Warum sind wir nicht lesbisch geworden?

Der Briefwechsel zweier streitbarer Autorinnen

Von Jamal TuschickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jamal Tuschick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten wird man gut unterhalten von einem - aus der Intimität der Zwiesprache gelösten - Unterfangen, das ursprünglich darauf angelegt war, Dritte auszuschließen. Nicht bestätigt wird diese Erfahrung von einem Briefwechsel zwischen der Hamburger Verlegerin und Autorin Hanna Mittelstädt und der in Marburg lebenden Autorin Anna Rheinsberg. Diese Post birgt - über den Zeitraum eines Jahres - unangestrengte, gleichwohl durchdachte Selbstauskünfte von Menschen, die sich für jede Nullachtfünfzehnlösung zu schade sind. Das herzlichste Verhältnis verbindet die Frauen, die sich am Anfang der Korrespondenz nicht näher zu kennen scheinen. Es kommt dem Leser so vor, als würden sie sich lesend erst richtig kapieren. Keine will die andere langweilen. Beide hebt der Sinn für einen schwungvoll-eleganten Umgang mit den eigenen Idiosynkrasien. Macken werden poliert. Indiskretionen begeht frau, wenn dabei ein Bonmot rausspringt. Für derartige Kommunikation gibt es prominente Vorbilder, die bedacht werden.

Die Autorinnen teilen Leseerlebnisse mit, leihen sich Bücher, beschenken sich mit Fotos. Hanna Mittelstädt kniet in Arbeit: "Durch Inge Vietts Autobiografie ist hier der Teufel los". Beide Frauen schwimmen gern, die eine in öffentlichen Bädern, die andere in Seen. Beide tanzen, die eine expressiv in der Frauenpowergruppe, die andere Salsa. Beide reisen, die eine nach England, die andere nach Schottland. Letzte Fragen werden erörtert: "Warum sind wir nicht lesbisch geworden?"

Anna Rheinsberg schreibt unterdessen ein Buch. Gelegentlich kommt es zu Lesungen in ihrer Gegend. Sie kommt auch nach Kassel in die "Werkstatt", einem literarischen Veranstaltungsort mit Anthroposofen-Appeal. Eine Wendeltreppe führt in den Keller, wo vorgetragen wird. Dort trifft sie die Sturmspitze der nordhessischen Regionalisten: Hans Horn, ein Schriftsteller, dessen Entdeckung noch aussteht. Eine andere Kasseler Geschichte mit hanseatischer Abzweigung schimmert durch: Sie betrifft Michael Kellner, der in den Siebzigern Allen Ginsberg nach Kassel holte und später in Hamburg einen Verlag aufzog.

Anna Rheinsberg wirkt bodenständiger, skeptischer als Hanna Mittelstädt. Ihre Urteile fallen harscher aus: "Die klassische männliche RAF-Figur" war "ein eigenartig fauler Männertyp". Mit zunehmender Vertrautheit schleicht sich bei ihr ein gereizter Ton ein. Der Freundin mutet sie Wahrheiten zu, liest ihr die Leviten. Sie erklärt das Leben, fragt auch mal: "Bin ich zu schroff?" Sie bekennt sich zu einer Vergangenheit - mit singulärem Gegenwartsbezug im Regionalexpress - als rasch zuschlagende Frau. Wenn damit ein Mann renommieren würde, wär sofort Schluß mit lustig. Dennoch ist Hanna Mittelstädt jene, die ihre (Revolutions-)Träume an das größere persönliche Risiko gekoppelt hat. Sie war im Dschungel bei indianischen Freischärlern. Ihren Mut begründet sie an anderer Stelle: "Es ist mir zu fleischlos, das Erleben in die Phantasie zu verbannen". Ihre politische Utopie ebenso wie alle abgelebten Hoffnungen verhandelt sie in einem Zusammenhang mit menschlichen Beziehungen, oft zu Männern. "Mein Leben ist ein Gefäß, in das jeden Tag von neuem mehr Inhalt gepreßt wird". Die Hinfälligkeit aller Maßnahmen vor dem Wunder der Entzückung ist für sie ein Thema. Andererseits pflegt sie Klausurfantasien. Ihre Einsamkeitssucht veranlaßt die andere zu Ermahnungen. Letztlich sind es aber hier und da auf Verausgabung angelegte Existenzen, die zur Sprache kommen. Keine Autorin scheint eine Chance zu haben, ihren Entwurf unversehrt durchzusetzen. Polarforscherinnen könnten sich so unterhalten, nachdem der letzte Schlittenhund verreckt ist. Man ahnt, daß in den Briefen erzählende Prosa vorbereitet wird. Bei Hanna Mittelstädt ist die Differenz zwischen ihrer Post und den Publikationen manchmal verblüffend gering. Normalerweise kriegt mann nicht mit, wenn sich Frauen über Männer auslassen. Schon deshalb lohnt diese Lektüre. Anna Rheinsberg und Hanna Mittelstädt besprechen offenherzig ihren erotischen Status quo. Anna Rheinsberg, ohne großes Federlesen: "Die meisten Männer vögeln lausig". ... Seelisch betrachtet sind Männer Idioten". Hanna Mittelstädt gestattet sich die Verehrung von Subcomandante Marcos und "Subsub" Moises, "obwohl der Typ so klein ist".

Titelbild

Hanna Mittelstädt / Anna Rheinsberg: Liebe Hanna - Deine Anna. Briefe über Liebe und Literatur.
Edition Nautilus, Frankfurt 1999.
218 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3894012994

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch