Arizona Heat

Téa Obrehts Roman „Herzland“ stöbert in der Historie des Wilden Westens

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Westernroman braucht harte Cowboys, blutrünstige Indianer und schrullige Einzelgänger? Saloons, Büffelherden, Feuerwasser und Revolverhelden? Nicht bei Téa Obreht, der immer noch jungen Stimme aus den USA, die sich acht Jahre nach ihrem Debüt Die Tigerfrau (2012), das in ihrem Herkunftsland, dem ehemaligen Jugoslawien, spielt, nun der Geschichte ihrer neuen Heimat, der Vereinigten Staaten von Amerika, widmet.

Auf über 500 Seiten geht es ins Herzland, amerikanisch „Inland“, nach Arizona, und das zu einer Zeit, als es noch gar nicht zu den Vereinigten Staaten gehörte. Dort, in Amargo, an der „Frontier“ zwischen der Wildnis, die die ‚Indianer‘ bewohnen, und der „zivilisierten“ Welt der weißen Siedler, die immer weiter gen Westen ziehen, ist der Blick auf einen Tag und eine Nacht bei den Larks im Jahre 1893 gerichtet.

Doch das Romangeschehen selbst beginnt etwa 40 Jahre zuvor, als die U.S. Army in Ägypten und dem Osmanischen Reich 33 Kamele und Dromedare kauft und diese, inklusive einiger Kameltreiber, nach Amerika verschifft. Dort erledigten sie unter der Leitung von Kommandant Edward F. Beale als U.S. Camel Corps, vor der Fertigstellung der Eisenbahn wohlgemerkt, wichtige Transporte durch die unwegsamen, wüstenähnlichen Gebiete zwischen dem Osten und dem Westen. Durch Misafir, alias Lurie, und seine an das Kamel namens Burke gerichteten Monologe wird von Obreht ein paralleler Erzählstrang entwickelt.

Während damals in Amerika eine bemerkenswerte Entdeckung oder Erfindung nach der anderen „die Wahrheiten auf den Kopf stellte oder die Annehmlichkeiten des Lebens beförderte“, es bereits Hochhäuser mit Fahrstühlen, die Eisenbahn, das Telefon und die Photographie gibt, glaubt Josie, Nora Larks Hausmädchen, noch an Geister und redet mit den Toten. Die Larks – das sind der Vater Emmett, die Mutter Nora, der siebenjährige Toby, die fast erwachsenen Brüder Rob und Dolan, Gramma, Josie und die allgegenwärtige, als Kind durch eine Unachtsamkeit der Mutter an Hitzschlag gestorbene Evelyn – spüren vom Fortschritt nichts und müssen sich durch den Alltag kämpfen. Das Schicksal hat Nora Lark schon immer hart getroffen. Heute lebt sie mit der Angst um Toby, der bei einem Sturz vom Pferd fast das ganze Augenlicht verloren hat und nun sind auch noch Emmett und die beiden älteren Söhne schon einige Zeit verschwunden. Es ist heiß, 46 Grad Celsius, und es gibt kein Wasser. Das ist für die Mutter, der Toby, Josie und Gramma mehr Last als Stütze sind, irgendwo „am Rand der Welt“ fast unerträglich. Die Kraft weiterzuleben gibt ihr Evelyns Geist, als ihre tägliche Ratgeberin und Zuhörerin.

In Abwesenheit ihrer Männer gerät Nora zwischen die Fronten der lokalen Größen. Die Nachbarstadt Ash River, fest in der Hand des reichen Viehhändlers Merrion Crace, soll im Wettstreit um die Eisenbahn, so das Gerücht, den Zuschlag erhalten. Der Aufstieg der einen und der Abstieg der anderen Stadt wird von der jeweiligen Stadtzeitung begleitet und befördert. Noras Mann, der Amargos Sentinel herausgibt, wird von mehreren Bewohnern der Stadt eine fatale Unparteilichkeit, ja gar Untätigkeit, vorgeworfen. Agitation und Manipulation liegen Nora nicht, so verpuffen ihre Anstrengungen, ihrem Mann beizustehen und die eigene Stadt und Zukunft vor dem Untergang zu bewahren.

Egal, ob man sich in die Geschichte der Familie Lark oder die des Camel Corps vertieft, beide zeigen die raue, völlig unromantische Seite der heißen, trockenen Prärie, wo sich die Menschen immer von Neuem auf dem „Weg ins Nichts“ befinden. Obreht nimmt ihre Leser mit in die Zeit des Wollens, des Aufbrechens, des immer wieder Aufstehens. In eine Zeit, wie es im Roman heißt, in der „außergewöhnliche Menschen von ihren Sorgen zermürbt werden, während das nutzlose Pack von seinen Illusionen unablässig vorangetrieben wird.“

Auch die Kräfte der Tiere, die außerhalb der schützenden Armee nur noch dank ihrer menschlichen Begleiter überleben, sind längst aufgezehrt. Der Kameltreiber Misafir, der in Amerika auf Grund seines Äußeren und des muslimischen Glaubens nur als kleiner „Türke“ wahrgenommen wird und eigentlich der Sohn des herzegowinischen Einwanderers Hadziosman Djurić ist, setzt durch die Fürsorge, die er seinen Tieren bis zum Schluss angedeihen lässt, seiner bewegten Vergangenheit vom früh verwaisten, geduldeten und herumgeschubsten Kind über die Jahre als Totengräber bis zum steckbrieflich gesuchten Mörder, der in der Armee untertaucht, einen versöhnlichen Schlusspunkt.  

Es ist durchaus faszinierend, wie Obreht entlang historischer Fakten über das U.S. Camel Corps, die an sich schon fesselnd sind und zuletzt von Alex Capus in einem amüsanten Kleinod, dem Büchlein Skidoo (2012), auch dem deutschsprachigen Lesepublikum nahegebracht wurden, ihr Romanpersonal entwirft, ohne dabei ausschließlich auf „echte“ Berühmtheiten wie den Kameltreiber Hi Jolly zu setzen. Ihr Figurenrepertoire ist ebenfalls fernab des Obligatorischen angesiedelt und bildet die zeittypische Bevölkerungsvielfalt auch dadurch ab, dass sie Frauen und Einwanderern (Deutsche, Mexikaner, Herzegowiner, Griechen) ihre Stimme verleiht.  

Hört der Western auf, Western zu sein, wenn man auf die üblichen Klischees verzichtet? Nicht bei Téa Obreht. Denn sie beherrscht die Kunst, die tote Landschaft zu beseelen, zu ihr eine Beziehung aufzubauen, die sich im Entstehen begriffenen Städte, die kaum mehr als eine lose Ansammlung von Häusern sind, atmosphärisch aufzuladen und die Hitze, den Durst, die Gefahren, die die Menschen quälen, erfahrbar zu machen. Und sie vermag wie wenige, die Existenz und das Wollen des Individuums unter unmenschlichen Umständen feinfühlig und ausgeklügelt in Worte zu fassen.

Titelbild

Téa Obreht: Herzland.
Aus dem Englischen von Bernhard Roben.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
512 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100793

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