Immer wieder die Sprache(n)

Neues von Zsuzsanna Gahse

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Autorpoetik“, das sei „das von einem Schriftsteller entwickelte Ensemble von Schreibintentionen, Dichtungsprinzipien sowie handwerklichen Kunstgriffen, das sein eigenes Werk programmatisch kennzeichnet und begründet, aber nur sekundär auf Allgemeingültigkeit abzielt“, heißt es im Metzler Lexikon Literatur. Entwickelt werde ein solches „Ensemble“ unter anderem in Poetikvorlesungen. Zsuzsanna Gahse, die 1946 in Budapest geborene Schweizer Literatin, die seit den 1980er-Jahren zahlreiche literarische Meisterstücke vorgelegt hat und dafür vielfach ausgezeichnet wurde, hat ihr „Ensemble“ bereits 2008 während ihrer „Chamisso-Poetikdozentur“ in Dresden genauer charakterisiert – unter dem Titel Erzählinseln erschienen diese Vorlesungen 2009 bei Thelem. Etwa zur gleichen Zeit richtete die Paris-Lodron-Universität Salzburg ihre Stefan Zweig gewidmete Poetikvorlesung ein, und zehn Jahre später, im Mai 2019, war Zsuzsanna Gahse dorthin eingeladen. Unter dem Titel Andererseits sind ihre Salzburger Vorlesungen bei Sonderzahl erschienen.

In ihrem ersten Vortrag lässt Gahse ihre literarischen Hausheiligen auftreten, und das bedeutet für den Leser unter anderem: viele hoch interessante, oft richtig aufregende und jedenfalls großartige Lektüre-Tipps! Natürlich gebietet es der genius loci, zunächst einmal Stefan Zweig und Georg Trakl zu erwähnen, auch Thomas Bernhards Roman Der Keller und den aus Salzburg stammenden Bodo Hell mit seiner Stadtschrift, die ein „rhythmischer Hochgenuss“ sei und ganz unverzichtbar. Hoch musikalisch seien auch die Bücher von Gert Jonke, „und das könnte nur jemand übersehen, der seine Texte noch nie laut gelesen hat“. Ähnliches gelte für die Werke von Margret Kreidl. Die „filmaufmerksame Ilse Aichinger“ gehört ganz unbedingt zu Gahses Referenzautorinnen; im deutschsprachigen Raum weniger bekannt sind Dezső Tandori und Miklós Mészöly.

Dass ihre eigene Poetik ohne den Don Quijote kaum vorstellbar ist, weiß man aus vielen ihrer literarischen Bücher, und hier bekräftigt sie dessen herausragende Position auf ihrem Hausheiligenaltar mehrfach. Gahses Leitsatz lautet: Ein Nacherzählen, Neuerzählen, Umerzählen und Weitererzählen bereits vorhandener Sätze und Geschichten sei nicht nur legitim, sondern führe oft auch in wirkliches Neuland.

Der Versuch, in die Texte, in die Geschichten und Kompositionen von anderen hineinzukriechen, die einem wichtig sind, ist ein anregender und im wörtlichen Sinn aufschlussreicher Versuch […]. Mit den Werken, die einem nahestehen, sind alle Spielweisen nützlich.

Was das bedeutet, veranschaulicht die Dozentin an ihrem Südsudelbuch (2012), das man auch als „ein beinahe unmerkliches Spiel mit Cervantes“ lesen könne. Dass nicht nur Werke bewunderter Künstler Aufschluss geben über Zsuzsanna Gahses eigene Poetik, sondern dass auch auf die Topografien zu achten sei, die oft zu einer Art Bühne des Textgeschehens werden, wird am Beispiel „Büren“ verdeutlicht, dem Schauplatz von JAN, JANKA, SARA und ich (2015) und anderen Gahse-Texten – ein fiktiver Ort, der ohne ihren Wohnort Müllheim im Thurgau nicht möglich wäre: „Büren ist nicht nirgendwo“. Wer Gahses bisherige Werke gelesen hat, vor allem die seit durch und durch (2005) entstandenen, ohne an die von Georges Perecs Büchern gemachten „Angebote für alle Arten der Orientierung“ zu denken, wird sie nach diesen Poetikvorlesungen noch einmal anders lesen.

Wiederholt weist die mit allen Wassern der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts gewaschene Schriftstellerin darauf hin, dass es ihr bei ihrem sprachsüchtig zupackenden Erzählen immer auf das Wohin ankomme, auf das Unterwegs-Sein, auf das Neue – und nicht auf Herkunft oder Wurzeln, nicht auf das Woher, das in den inzwischen gut vierzig Jahre währenden Debatten um eine interkulturelle Literatur oder eine Literatur der Migration so oft bemüht wurde. „Die mitunter freundlich gemeinte, aber strikte Frage nach den Wurzeln kann mitunter beinahe rassistische Züge annehmen“. Wurzeln? Nathalie Sarraute, Witold Gombrowicz, Ödön von Horváth oder Gertrude Stein seien große Literaten – Punkt. „Was könnte der Landeswechsel schon besagen?“.

Das Neue, das die klassische Moderne hervorgebracht hat und das auch Zsuzsanna Gahses Werk charakterisiert, nennt sie „Störe“ – schillernde, schwer fassbare Fische, die nicht in vorgefertigte Rubriken passen und zu ihrem Verständnis kaum Kenntnisse vermeintlicher Autoren-Identitäten benötigen. „Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“. Keine Gattungsgrenzen bitte, kein Einschränken von Möglichkeiten, sondern strukturiertes, gerne auch traditionsgesättigtes Spielen mit Sprache! „Andocken, heranzoomen, Motive wiederholen, einen Ausschnitt vergrößern, Sätze übernehmen und verändern“.

Die zweite Poetikvorlesung trägt die Überschrift „Tempo“ und befasst sich hauptsächlich mit der Frage von Relationen und Proportionen. „Wo ist endlos wichtig, wann aber wichtiger. Wann sitzt unmittelbar auf dem Rücken von wo“. Tempo – und Klang: „Einen Reichtum bedeuten die Wörter mit ihrem jeweiligen Klang, sie helfen bei allen Erzählweisen, und sie haben spannende Vergangenheiten. Oft haben sie sogar einen gemeinsamen Stammbaum, gemeinsame Gene“. Weshalb und wie die sogenannten genetischen Wortverwandtschaften ein Kernthema ihres vorletzten Buchs Siebenundsiebzig Geschwister (2017) sind, wird detailliert erörtert – und damit begibt sich Zsuzsanna Gahse auf vermintes, unsicheres Terrain, auf das ihr nicht alle Linguisten und speziell nicht alle Etymologen folgen werden. Höchst anregend sind ihre Beobachtungen und Reflexionen allemal, etwa die mit Mihály Babits, Federico García Lorca, Georges Perec, Ernst Jandl oder Gert Jonke unterfütterten Überlegungen zum Wert der Vokale, die zum Verständnis ihrer Donauwürfel (2010) oder von JAN, JANKA, SARA und ich grundlegend sind. Wichtig für Gahses Sprachverständnis ist auch die Beobachtung, dass Wörter „scharenweise“ über Sprachgrenzen wandern können, „auch als Schmugglerware, und sie sickern in Sprachen ein, von denen sie früher keine Ahnung hatten“. Fazit: Jedes Wort, die Autorin hat es schon mehrfach gesagt, ist für sie zuerst einmal eine Übersetzung.

In „Theater“, wie die dritte Vorlesung betitelt ist, geht es um Bühnen und Szenen, um szenisches Schreiben in der Weltliteratur und im eigenen Werk. Um zu erläutern, wie ihre Texte entstehen, bemüht die Dozentin einmal mehr das Bild vom Blätterteig: „Er wird geknetet, ausgerollt, zusammengelegt, weggelegt, vorgeholt, ausgerollt, und immer wieder werden die einzelnen Textseiten übereinandergelegt“. Man begreift, weshalb Nathalie Sarraute, György Tábori, Ilse Aichinger oder Gilles Deleuze für Gahses Selbstverständnis so wichtig sind, und man versteht, dass das Nach-, Um- und Weitererzählen auch bei Filmen oder szenischen Stücken die entscheidende Rolle spielt. Ebenso wie das Stottern, das Innehalten und das Wiederholen.

Die „so energiegeladene wie spielerische Absage an lineare Erzählkonzepte“ (Kurt Neumann), die Zsuzsanna Gahses bisheriges Gesamtwerk durchzieht, wird aus ihrer dritten Salzburger Vorlesung noch plausibler und plastischer als bisher. Ihre Poetik vertraut zuallererst den Wörtern und deren vielfältigen Verflechtungen, sie vertraut der Sprache beziehungsweise den Sprachen. In seinem konzisen Nachwort fasst Kurt Neumann zusammen: „Wir erkennen […] Gahses Bücher als Spielwerke von Ideen, Motiven, Wörtern und Ausdrucksweisen, die in ihrer Ausformung zwischen Gedicht und Prosa, zwischen Erzählung, Essay und Aphorismus changieren können, sich einmal mehr dem einen, ein nächsten Mal mehr dem anderen literarischen Genre annähern, dabei jedoch jederzeit die Option eines Andererseits offen halten“.

Das gilt mit Sicherheit auch für Zsuzsanna Gahses jüngstes literarisches Werk Schon bald, das in ihrer dritten Poetikvorlesung als „Unterhaltung mit Perec“ charakterisiert wird. Ein „Ich“ und ein „Pitt“ räumen, zusammen mit der Schauspielerin „Grit“, eine Dreizimmerwohnung aus, und dieses von einer „Lust am Abbau“ vorangetriebene Minimieren der Gegenstände eröffnet eine Bühne, auf der sich das Theater ihrer Vorstellungen in Szene setzen lässt: „Als wir uns jetzt in den halbwegs leeren Zimmern umsahen, ist uns beiden gleichzeitig aufgefallen, dass wir uns auf einer Bühne befinden“. Dort werden die nicht entrümpelten, unentbehrlichen Dinge ganz neu sichtbar: der Schreibtisch, die Stühle, das Geschirr oder die Füllersammlung. Relativ spontanes freies Theater entfaltet sich, eine feste Vorschriften oder vorgegebene Gattungen sprengende, offene und doch nicht willkürliche Performance-Form. Die Flucht der drei hintereinander liegenden leeren Zimmer wird zum Wohnzimmertheater: Publikumsraum, Bühne, Backstage. Kurze Szenen mit unterschiedlichen Charakteren werden geplant und geprobt. Die eigentlichen Akteure dieses Spielens aber sind weniger die Dinge oder die Personen, es sind die Wörter. Es ist die Sprache, deren unendliche Variabilität im Zentrum auch dieses Prosawerks von Zsuzsanna Gahse steht – einer Prosa, die herkömmliche Grenzen zum geschlossenen Theaterstück oder zu Szenen im Stil der Commedia dell’arte souverän und auf oft sehr witzige Art und Weise ignoriert. Auch die Grenze zum poetologischen Essay gilt wenig, oder die Grenze zur Lyrik: „Ganze Gedichte oder Fetzen von Gedichten hocken in den Ohren, und bei der leisesten Berührung geraten sie in Bewegung“.

Schon bald erscheint als permanente und konsequente Sprachübung, in der vorgeführt wird, wie spontanes Spielen kunstvoll und natürlich wirken kann. Und dass es zuerst eine tabula rasa, einen fast leeren Raum braucht, der peu à peu spielerisch gefüllt werden muss, um etwas wirklich Neues zu schaffen. Dieses Neue besteht aus „eigenen“ Szenen und Sequenzen, immer in Kombination mit Bruchstücken aus bekannten Bühnenstücken, die nacherzählt, weitergesponnen und umgebaut werden. Mit Schon bald unternimmt Zsuzsanna Gahse ein komplexes, diffiziles Erzählexperiment, ein intelligentes Spielen mit Georges Perec und anderen Modernen, ganz im Sinne ihrer Salzburger Poetikvorlesungen, sehr eng und sehr direkt mit ihnen verbunden.

Titelbild

Zsuzsanna Gahse: Andererseits. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesungen.
Sonderzahl Verlag, Wien 2020.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783854495499

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Zsuzsanna Gahse: Schon bald.
Edition Korrespondenzen, A-1060 Wien 2019.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783902951434

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