Religion des Herzens und Begehrens

Ina Hartwigs "Sexuelle Poetik

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daß Sexualität für die Selbstdefinition des Menschen eine wichtige Rolle spielt, war nicht immer so. Doch seit dem 18. Jahrhundert heißt es mehr und mehr: "Sage mir, wen und wie du begehrst, und ich sage dir, wer oder was du bist!" Unsere Rede über Sexualität ist nicht nur gesellschafts- und zeitbedingt. Nach Foucault ist Sexualität überhaupt nicht von der Rede zu trennen. Sie entfaltet ihre Wirkung aufgrund und in der Rede über sie. So zum Beispiel in der Literatur. "Denn nur die Literatur", so die 1963 in Hamburg geborene Germanistin und Romanistin Ina Hartwig, "hat die Möglichkeit, die Körper der Geschichte in Geschichten von Körpern zu verwandeln."

Welche Funktion aber kann dem Erzählen von sexuellem Begehren zukommen? Wie tritt das Denken der Sexualität in literarischen Werken in Erscheinung? Ina Hartwig vergleicht in ihrer ebenso aufregend wie vergnüglich zu lesenden Studie die Liebe zur weiblichen Homosexualität in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit der inzestuösen Geschwisterliebe in Musils "Mann ohne Eigenschaften", der männlichen Homosexualität in Genets "Querelle" und dem furiosen Abgesang auf alle ehelichen Verheißungen in Elfriede Jelineks "Lust". Alle untersuchten Texte setzen die Sexualität in einer bestimmten Form absolut, etwa als Lesbianismus, Inzest oder Gewalt. Sittlichkeit und Liebe interessieren die modernen Autoren, anders als zu Zeiten Goethes oder der Romantik, dagegen nur an zweiter Stelle. "Möglicherweise", so die Literaturwissenschaftlerin, "ist die Religion des Herzens im Laufe der Zeit in eine Religion des Begehrens transformiert worden. Fest steht jedenfalls, daß das Begehren für die sexuellen Poetiken Prousts, Musils, Genets und Jelineks wesentlich ist." Wie aber wird das Begehren erzählt?

Hartwig unterscheidet drei Kategorien: sexuelles Wissen, sexuelle Praxis, sexuelle Imagination. Wer erfahren will, wie ein Autor vom Begehren erzählt, muß fragen, wie diese drei Kategorien kombiniert werden. So funktioniert Prousts Poetik der Ungleichzeitigkeit nach der Regel: Im Begehren der Akteure gibt es keine Übereinstimmung. Der Erzähler, der nicht homosexuell ist (Praxis), aber alles über Homosexualität weiß (Wissen), begehrt ein Mädchen, von dem er annimmt, sie sei homosexuell (Imagination). So bleibt die erstrebte Ungleichzeitigkeit im Begehren der Figuren garantiert. Das Gegenteil zu Proust stellt Musils Poetik der Übereinstimmung dar, denn die Geschwister Ulrich und Agathe harmonieren vollkommen; allein das Inzesttabu stellt eine letztes Hindernis dar.

Die Untersuchung der Werke Genets und Jelineks zeigt einen historischen Bruch. Tugend und Laster spielen keine große Rolle mehr, statt dessen wird die Sexualität nun mit dem Nationalsozialismus verknüpft. Den Figuren werden keine politischen Diskurse mehr in den Mund geschoben wie bei Proust oder Musil; das Politische ist jetzt ganz im Sexuellen aufgehoben. In Elfriede Jelineks Poetik der Vernichtung werden juristische, medizinische und pornographische Diskurse aufs Korn genommen, wird die Ehe als auf Sexualität reduziertes Gewaltverhältnis, die Sexualität als Krieg der Genitalien dargestellt. Jelineks sexuelle Poetik ist pornographisch, moralisch, komisch und gewalttätig zugleich. Für Hartwig ist damit gerade die österreichische Autorin die legitime Erbin und Überwinderin des "göttlichen" Marquis.

Titelbild

Ina Hartwig: Sexuelle Poetik.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
304 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3596139597

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