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Ein Bündelchen Widerspruch

Melissa Müllers einfühlsame Anne-Frank-Biographie

Von Verena Feistauer

Am 4. August 1944 werden die Familien Frank und van Pels von der Gestapo in ihrem Amsterdamer Versteck entdeckt und verhaftet. Mit der Schilderung dieses Ereignisses beginnt Melissa Müller ihre Anne-Frank-Biographie, um im folgenden die Lebensgeschichte Annes chronologisch zu erzählen.

Anne wird in Frankfurt am Main als Tochter gutbürgerlicher, liberal gesinnter Eltern geboren. Bald nach Ausbruch des Nationalsozialismus flieht die Familie in die Niederlande: Anne wächst als holländisches Kind auf. Die finanzielle Situation der Familie Frank im Exil wird immer prekärer, gleichzeitig wachsen die Restriktionen gegen die Juden in dem von den Nationalsozialisten besetzten Holland. Otto Frank sieht sich gezwungen, seine Firma Opekta an seine Mitarbeiter Viktor Kugler und Jan Gies zu überschreiben. Eine mögliche Flucht nach Amerika scheitert; ein Angebot seiner Cousine, die Töchter Margot und Anne in England zu beherbergen, schlägt er aus: die Familie soll unter allen Umständen zusammen bleiben.

Als Margot plötzlich zum "Arbeitsdienst in Deutschland" geholt werden soll, verstecken sich die Franks - früher als geplant - im Hinterhaus von Ottos früherer Firma. Sie werden von nun an von seinen ehemaligen Angestellten Viktor Kugler, Johannes Kleiman und Miep Gies versorgt. Die zwei Jahre, die die Familie Frank dort - zusammen mit der Familie van Pels und Fritz Pfeffer - verbringt, sind durch Annes Tagebuch bereits bekannt.

Schließlich die Denunzierung durch - wie Müller plausibel darlegt - die Putzfrau Lena Hartog-van Bladeren, der Ehefrau des Opekta-Lagerarbeiters Lammert Hartog. Die Deportation der Familie in die Konzentrationslager Westerbork, Auschwitz, Bergen-Belsen, wo Anne Frank im März 1945 gerade 15jährig an - wie es heißt - "Erschöpfung" stirbt.

Nach aufwendiger Recherche und zahlreichen Gesprächen mit überlebenden Angehörigen und Freunden der Familie gelingt es Müller, ein ausführliches, detailreiches Portrait Anne Franks zu zeichnen. Die Lebensgeschichten sämtlicher Verwandten, Bekannten und Freunde werden skizziert, so daß Annes Leben nicht als das Einzelphänomen, als das es oft betrachtet wird, dasteht, sondern in ein soziales Umfeld eingebettet erscheint.

Müller versucht weder, Anne als "Symbol für die sechs Millionen Holocaust-Opfer" noch als "Wunderkind" darzustellen, sondern als das "ganz normale" Mädchen, das sie war. Anne liebte das Kino (ihre Sammlung von Starpostkarten hat der Vater ihr mit ins Versteck gebracht) und die Literatur: auf Basis ihres Tagebuchs wollte sie nach dem Krieg einen Roman mit dem Titel "Das Hinterhaus" verfassen.

Das Buch gewinnt durch Müllers Psychologisierung. Indem sie den Blickpunkt vieler Beteiligter einnimmt, gelingt es ihr, Einsicht in die Strapazen und Spannungen des Lebens im Amsterdamer Hinterhaus zu vermitteln. Anne wird im Versteck von ihrer Umgebung noch als 15jähriges Kind wahrgenommen - sie muß ihr Zimmerchen mit dem 53jährigen Zahnarzt Fritz Pfeffer teilen, was bis zu einem pedantischen Streit über die Frage, wer einen kleinen Tisch für seine Aufzeichnungen nutzen darf, führt. Auch Annes Äußerungen über ihre Familie, die das mal schnippische, mal feinfühlige Mädchen ein "Bündelchen Widerspruch" nennt, vor allem ihre Ablehnung der Mutter und die starke Zuneigung zum Vater, werden durch die von Müller gewählten Perspektiven verständlich.

Melissa Müller schreibt nicht nur eine Biographie, sie schreibt ein Stück Zeitgeschichte - in und als Ergänzung zu Annes Tagebuch, wie sie selbst sagt. Sie erzählt die Geschichte Anne Franks so behutsam wie sorgfältig. Das aufschlußreiche Buch wird von einigen Fotos, einem ausführlichen Epilog, in dem der weitere Lebensweg aller Bekannten Annes geschildert wird, und einem Nachwort von Miep Gies ergänzt.

Melissa Müller: Das Mädchen Anne Frank. Die Biographie. Mit einem Nachwort von Miep Gies. Claassen Verlag, München 1998. 446 Seiten, 23,00 EUR. ISBN-10: 3546001516 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch