Ein Leben in Liedern – Trotz schwerer Kindheit, Alkohol, Krisen

Hannes Waders Autobiografie „Trotz alledem“ beschreibt seinen Weg zu einem der bekanntesten deutschen Liedermacher unserer Zeit

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hannes Wader hat im Jahr 2017 nach weit über vierzig Jahren seine Bühnenkarriere beendet und im Anschluss daran eine Autobiografie geschrieben. Dieses 592 Seiten starke Werk ist 2019 erschienen; seitdem ist es ruhig geworden um den Liedermacher, der zu den bedeutendsten und bekanntesten deutschen Künstlern der Nachkriegszeit zählt. In all den Jahren ist Wader, so geht es aus seinen Aufzeichnungen hervor, seinem aus der Lektüre von Friedrich Schillers Don Karlos entstammendem Motto gefolgt: Dass der Mann Achtung tragen solle für die Träume seiner Jugend.

Das Buch ist in vier etwa gleichlange Kapitel unterteilt, die verschiedenen Phasen im Leben des Liedermachers gewidmet sind: Kindheit, Lernen, Singen und Handeln. In diesen schildert er, wie er zu dem wurde, was er über ein halbes Jahrhundert lang auf der Bühne verkörperte, und was in diesen Jahren, in denen er der öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt war, für ihn wichtig gewesen ist. Jemand anderem habe er das Schreiben seiner Biografie nicht überlassen können, denn die Gewichtung über Wichtiges oder aber Nebensächliches habe nur er treffen können. Und so erzählt er in immer gleichem Ton zunächst sehr ausführlich von seiner unglücklichen Kindheit, die er am 23. Juni 1942 in einem Krankenhaus in Bethel laut schreiend und dem diensthabenden Arzt in einem hohen Bogen ins Gesicht urinierend begonnen habe. Im Nachhinein scheint es, dass sich der ganz junge Hannes hier schon positioniert. War es Programm oder Vorausschau? Sieht man nach Beendigung der Lektüre nochmal auf diesen Anfang zurück, erscheint er jedenfalls als der einzig mögliche Einstieg, mit dem Wader klarstellt, dass er sich, erst einmal erwachsen, zeitlebens nicht vor Autoritäten ducken oder sein Verhalten anpassen wird, im Gegenteil.

Das Kind Hans, denn auf diesen Namen ist er getauft, wächst in einer großen Familie im Poetenweg – noch ein Vorzeichen? – auf, sein Leben ist bestimmt von Lieblosigkeit, mangelndem Interesse und Gewalt. Bis er als junger Mann das Haus verlassen wird, hat er nie ein eigenes Zimmer und auch sonst keinen Platz, der nur für ihn bestimmt ist, worauf Wader sein späteres Ringen um seine Position im Leben zurückführt. In vielen seiner Lieder finden sich diese Kindheit und die schweren Tage darin wieder. Die Liedtexte nehmen Bezug auf tatsächlich Erlebtes und beinhalten selten Erfundenes, auch darauf legt Wader wert. Der Liedermacher scheut nicht davor zurück, später als peinlich beurteiltes Verhalten als Teil seiner Entwicklung anzuerkennen und es offen und unprätentiös zu schildern. So wird verständlich, warum er zeit seines Lebens immer bemüht ist, als Individuum wahrgenommen zu werden, auch wenn er diesen Drang nach Freiheit mitunter mit dem Gefühl von Einsamkeit bezahlt hat. Auch das Leben in offensichtlicher Armut, mit geflickten Gummistiefeln, meist aber barfuß, und mit im Bett zu Reif gefrierendem Atem wird wertfrei und ohne Groll geschildert. Waders Beschreibungen über sein Aufwachsen im Nachkriegsdeutschland, über seine Wahrnehmung der Flüchtlinge aus dem Osten oder die Bedingungen, unter denen Schule stattgefunden hat, sind Zeugnisse aus einer Zeit, die anders als über schriftliche Fixierungen bald nicht mehr zugänglich sein wird. Neben dem eigenen Aufwachsen werden außerdem die Lebensgeschichten der übrigen Familienmitglieder erzählt, was zeitgeschichtlich ebenfalls interessant ist, aber viel Platz in Anspruch nimmt.

Musikalisch wird das Kind vom Gesang der Mutter geprägt, der häufig ihre Arbeit begleitet und ein beeindruckendes Repertoire umfasst: Klassiker der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, Wiener Lieder, Operettenmelodien, Opernarien, alte Schlager aus der Weimarer Republik und vor allem Volkslieder finden sich darin. Hans Albers kennt der junge Hans aus dem Radio der Nachbarin und „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ verschafft ihm seine ersten Auftritte vor nachbarlichem Publikum, die er, scheu und ohne Selbstbewusstsein, mit dem Rücken zu seinen Zuhörern absolviert.

Ähnlich intensiv wie dieses erste Kapitel ist auch das zweite, „Lernen“ übertitelte. Mit 13 Jahren beginnt Wader eine Ausbildung zum Dekorationsgehilfen, die er mit einigen Schwierigkeiten auch erfolgreich beendet. Sein erstes Instrument ist die Mandoline des Vaters, ein paar Jahre später folgt die Gitarre. Beides spielt er im ortansässigen Mandolinenorchester. Mit fast 18 Jahren ist Hans als Gitarrist Mitglied eines Trios, das regelmäßig in einer Kellerkneipe vor Jugendlichen auftritt. Aufgrund seiner Vorliebe für deutsche Liedtexte ist er aber nach wie vor ein Außenseiter unter seinen gleichaltrigen Bekannten. Und noch etwas anderes, was ihn von nun an ebenfalls exzessiv und andauernd begleiten wird, beginnt er hier: den regelmäßigen Konsum von Alkohol. Wader mutiert zum Nachtmenschen, der er dann auch bleiben wird, lernt den Jazz kennen, den er anders als den Rock ’n’ Roll lieben lernt und der ihn dazu animiert, Klarinette zu lernen. Sein erstes Lied „Das Loch unterm Dach“ entsteht aus dem dringenden Wunsch, als Straßenmusiker mit deutschen Texten aufzutreten. Das Grafikstudium wird nicht beendet. Spätestens durch Waders Auftritt beim dritten Burg-Waldeck-Festival, bei dem unter anderem auch Reinhard Mey auftritt und Wader viele weitere Bekanntheiten der Szene kennenlernt, ist sein Weg in die Musik festgelegt.

Entsprechend folgen die Kapitel „Singen“ und „Handeln“, die nun aber weniger erzählend wirken, sondern eher eine Aneinanderreihung von Ereignissen, meist Konzerten oder Plattenaufnahmen, darstellen. Das spiegelt sich auch in der Gestaltung des Textes, der jetzt häufig nicht mehr beschreibend wirkt, sondern in meist kurzen Sätzen die Stationen von Waders Leben durchgeht. Die narrative Gewichtung, die Wader seinen eigenen Angaben zufolge wichtig ist, bedeutet eine Auswahl aus den Auftritten oder den Zusammenarbeiten, nicht aber der Darstellung von Höhen und Tiefen. Zwar berichtet er von seinen ‚Krisen‘, wie er die schwierigen Phasen in seinem Leben nennt, ohne aber ihre Auswirkungen auf sein Denken und Handeln im Detail zu schildern. Der Leser erfährt von den zwei Ehefrauen Waders, von Susanne als gelegentlicher Besucherin und von Cordula, Begleiterinnen seiner Karriere. Auch in gesellschaftlicher oder politischer Hinsicht bleibt das Buch eher oberflächlich. Seine Haltung zur 68er-Bewegung nennt Wader selbst „passiv-zwiespältig“ und nur durch einen dummen Zufall gerät er in den Fokus der Behörden, von denen er sich auf ihrer intensiven Suche nach den Anhängern der RAF jahrelang schikaniert sieht. Er selbst wird erst vergleichsweise spät politisch aktiv, indem er sich zum Sozialismus bekennt und 1977 in die DKP eintritt, die er 1991, ernüchtert durch den GAU in Tschernobyl, Erlebnisse auf Konzertreisen in sozialistischen Ländern oder die Ereignisse in der ehemaligen DDR, die zum Mauerfall führten, wieder verlässt.

Insgesamt erscheint Wader bezogen auf die politischen Ereignisse seiner Zeit meist unkritisch, was angesichts seiner Kontakte und seines Umfeldes, aber auch seiner Rolle in der deutschen Friedensbewegung, erstaunt. Hannes Wader beschreibt sich als einen, dem es zeitlebens wichtiger war, als Individuum und nicht der Normalität angehörend wahrgenommen zu werden, statt sachliche Überlegungen oder Argumente sein Handeln bestimmen zu lassen. So erscheint sein Auftreten eher als Ausdruck dieser Suche nach Alleinstellungsmerkmalen inmitten einer auf Angepasstheit bedachten Bundesrepublik denn als Ausdruck des Bedürfnisses nach Weltenrettung oder Systemveränderung. Auch Privates aus der Zeit nach Kindheit und Jugend, wie zum Beispiel Schilderungen von Familienleben, findet sich kaum. Nur ein einziges Mal werden familiäre Unternehmungen erwähnt, wenn Wader berichtet, man habe gemeinsam in Norddeutschland Fahrradtouren unternommen. Hannes Wader legt, sicherlich zu Recht, großen Wert darauf, auf die bedeutenden Namen hinzuweisen, mit denen er im Lauf der Zeit in Kontakt kam – intensiv mit Reinhard Mey, Konstantin Wecker, Franz-Josef Degenhardt oder auch Otto Waalkes, innerhalb der künstlerischen Szene beispielsweise mit Hans-Magnus Enzensberger oder Günter Grass. Leider bleibt es aber auch hier in den meisten Fällen bei der Erwähnung dieser Begegnungen. Darüber, was diese ihm bedeutet haben, über ihre Qualität, beispielsweise im Austausch von Gedanken und Ideen zu Ereignissen des Zeitgeschehens oder persönlichen Erfahrungen, erfährt der Leser wenig bis nichts.

Das vom Verlag versprochene „bewegende() Zeitzeugnis der Bundesrepublik“ bleibt damit hinter der durch dieses Versprechen geweckten Erwartung zurück. Allerdings scheint das auch nicht Waders Intention gewesen zu sein. Ihm war es wichtig, seinen eigenen Weg darzustellen, und zu diesem Zweck hat er eine Autobiografie verfasst, die auf das konzentriert ist, was die Öffentlichkeit von ihm wahrgenommen hat, die also im Wesentlichen eine berufliche ist, und die erklärt, wie er zu dem geworden ist, der er ist. Gerade für die Anhänger seiner Liedkunst ist sein Buch daher lesenswert, enthält es doch eine Fülle von Informationen über die Entstehung seiner Texte, über Einflüsse, die sich in ihnen spiegeln, und über seinen ganz persönlichen Kampf um Entstehung und Aufrechterhaltung seiner Individualität, der in den Liedern Ausdruck findet. Der „eigene Ton“ ist ihm immer wichtig gewesen, und so spiegelt das Buch seine ihn offenbar lebenslang begleitenden Selbstzweifel, seine innere Getriebenheit, erscheint es mitunter trotzig und pubertär. Gerade dadurch aber wird es wie seine Lieder ehrlich und authentisch.

Titelbild

Hannes Wader: Trotz alledem. Mein Leben.
Penguin Verlag, München 2019.
592 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600497

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch