Don Juans verwegene Tochter

David Yaffe liefert ein Porträt von Joni Mitchell im Breitwandformat

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den gemeinsten Stellen in Nick Hornbys Bestseller About A Boy (1998) gehören die Passagen über Joni Mitchell. Fiona, die selbstmordgefährdete Mutter des Jungen Marcus, wird als zerbrechlicher, weltfremder Hippie beschrieben. Niemandem lauscht sie lieber als der kanadischen Sängerin, da kann allenfalls noch Bob Marley mithalten. Wie sehr sich Marcus am Ende von ihr emanzipiert, zeigt sich darin, dass er sich weigert, den frühen Hit Both Sides, Now auf dem Klavier zu spielen: „I fucking hate Joni Mitchell.“ Sein neues Idol heißt Kurt Cobain. Gegen dessen kraftvollen Grunge erscheint Mitchell wie ein verhuschter Folkie, emblematisch für Fionas Unfähigkeit, in der Gegenwart der 90er Jahre klarzukommen, in der Oasis, die Chemical Brothers oder eben Nirvana die Helden der Stunde waren.

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Das zeigt die über 600 Seiten lange Biographie aus der Feder des Journalisten David Yaffe. 1973 geboren, kam er gerade auf die Welt, als Mitchell mit Alben wie Blue (1971) und Court and Spark (1974) auf dem Höhepunkt ihres Ruhms angelangt war. Man sollte ehrlich sein: Das ist kein neutrales Porträt. Es ist eine Hommage, selbst wenn Yaffe darauf achtet, auch die problematischen Seiten von Mitchells Persönlichkeit zu beleuchten, ihre ausgesprochene Empfindlichkeit, oft sogar Unversöhnlichkeit gegenüber Menschen, mit denen sie sich überwarf.

In 33 Kapiteln zeichnet Yaffe ein nuanciertes Bild, das auf Gesprächen mit mehr als fünfzig Weggefährten Mitchells basiert. Wer dieses Buch liest, sollte schon ein Grundinteresse an ihrer Musik mitbringen, möglichst auch einiges davon kennen. Dann ist die Ausführlichkeit ein Gewinn, während die Geduld von Einsteiger*innen vermutlich strapaziert wird. Sie mögen sich fragen: Wer sind all diese Leute und warum sollte ich mich dafür interessieren, wie es in der Prärie von Saskatchewan oder im kalifornischen Laurel Canyon um 1970 zuging? – Weil große Songkunst dabei herauskam.

Was Yaffe mit großer Akribie ausbreitet, hat nichts mit Hornbys Polemik zu tun. 1943 als Roberta Joan Anderson in der Prärie von Alberta geboren und in der benachbarten Provinz Saskatchewan aufgewachsen, erscheint die Sängerin vor allem als starke Frau, die immer wieder mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und an ihnen wuchs. Als Kind erkrankte sie an Polio, als unverheiratete junge Frau gab sie ihr Kind zur Adoption frei, was sie nachhaltig traumatisierte. Sie heiratete einen tyrannischen Folksänger, kämpfte später mit der Kokainsucht und ab Mitte der 70er Jahre mit zunehmend verständnislosen Kritikern, die ihre Experimentierlust nicht nachvollziehen konnten.

Auffallend sind die vielen Beziehungen zu anderen Musikern, darunter prominenten Songschreibern wie Leonard Cohen, David Crosby, Graham Nash und James Taylor. Von ihnen ließ sie sich keineswegs dominieren, vielmehr inspirierten sich beide meist gegenseitig. Einfluss übten auch die Instrumentalisten aus, mit denen sie ab Anfang der 70er Jahre Beziehungen führte: Drummer John Guerin öffnete sie für den Jazz, Bassist Jaco Pastorius ließ sie noch abenteuerlustiger werden, mit ihrem zweiten Ex-Mann, Bassist und Toningenieur Larry Klein, arbeitet sie bis heute zusammen.

Wenige Musikerinnen (oder Musiker) haben dabei so starke Metamorphosen durchlaufen – auf den tatsächlich hauchzarten Folk der späten 60er folgten bald sarkastischere Töne, Jazzrockalben, eine Zusammenarbeit mit dem großen Jazzer Charles Mingus, glückloser Synthiepop und Neuaufnahmen des eigenen Backkatalogs, diesmal mit brüchig gewordener Stimme vor einer filigranen Orchestertapete. Yaffe gefällt sicher nicht alles – aus seiner Geringschätzung des 80er-Pop-Albums Dog Eat Dog macht er keinen Hehl –, schildert aber detailreich und liebevoll jede Wendung in Mitchells Biographie und Musik.

Michael Kellners Übersetzung ist grundsätzlich ordentlich, doch offenbar hat das Lektorat eine Reihe von peinlichen Schnitzern übersehen. So wird Bob Dylans Rolling Thunder-Tour, an der auch Mitchell teilnahm, einmal auf 1974 vorverlegt, der Schlagzeuger Russ Kunkel firmiert gelegentlich als Russ Kinkel oder Ross Kunkel, aus Song for Sharon, dem Lied für eine Kindheitsfreundin, wird „Song for Susan“. An einer Stelle wird gar die Schriftstellerin Virginia „Wolfe“ zitiert. Vermutlich lesen die meisten einfach über solche Patzer hinweg. Ein wenig mehr Sorgfalt auf den letzten Metern hätte trotzdem nicht geschadet.

Schade ist, dass der Verlag den Originaltitel Reckless Daughter nicht übernommen hat, der auf das 1977er Album Don Juan‘s Reckless Daughter anspielt. ‚Reckless‘ bedeutet ‚verwegen, waghalsig, rücksichtslos‘, ein treffendes Wort für Mitchells Haltung als Künstlerin. Dagegen wirkt das neutrale Ein Porträt kraft- und saftlos. Trotzdem ist dem Band ein großes Publikum zu wünschen. Bei aller Ausführlichkeit ist Yaffes Begeisterung ansteckend und fordert dazu auf, Mitchells Alben neu – oder zum ersten Mal? – zu hören. Vielleicht sollte jemand das Buch an Nick Hornbys Figuren schicken. Sie könnten ihre Meinung ändern.

Titelbild

David Yaffe: Joni Mitchell. Ein Porträt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
500 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957578488

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