Gedichte fürs Gedächtnis?

Zur Neuausgabe einer von Ulla Hahn zusammengestellten Lyrik-Anthologie

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Lyrik-Anthologie, erstmals 1999 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen, hat mittlerweile 23 Auflagen erlebt. Schlechte Zeit für Lyrik? Ein derartiges Hausbuch zu besitzen, eine Auswahl der Höhepunkte der deutschsprachigen Lyrik von Walther von der Vogelweide bis Paul Celan und Ingeborg Bachmann, das ist jedenfalls offensichtlich noch immer angezeigt. Die nun vorliegende Neuausgabe ist „leicht aktualisiert“. Gedichte aus den letzten fünfzig Jahren aber, das sei hier gleich festgehalten, sucht man vergeblich.

Ulla Hahn hat rund 100 Gedichte ausgewählt, fast durchwegs Marksteine, Gedichte nämlich, die alles andere sind als unmissverständlich … vielmehr so angelegt und durchkomponiert, dass sie erst im Akt der kreativen Lektüre ihr ganzes Potential entfalten. So hält sie es mit Rainer Maria Rilke: „Wie vielen Lesenden fehlt noch die wirkliche Beziehung zum Gedicht, weil sie, im stillen Darüberhinlesen, seine besonderen Eigenschaften nur eben streifen, statt sie sich zu erwecken“ (vgl. Rilkes Brief an Dieter Bassermann vom 19. April 1926); und so setzt sie dem (längst vergessenen, scheinbar überholten) Auswendig-Lernen ihr Begriffspaar „Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen“ entgegen; ein Plädoyer, Gedichte sich „zu eigen“ zu machen, also die Sinn- und Klangstrukturen gleichermaßen einzuspeichern.

Stefan Neuhaus hat in seiner Besprechung der DVA-Anthologie (vgl. literaturkritik.de Nr. 6, Juni 2000) die Auswahl der Texte und die Kommentare dazu als „eigenwillig“ apostrophiert; man dürfe sich zum einen „daran reiben“ und zum andern „darüber freuen“. Eigenwillig, das heißt auch: Nicht länger belastet von den Muster-Interpretationen der Literaturwissenschaft sollten sich die LeserInnen dieser Sammlung immer wieder neu sowohl die Gedichte wie auch die höchstpersönlichen „Seelen-Bedürfnisse“ (Klaus von Dohnanyi) vor Augen führen.

Die knappgehaltenen Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten beschränken sich denn auch in der Regel auf Anmerkungen zu biographischen Daten, zur Entstehung und zum literarischen Kontext sowie zur Nachwirkung und zur Rezeption der Gedichte, wobei namentlich Vertonungen vielfach aufgelistet werden. Nur selten gibt Ulla Hahn das selbstverordnete Konzept auf und die Richtung vor, die das Nachdenken über ein Gedicht bestimmen sollte; zumeist nur dort, wo sie grobe Missverständnisse befürchtet: Das Gedicht Der gute Kamerad von Ludwig Uhland z. B. ist in ihrem Verständnis (und es soll anders möglichst nie mehr vorgetragen werden) „eines der traurigsten in deutscher Sprache“, im Grunde ein Antikriegsgedicht; und in Eichendorffs Taugenichts sieht sie (mit Georg Lukács) eine Revolte gegen die „zwecklose und inhumane Geschäftigkeit des modernen Lebens“, gegen eine Geschäftigkeit, so ergänzt Ulla Hahn, wie sie „auch heute wieder in Deutschland zu spüren“ sei. Zumeist hingegen bleibt es durchaus Sache der LeserInnen, sich auf die ausgewählten Texte einen eigenen Reim zu machen.

Es versteht sich, dass man über diese Auswahl der Texte auch weiterhin diskutieren und streiten könnte. Goethe, Hölderlin, Heine, Mörike, Benn und Brecht sind wohl am besten vertreten, Gedichte wie Georg Trakls Grodek, Theodor Kramers Abschaffung und viele andere, darunter Gedichte von Erich Arendt und Johannes Bobrowski und Hertha Kräftner; noch „viele andere wichtige Namen“, wie Ulla Hahn selbst einräumt, vermisst man nach wie vor, doch andererseits ist hier auch festzuhalten: Mit der Aufnahme von Gertrud Kolmar, Albrecht Haushofer und Dietrich Bonhoeffer, die man in einem solchen Lesebuch vielleicht nicht unbedingt erwartet, setzt die Herausgeberin wohlbedacht doch ein markantes Zeichen, so wie sie auch einen großen Bogen spannt von Lessings Ringparabel bis zur Todesfuge von Paul Celan.  

„Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen“. Die Methode führt mitten in das Gedicht hinein und zugleich vor, was alles im Akt der Lektüre passieren kann: In ihrem Kommentar zu dem vielzitierten Fadensonnen-Gedicht von Paul Celan bemerkt Ulla Hahn, Erich Fried hätte in seiner Antwort auf dieses Gedicht Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan dessen Intentionen missverstanden und deshalb seinem Kollegen widersprochen: „Lieder / gewiß / auch jenseits / unseres Sterbens / Lieder der Zukunft / jenseits der Unzeit in die wir / alle verstrickt sind / Ein Singen jenseits / des für uns Denkbaren / Weit / / Doch nicht ein einziges Lied / jenseits der Menschen.“ Man könnte indessen Frieds Entgegnung (aus dem Jahr 1972) wohl auch anders lesen als Ulla Hahn: als kritische Auseinandersetzung nämlich mit einer wissenschaftlichen Literatur, die den (weiten) Bedeutungsrahmen des Fadensonnen-Gedichts noch weiter, aus Frieds Perspektive allzu weit ausgedehnt und „ins Nichts“ katapultiert hat. Einiges spricht jedenfalls für diese Lesart: Schon der Titel des Fried-Gedichts; ein Gedicht, das man definitiv ablehnt, wird man nicht unbedingt wiederlesen. Dann die Adjektive, die im Fried-Gedicht das Celan‘sche Gedicht charakterisieren: trächtig – deutlich – bitter, durchwegs also Eigenschaftswörter, die alles andere als negative Konnotationen wecken. Endlich aber auch ein nur auf den ersten Blick unscheinbares Indiz; während Fried eingangs die letzten Zeilen des Fadensonnen-Gedichts exakt zitiert („es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen“), verschiebt er in den beiden letzten Versen seines Gedichts das Enjambement („Doch nicht ein einziges Lied / jenseits der Menschen“), so dass jener Sinnzusammenhang hergestellt wird, der erst in den von ihm beanstandeten Interpretationen sich findet; und der ist mit dem Sinnzusammenhang des Celan-Gedichts doch keineswegs ganz identisch.

„Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen“. Die Methode ist bestimmt nicht gerade trendy, noch immer nicht; aber sie provoziert einen Zugang zu Gedichten, ein Verfahren, das andere und tiefere Dimensionen in Texten wie im Akt der Lektüre zu eröffnen vermag als das alte Darüberhinlesen oder das neuere Darüberhinwischen. Weil das Hamburger Hausbuch alle Ablenkungs-Manöver durchkreuzt und demgegenüber einen attraktiven Kompass präsentiert, ist’s mehr als erfreulich, dass es weiterhin lieferbar bleibt.

Titelbild

Ulla Hahn (Hg.): Gedichte fürs Gedächtnis.
Mit einem Nachwort von Klaus von Dohnanyi.
Penguin Verlag, München 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600312

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