weitere Beispiele anführen lassen.

Die nun vorliegende bedeutende Briefedition führt drastisch vor Augen, dass die Sammlermentalität des 19. Jahrhunderts sich keineswegs nur in Harmlosigkeit erging. Literaturwissenschaftler der ersten Generationen pflegten durchaus kein distanziert-unschuldiges Verhältnis zu ihren Gegenständen. Mit der Institutionalisierung des Autographensammelns wuchs einerseits ein Markt für alte Handschriften, andererseits war durchaus nicht festgelegt, wem öffentlich zugängliche Kunstwerke – neben Gemälden zumal alte Bücher – eigentlich gehörten. Säkularisierung schloss Plünderung ein, damit auch die Zerstörung mancher Objekte aufgrund unsachgemäßer Behandlung oder das Versickern von Unikaten, weil Männer wie Büsching auch mal in Geberlaune waren. Solange noch Fragen wie ‚Wem gehört die Kunst?‘ ausgehandelt werden mussten, war alles dies an der Tagesordnung. Der Name des prominenten Vorbildes für derartiges Handeln durfte im Preußen jener Zeit kaum ungestraft ausgesprochen werden: Es war zweifellos Napoleon. Es frappiert und entsetzt die Unentwegtheit, mit der Büsching seinen Auftrag ausführte, ohne von der besonderen Wirkung der Kunstwerke an Ort und Stelle irgendwie berührt zu werden. Sie alle sind ihm lediglich zu beschlagnahmende Besitztümer, auch wenn da und dort in seinen Briefen ästhetische Vorlieben anklingen.

Rechtfertigung seiner kolonialen Haltung war die erklärte ‚Andersartigkeit‘ der Schlesier, die ihm, dem Kulturprotestanten, mehr als suspekt waren und unter denen er immer ein Fremder blieb. Nicht etwa die Schlesier, so ist man versucht zu sagen, sondern der preußische Sachverständige war der Barbar in diesem Spiel. Der romantische Glaube an eine Kunstreligion war ihm wohl verborgen geblieben.

Titelbild

Krzysztof Żarski / Natalia Żarska (Hg.): „Die Schlesier im Ganzen taugen wahrlich nichts!“. Johann Gustav Gottlieb Büschings Briefe an seine Braut.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2019.
575 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783960230335

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