Magische Bildwelten, mit einer eigenen Symbolik aufgeladen

Im 125. Jubiläumsjahr ihres Namensträgers blickt die Franz Radziwill Gesellschaft auf eine fünfteilige Ausstellungs- und Publikationsreihe zurück, in der systematisch die Strategien des Künstlers untersucht wurden

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kunstkritiker Franz Roh bereicherte in seinem Buch Nach-Expressionismus – Probleme der neuesten europäischen Malerei (1925) die Neue Sachlichkeit um den Begriff des Magischen Realismus. Ursprünglich zur umfassenden Beschreibung des Phänomens der neorealistischen Malerei gedacht, markierte der Magische Realismus später eher einen Stilaspekt innerhalb der gesamten Bewegung. Er spielt auf die Pittura metafisica an, die eine magische Erfahrung entfremdeter und unfassbarer Dinge suggeriert. „Mit ‚magisch‘ im Gegensatz zu ‚mythisch’ sollte angedeutet sein, dass das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält“ (Franz Roh).

Mit seinem Werk zwischen Expressivität, Sachlichkeit und eben magischem Realismus gilt Franz Radziwill als einer der eigenständigsten Maler des 20. Jahrhunderts. 1895 an der Unterweser geboren und in Bremen aufgewachsen, siedelte Radziwill 1923 in den Nordseeort Dangast am südwestlichen Jadebusen über. Seit seiner Beschäftigung mit den Alten Meistern erhielt der Himmel als Element eines Landschaftsbildes eine immer größere Bedeutung für ihn – und das wurde verstärkt durch seine Begeisterung für die Malerei der deutschen Romantik, für Caspar David Friedrich und Carl Gustav Carus. Die Anregungen für seine Landschaftsbilder und Stillleben fand er oft in seiner direkten Umgebung. So erzählen viele seiner Werke auch ein Stück Zeitgeschichte.

Der Magische Realismus sucht hinter der objektivierten Wirklichkeit eine überwirkliche Erfahrung. Der Traum hat den Maler fasziniert: mit Geheimnissen, Melancholie und Angst. Was Radziwill an den Plätzen, Gebäuden und Mauern so faszinierte, war nicht ihre feste architektonische Realität, sondern ihre bühnenhafte Wirkung. Da gibt es fast luftleere Räume, düster, drohend, verlassen, und das Wetter ist fast immer gleich. Die Sonne wirft lange Schatten über die Plätze und Häuser. Sie setzt die Gegenstände in ein klares, hartes, aber nie zärtliches Licht, niemals erzeugt sie die Illusion einer freundlichen Welt. Der Raum scheint durch die theaterhafte Perspektive die langen Häuserreihen entlang vor dem Betrachter zurückzuweichen. Dieses Verlängern, das die entfernten Dinge noch viel entfernter erscheinen lässt, steht im Widerspruch zu einer kubistischen Flächigkeit und Komprimierung. Doch die (Stadt-)Landschaften Radziwills sind weitgehend leer. Entweder hat die menschliche Gesellschaft aufgehört zu existieren, oder sie ist zu mal karnevalistisch gestikulierenden, dann wieder wie tot wirkenden Gestalten zusammengeschrumpft, die sich dem einzigen anderen menschlichen Bewohner dieser Landschaft, Radziwill selbst, in dessen Auge die Perspektive zusammenläuft, nicht mitteilen können. Die Figuren sind in ihrer Bewegung erstarrt oder sie bewegen sich wie Schlafwandler durch die Landschaft. Der Mensch wird ohne alle psychologische Einfühlung seiner menschlichen Gefühle und Eigenschaften entkleidet, versachlicht, zur dinghaften Oberflächenstruktur reduziert.

Für das 125. Jubiläum des Künstlers suchte die Franz Radziwill Gesellschaft ein Thema, das bislang im Rahmen von Ausstellungen noch keine prinzipielle Beachtung fand. In einer Reihe von fünf Einzelausstellungen mit entsprechenden Katalogen wurden im Franz Radziwill Haus Dangast zum ersten Mal die formalen Bildstrategien und Kompositionsmittel des Malers beleuchtet, die für seine Gemälde so charakteristisch sind. Im Jahr 2016 ging es in „Schneeweiß und Nachtschwarz“ um Radziwills Einsatz von Hell-Dunkel-Kontrasten und 2017 in „Die Palette des Malers“ um dessen unverkennbare Farbwirkung, in die er Gestalten, Räume und Landschaft tauchte, wobei auch Licht und Schatten eine wesentliche Rolle spielen. Nach dem expressiven Frühwerk dominieren gedämpfte Töne, bis das Spätwerk nochmals eine koloristische Steigerung erfährt. 2018 wurde in „Fläche wird Bild“ Radziwills künstlerische Reflexion der Zweidimensionalität des Mediums Malerei untersucht; Radziwill hatte die Einheitlichkeit des realistischen Raumes aufgehoben und damit auch die überlieferte Lichtführung in Frage gestellt. Mit avantgardistischem Anspruch setzt er Figuren und Gegenstände in rhythmisch gesetzte Farbflächen. Im Zuge der Neuen Sachlichkeit wird die Flächigkeit durch bildparallele Darstellungen hervorgehoben. Im Spätwerk kombinierte er häufig räumliche Darstellung und flächenhafte Gestaltung. Ab 1950 integrierte er Schachbrettmuster und Gitterstrukturen in seine Bildräume. Auf diese Weise wurden abwechselnd Räumlichkeit als auch Zweidimensionalität der Fläche als Träger der Farbe wahrnehmbar. Mit dieser Bildkonzeption verknüpfte Radziwill Moderne mit Tradition. „Inszenierte Bildräume“ spürte dann 2019 Radziwills Umgang mit Perspektive und Räumlichkeit nach und zeigte, dass der Maler die Raumkonstruktionen nicht mehr der Realität entnommen, sondern „verfremdet“ hat, wobei er auch auf unterschiedliche Wirkungsmöglichkeiten des Lichts zurückgriff.

Die diesjährige Ausstellung Lichtspiele (bis 10. Januar 2021) bildet im Jubiläumsjahr den Höhepunkt dieser Ausstellungsreihe und widmet sich Radziwills Meisterschaft, mit Licht zu arbeiten. Im Vorwort des Kataloges wird auf die imaginären „Scheinwerfer“ hingewiesen, die sich meist außerhalb der Bildräume befinden und die Radziwills Stadtlandschaften wie Theaterräume anstrahlen. Es ist das Licht, das das Bildgeschehen ins Magische, Metaphysische hebt und das real Dargestellte in Frage stellt, egal, ob es sich um das helle Licht des Tages oder die Dunkelheit der Nacht handelt. Radziwill hat selbst das Wort „Lichtspiele“ geprägt, und mit ihnen setzen sich die Beiträge des Kataloges auseinander.

„Landschaft mit Lichtfleck“, 1923/24 entstanden, bildet den Anfang der Nachtbilder, mit denen sich Radziwill dem Medium Licht näherte. Mit seiner Abkehr vom Expressionismus, so schreibt Birgit Denizel, die Kuratorin der Ausstellung, trat sein künstlerisches Interesse am Licht hervor. Dabei konzentrierte sich Radziwill auf die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Rembrandt und Jan Vermeer. Während Rembrandt die Bildgegenstände aus dem Dunkel heraus zum Leuchten brachte, erscheinen die Bildräume von Vermeer geradezu von Licht erfüllt. Mit der Anlehnung an die barocke Lichtmystik gelang es Radziwill, die „neusachliche“ Malerei magisch aufzuladen. Sein Interesse an Lichtinszenierungen ab etwa 1923 geschah zeitgleich mit der Entwicklung des Films. Betrachtet man seine Gemälde in Form von Schwarz-Weiß-Abbildungen, so können sie auch vom Stummfilm inspiriert worden sein. Überhaupt hat sich der Begriff „Lichtspiele“ Anfang der 1920er Jahre in der künstlerischen Avantgarde durchgesetzt. Radziwill machte das Licht zu einem bildnerischen Thema, als dieses auch in der Avantgarde hoch im Kurs war, das er aber in seinem eigenen Selbstverständnis als Maler anders verarbeitete.

Ein Stück widerspruchsvoller Rezeptionsgeschichte des Werkes von Radziwill erläutert Rainer Stamm, seit 2010 Direktor des Oldenburger Landesmuseums. Kein anderes Museum ist mit dem Werk Radziwills so eng verbunden wie das Landesmuseum Oldenburg, das schon seit seiner Eröffnung im Jahr 1923 Werke von Radziwill besaß und ihn in regelmäßigen Abständen in Personalausstellungen zeigte. Nicht nur der damalige Direktor des Landesmuseums, Walter Müller-Wulckow, trug wesentlich zur Rezeption Radziwills bei, sondern auch die Mitarbeiter, die von Oldenburg nach Erfurt, Stettin und Jena gegangen waren und hier in der NS-Zeit Turbulenzen um das Werk Radziwills ausgesetzt waren. Anfang der 1930er Jahre war es zwischen Müller-Wulckow und Radziwill zum Zerwürfnis gekommen, der Künstler wurde im Oldenburger Museum nicht mehr ausgestellt. Erst als Herbert Wolfgang Keiser 1952 zum neuen Direktor des Landesmuseums ernannt wurde, kam es wieder zu Expositionen, so 1975 zum 80. Geburtstag Radziwills. Drei Jahre zuvor hatte der Künstler wegen eines Augenleidens das Malen bereits aufgeben müssen. Der Bestand des Landesmuseums Oldenburg zählt heute zur größten öffentlichen Sammlung an Werken des Künstlers.

Konstanze Radziwill, die zusammen mit Gerburg Rohde-Dahl den Dokumentarfilm Konsequent Inkonsequent. Der Maler Franz Radziwill drehte, begründet, warum ein Beitrag des Berliner Kunsthistorikers Roland März aus dem Eröffnungskatalog des Künstlerhauses Dangast von 1987 – er trägt den Titel Idylle und Katastrophe – Apokalyptischer Raum – noch einmal im Jubiläumsjahr Radziwills abgedruckt wird – der Nachdruck liegt  in dessen unveränderter Aktualität. In der Tat wird Radziwills „dämonische“ Antwort auf Technikkult und Fortschrittsgläubigkeit überzeugend von Roland März herausgearbeitet. Neben Bahnlinien, Kanal- und Deichanlagen, Starkstrommasten und Kränen fanden auch Flugzeuge, Schiffe und U-Boote Eingang in Radziwills Bilder. Dabei war das Verhältnis des Künstlers zur Technik durchaus zwiespältig: Als Maler der Natur hielt er ihre rasante Entwicklung für bedrohlich, zugleich war er fasziniert von den neuen Möglichkeiten, die sie mit sich brachte.  Als Apokalyptiker der Idylle, der mitunter auch Idylle und Katastrophe nebeneinandergestellt hat, war Radziwill sowohl ein „realistischer Visionär“ als auch „visionärer Realist“ (Mario de Micheli).

Offen bleibt die Frage, ob man die Werke Radziwills auch wirklich als eine symbolisch verkleidete Kritik an der NS-Diktatur bezeichnen kann. Wenn seine Bilder aus den frühen 1940er Jahren auch nicht mit der Schärfe und visionären Kraft eines Otto Dix oder Rudolf Schlichter zu vergleichen sind, so haben sie doch das gleiche Thema zum Gegenstand – die vom Menschen herbeigeführte Zerstörung. Zur Entstehungszeit dieser Bilder ist für Radziwill Zerstörung schon Realität geworden. Phantastisches äußert sich in außerrealen Erscheinungen („Vergehende Bauten“, 1944). Die Zerstörung, der auf dem Zeitalter lastende Alpdruck, spiegelt sich auch in den „suprarealistischen“ Gesichtern („Selbstbildnis mit roter Bluse“, 1930). Könnte man diese symbolische Variante als eine Kunst der „inneren Emigration“ bezeichnen, denn die Normen der NS-Kunstdiktatur hatten den Rahmen gesteckt, innerhalb dessen Kunst überhaupt noch möglich war? Aber da muss man wohl die Biographie Radziwills stärker in Betracht ziehen: Als Mitglied der NSDAP seit 1933 wurde er nach der Entlassung von Paul Klee und Heinrich Campendonk an die Düsseldorfer Akademie berufen, jedoch nach Bekanntwerden seiner frühen expressionistischen Arbeiten ebenfalls relegiert. 51 Bilder aus dem Frühwerk wurden im Depot der Hamburger Kunsthalle als „entartet“ beschlagnahmt. Kurz darauf war Radziwill zwar nicht in der Münchener Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ vertreten, aber dann wurden Werke von ihm in den weiteren Stationen dieser Ausstellung eingefügt. Es folgten 1938 das Ausstellungsverbot und die ständige Kontrolle seiner künstlerischen Aktivitäten in Dangast. Dennoch blieb Radziwill dem NS-Staat „politisch treu, wenn es um die angeblich vitalen Interessen der Nation ging“ (James A. Van Dyke). Das nach Kriegsende stark veränderte apokalyptische Gemälde „Flandern“ (1940 und um 1950 Übermalung durch den Künstler, so wurde auch der Riss zwischen Himmel und Erde nun erst vollendet) stellt zwar die verzweifelte Frage „Wohin in dieser Welt?“, doch hatte Radziwill zumindest bis 1941 noch auf einen militärischen Sieg Hitler-Deutschlands gehofft.

Lichtspiele ist eine Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Aber noch beeindruckender wäre der Besuch dieser Ausstellung im Radziwill-Haus Dangast, das zu den wenigen Künstlerhäusern Europas gehört, die noch im Originalzustand erhalten sind.

Titelbild

Franz Radziwill / Birgit Denizel / Konstanze Radziwill: Lichtspiele.
Kerber Verlag, Bielefeld 2020.
96 Seiten , 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783735606921

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